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Heldra

An einem feuchten Oktobertag beginnen Samuel, Quinn und ich unsere Tour in Heldra, einer kleinen hessischen Ortschaft. Wir finden einen Parkplatz am Ortsrand und machen uns dann zu Fuß auf zum Ortskern, zum August-Hermann-Francke-Platz. Hier sind bereits Wanderwege ausgeschildert, denen wir unkompliziert folgen können. Das Dörfchen wirkt wie aus einem alten Märchen. Die Häuser schlafen im Nebeldunst und wir passieren einen romantischen Garten, in dem stolz eine Schar erstaunlich großer Gänse umherspaziert. Nun führt uns die Beschilderung nach rechts auf einen Feldweg. Hinter den Äckern wartet verheißungsvoll der Wald auf uns. Nach wenigen Minuten erreichen wir das Naturschutzgebiet Frankenloch, eine Flutmulde, in die der Fluss Werra bei Übertreten seiner Ufer strömt. Ein Holzsteg führt uns über einen alten Werra-Arm und wenig später stehen wir vor der Werrabrücke, einer hässlichen Stahlkonstruktion, die die Bundesländer Hessen und Thüringen verbindet. Man sieht ihr die dunkle Geschichte an, die uns in die DDR zurückführt. Gebaut wurde die Brücke, um die Flucht durch den Fluss in den Westen zu verhindern. Ich will es mir gar nicht so genau vorstellen. Die Brücke ist vom nassfeuchten Wetter rutschig. Ich trete vorsichtig, um nicht zu stürzen.
Bald stehen wir am Waldrand auf der anderen Uferseite der Werra. Der Weg führt uns ins Unterholz und ich staune über die alten Bäume mit ihren großen Wurzeln, die den Wegrand säumen. Schnell laufen wir steil bergauf und ich bin insgeheim etwas froh, dass Quinn, der mit seinen langen Beinen gemütlich den Anstieg zu meistern scheint, plötzlich stehenbleibt. Vor uns auf dem Pfad liegt reglos eine Blindschleiche. Quinn nimmt sie auf seine Hände und dort betrachten wir ihren goldenen Körper, während sie sich etwas von Quinns warmer Körpertemperatur borgen kann. Dennoch rührt sie sich nicht. Quinn setzt sie behutsam im Gras neben dem Weg ab und wir gehen weiter bergauf. Oben angekommen, ist mir warm geworden. Ich reiße mir Mütze und Schal vom Kopf und geselle mich zu den Männern, die bereits auf einer kleinen Holzbank rasten. Kaum, dass ich stehe, wird mir kalt. Ich ziehe alles wieder an, damit ich mich nicht erkälte. Wir sind auf einer idyllischen Anhöhe, die den Blick auf ferne Kuhweiden und das thüringische Dorf Schnellmannshausen freigibt. Das feuchte Wetter lädt nicht zum Verweilen ein, daher machen wir uns wieder auf den Weg. Der Pfad führt nun malerisch am Waldesrand entlang über die Anhöhe und bietet zur Linken immer den Blick in das neblige Tal. Ich kann mich gar nicht sattsehen. Immer wieder findet sich zu unserer Rechten vor dem Wald Kunst der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK) in Hildesheim, was mich etwas wehmütig an meine Hildesheimer Zeit zurückdenken lässt und meine beiden damaligen Mitbewohnerinnen, die beide an der HAWK studiert hatten. Ein Kunstwerk von Sarah Spichal heißt Else und Kuno und zeigt zwei Holzstämme vor dem Wald, in denen sich Ansätze von Menschen erkennen lassen, wohl Else und Kuno. Wir befürchten, dass Else und Kuno Flüchtende waren, und ich stelle mir vor, wie sie hier in den Wald liefen, um vielleicht nie ihr Ziel zu erreichen. Mit moderner Kunst kann ich oft nicht viel anfangen, aber diese Silhouetten im Holz berühren mich. Else und Kuno. Ob es sie wirklich gab?
Schließlich müssen wir eine Landstraße überqueren. Auf dem Wanderparkplatz an der Straße legen wir eine erste kleine Brotzeitpause ein. Ich verspeise einen Haferriegel, trinke ausreichend Wasser – und dann treten wir wieder ins Unterholz. Hölzerne Stufen führen steil bergauf durch einen mystischen Wald, der mich ruhig und klar werden lässt. Mein Blick folgt der Magie des Ortes. Die Bäume wachsen hoch und glatt, biegen sich elegant. Das Grün des Dickichts schimmert silbrig im Nebel, die Stämme wirken schwarz im Gegenlicht des durch die Baumkronen dringenden Tageslichts, das doch nicht recht den Wald und seine Geheimnisse zu erleuchten vermag. Hier könnte ich mich verlieren. Der Boden ist rot vom Laub; manche Bäume neigen sich so nah der Erde zu, dass man meinen könnte, sie plage ein tiefes Leiden. Was zwischen ihnen im Dunst verborgen liegt, werde ich nicht erfahren.
Eine alte Holztafel informiert uns, dass hier heimische Fledermäuse hausen. Hinter uns ragen mitten im Wald die löchrigen Felsen des Heldrasteins auf und bieten den Tieren ein ideales Zuhause. Die Felsformationen begleiten uns nun weiterhin. Sie bieten eine spektakuläre Kulisse und tun sich bald als düstere Schluchten neben uns auf. Dann sind wir oben angekommen. Ein schmaler Grat führt uns zur Hüneburg, einer abgegangenen mittelalterlichen Befestigung, von der nicht mehr viel übrig ist, von wo aus wir einen herrlichen Blick ins Tal haben. Ein leichter Nieselregen setzt ein und unter einer kleinen Überdachung machen wir nun wirklich Pause, essen Brote und trinken Wasser. Hier soll vor vielen Jahren ein Räuber namens Henning sein Unwesen getrieben haben. Ein deutscher Robin Hood, der Reiche bestahl und den Armen gab. Der Räuber, so die Sage, ritt auf einem Pferd, dessen Hufeisen verkehrt aufgeschlagen waren, um die Verfolger auf die falsche Spur zu leiten. Eines Tages raubte er ein Mädchen, das ihm in seiner geheimen Unterkunft zu Diensten sein sollte. Er erlaubte ihr jedoch eines Tages, ihre Mutter zu besuchen. Dabei musste sie Henning einen heiligen Eid schwören, ihn nicht zu verraten. Bei ihrer Mutter angekommen, klagte sie ihr Leid dem Ofen. Auf dem Weg zurück zum Räuber streute sie sodann Erbsen. So konnte das Versteck des Räubers gefunden werden. Räuber Henning wurde hingerichtet, das Mädchen jedoch seines Lebtags nicht mehr froh und starb nach wenigen Jahren.
Dieser Gegend haften die Märchen und Sagen an, wie der Nebel uns an diesem Tag. Mir scheint, dass durchs Unterholz allerlei Gestalten flüchten: Menschen, die ihr Land verlassen wollen, Räuber, die dem Gesetz davonlaufen, und eine junge Frau, einem ungeheuerlichen Schrecken auf der Spur, Erbsen in der Hand, die Angst ins Gesicht geschrieben. Die Zeiten mischen sich und sind doch auf wundersame Weise im Wald und der Flucht gebündelt.
Von Flucht und Schrecken zeugt auch der Turm der Einheit, den wir bald erklimmen. Auch er wurde hier im Grenzgebiet zweier ehemaliger deutscher Staaten errichtet, um Fluchtbewegungen zu beobachten, und steht nun als Mahnmal, von dem aus wir den riesigen Wald überblicken können. Ich kann die Geschichten nicht mehr loswerden; sie sind in meinem Kopf und ich muss mir vorstellen, wie einsame Seelen hier verborgene Wege suchten, unterwegs ins Ungewisse, der Bedrohung ständig ausgesetzt.
Der Weg wird immer fantastischer. Er führt uns nach der Besichtigung des Turms am Rande des Felsmassivs entlang und gibt einen weiten Blick ins darunterliegende, nebelverhangene Land frei. Schließlich tauchen wir wieder in den Wald ein und gehen bergab. Wir sind still, lauschen den Geräuschen um uns. Ab und zu begegnen uns andere Wanderer. Äste knacken, Blätter rascheln. Vögel singen. Meist sind wir allein. Am Wegrand wachsen leuchtend orangene Fliegenpilze, direkt darüber Brombeeren, manche noch ganz frisch, andere schon verschrumpelt. Ich stecke mir eine in den Mund. Sauer, aber nicht zu sehr.
Im Tal erwartet uns wieder eine Landstraße, die wir passieren müssen. Der Weg führt eigentlich auf der gegenüberliegenden Seite weiter, ist jedoch wegen Holzarbeiten versperrt. Furchtlos gehen wir natürlich trotzdem weiter, jeder woanders. Samuel balanciert auf dem linken, hohen Lehmrand des Forstweges, ich ziehe mich durch den schlammigen Weg selbst und Quinn stolpert zu meiner Rechten auf der Anhöhe durchs Gestrüpp des Waldes. Ein abenteuerlicher Abschnitt, so viel steht fest! Wir sind froh, als er zu Ende ist und wir wieder auf begehbaren Pfaden wandeln, die uns nun hinab zur Werra führen und an dieser entlang bis zur nächsten Ortschaft, wo wir über eine große, steinerne Brücke den Fluss überqueren und dann am Ufer entlang, vorbei an Schafen und Ziegen, nach Heldra zurückkehren.
Erschöpft, aber zufrieden setzen wir uns ins Auto und treten die Rückreise nach Kassel an. Die Wälder hier werde ich nicht vergessen – und auch nicht ihre Geschichten.

 


Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle,
Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.
Ein reines Blau tritt aus verfallner Hülle;
Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.
Gekeltert ist der Wein, die milde Stille
Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.

Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel;
Im roten Wald verliert sich eine Herde.
Die Wolke wandert übern Weiherspiegel;
Es ruht des Landmanns ruhige Gebärde.
Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel
Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde.

(Georg Trakl)