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Winkl

Klein und unscheinbar gibt sich der Name des Ortes, in dem wir unser Auto parken: Winkl, bei Heiligenblut. Doch von hier soll sich uns Großes offenbaren. Grüne Weidelandschaften erstrecken sich vor uns im Licht der Morgensonne. Mein erstes Foto schieße ich um 08:47 Uhr: ein Zaun, dahinter die Wiese, dahinter dunkel bewaldete Hügel. Weiße Wolkenfetzen am frühblauen Himmel.
Schließlich gelangen wir zu dem Parkplatz, an dem wir eigentlich parken wollten, schon im Wald, an einem klaren Bach, dem Gössnitzbach, der sich aus dem Gößnitz-Wasserfall speist. Hier finden sich die Wanderschilder, die wir davor vergeblich gesucht hatten. Ich lerne, dass wir uns im Kachlmoor befinden, einer wassergefüllten Senke am Fuß eines nacheiszeitlichen Bergsturzes mitten im Nationalpark Hohe Tauern in den Osttiroler Alpen. Hier lebt der farbenprächtige Bergmolch, den ich gerne kennenlernen würde.
Unsere heutige Tagestour führt uns zur Glorer Hütte, wo wir übernachten wollen. Als Wegzeit sind viereinhalb Stunden angegeben. Sogleich geht es auf Schotterwegen steil bergauf. Noch sind wir frisch und voller Elan, merken die plötzlichen Höhenmeter nicht. Zwischen den Baumwipfeln sehen wir den Wasserfall in die Tiefe stürzen. Wir gelangen höher und höher. Unter uns windet sich der weiße Weg wie eine Schlange durchs Tal. Der Berg scheint wie vom Wasser getränkt. Immer wieder finden sich Pfützen, oft von kleinen Mauern begrenzt. Ich laufe hinter Ronja, die ein gutes Tempo für mich vorlegt, sich Schritt für Schritt durch die allmählich brennende Sonne kämpft. Bald treffen wir unsere erste Kuh – eine willkommene Begegnung. Sie ist weiß mit braunen Flecken und sieht uns freundlich von einem felsigen Hang außerhalb ihres Gatters an. Der Rest der Herde steht dahinter, im Gatter. Wie sie das wohl geschafft hat, fragen wir uns und gehen weiter. Sie sieht uns hinterher, senkt dann wieder den Kopf, um weiterzugrasen.
Wie Magnete ziehen die ersten von uns aus gesehen, kleinen Berggipfel die Wolken an. Sie fliegen dorthin und bleiben am Stein hängen, als könnten sie nicht weiter. Der Blick ins Tal wird immer lohnender. Mehr und mehr ist von der Höhe aus zu sehen, das Buschwerk an den Hängen schimmert silbrig. Rosa Blumen blühen am Wegesrand. Eine App verrät mir nachträglich, dass es sich um den Kahlen Alpendost handelt, den ich gar nicht so kahl finde. Auf jeden Fall ist es wohl ein seltener Bestand – vielleicht ist er mir deshalb aufgefallen.
Noch immer befinden wir uns auf einem Weg, der sich auch mit Fahrzeugen befahren lässt – zumindest sehr geländetauglichen. Mit Samuels Ford wären wir hier wohl kaum hochgekommen. Die Spur des Menschen zeigt sich immer in seiner Zerstörung der Natur: Vor uns auf dem Weg liegt ein toter Maulwurf. Ich gehe schnell weiter, nachdem ich ein Foto gemacht habe, um die Warnung nicht zu vergessen. Und wie leicht man das vergessen kann! Das Gras rauscht den Berg hinab wie ein Fluss. Sonnenstrahlen brechen sich auf dem harten Gestein. Dazwischen wachsen gelbe Büschel eines mir unbekannten Krauts, des Fetthennen-Steinbrechs der Gattung Steinbrech. Es wird auch als Bach-Steinbrech oder Quell-Steinbrech bezeichnet, weil es gerne an feuchten Standorten wie hier wächst. Hoch ragen die Bäume über uns auf. Mein Blick haftet an den Farnbüscheln zwischen den glatten Stämmen. Wir kommen höher und höher. Die Welt unter uns wirkt immer kleiner und ferner. Dann die erste Orchidee am Wegesrand: das Fuchsknabenkraut, das, wie Sven mir erklärt, nach dem Tübinger Medizinprofessor Leonhard Fuchs (1501–1566) benannt wurde.  
Bald, um 10:40 Uhr, also gute eineinhalb Stunden nachdem unsere Wanderung begonnen hat, haben wir ein freies Plateau erreicht, wo wir an einer verwaisten Hütte, der Trogalm, rasten, trinken und essen. Ein unbekanntes Insekt sticht mich und hinterlässt eine große, rote Schwellung, die jedoch nicht mehr Schaden anrichtet als zu jucken. Ich stehe noch eine Weile staunend vor den Feldern aus Alpen-Ampfer, die sich vor uns ausbreiten, ehe wir weiterziehen. Wenig später queren wir einen kristallklaren Gebirgsbach, dessen Wasser bläulich schimmert. Die Steine dazwischen glänzen silbern und verbergen sich in den Schatten der Bäume. Immer wieder bleibe ich stehen, um Pflanzen zu beobachten. Wie heißt dieses filigrane, violette Blümchen, das hier blüht? Es ist der Deutsche Kranzenzian, was ich etwas unpassend finde, da wir doch in Österreich sind. Aber es ist ja nicht die Schuld des Enzians, dass er den verkehrten Namen bekommen hat. Immer läuft Samuel vorneweg, Ronja und ich hintendrein und am Schluss unseres Trupps Adelheid und Sven. Diese allerdings gebieten uns Einhalt, als wir unbedarft unter einem überhängenden Felsen vorbeispazieren. Hier fliegen die seltenen Mauerläufer und Sven fotografiert sie eifrig, wie sie am Fels entlangwandern, Futter für die Jungvögel in den Schnäbeln. Wie hübsch sie sind, wie fein! Wir können kaum wegsehen. Samuel, Ronja und ich werden jedoch bald von einem anderen, grausigen Spektakel beeindruckt. Eine Horde Ameisen attackiert am Boden eine grüne Raupe. Gebannt beobachten wir den Todeskampf, bis wir es nicht mehr aushalten und uns abwenden.
Wie langsam und zeitlos so ein Tag vorüberziehen kann! Ich habe mich schon ganz vergessen. Die Landschaft wird schöner und schöner. Wir folgen dem steinigen Bachlauf, der uns bald wieder auf eine Höhe führt. Der Hang zu unserer Rechten ist mit grünem Gras bewachsen, der zu unserer Linken von dunklem Buschwerk verschlungen. Dazwischen hat sich der Bach sein Bett gegraben. Auf einmal pfeift es – hoch und laut. Samuel fragt mich, was das für ein Vogel ist, doch ich weiß: Es sind die Alpenmurmeltiere. Wir gehen weiter. Auf der gegenüberliegenden Seite, links vom Bach liegt wieder eine einsame Hütte. Und dort sehen wir das erste Murmeltier aufrecht sitzen, uns empört anfunkeln und seine Kolonie warnen. Eine Kolonie besteht dabei, so Wikipedia, „aus einem dominanten Paar sowie deren jüngeren Verwandten“, eine Vorstellung, die mich ungemein erheitert. Wenn das dort drüben nicht der dominante Part ist, dann weiß ich auch nicht. Adelheid und Samuel gehen nah ans Bachbett, in der Hoffnung dort einen besseren Blick auf den Rufer zu erhaschen. Das gefällt ihm aber nicht – und schon ist er verschwunden. Ob er und seine Kolonie in der Hütte wohnen?
Die Anhöhe hier ist märchenhaft. Ein türkisblaues Bächlein zwischen den grünen Hügeln, und hinter uns umranken weiße Wolken eine blaue Bergspitze. Ehe man sich versieht, schreitet man unerwartet durch einen Schwarm blau und silbrig schimmernder Schmetterlinge, die Bläulinge, die Sven so gesucht hat und nun in Scharen um ihn flattern. Der klare Bach bleibt noch lange unser Begleiter. Irgendwann müssen wir ihn verlassen, um weiter hoch hinauf zu steigen. Ich spüre mich taumeln an Stellen, an denen es steil bergab geht, und weiß, dass ich bald eine Pause brauche. Ronja ergeht es ähnlich und wir lassen uns erschöpft an einem Plateau ins Gras fallen, trinken, brotzeiteln und ergötzen uns am Blau des Enzians, am verheißungsvollen Duft paradiesisch roter Kohlröschen.
Ein malerischer Felssteinpfad führt uns die letzten Meter hinauf, bis wir bei der Glorer Hütte ankommen auf 2642 Meter Höhe über der Adria. In der Sonne trinken wir auf der Bank hinter der Hütte Schiwasser und Radler, Sven und Samuel verdrücken eine Suppe und Adelheid einen Apfelstrudel. Wir sind alle gut erschöpft und beziehen müde unser Bettenlager unter dem Dach. Abends gibt es für die vegetarische Front einen schmackhaften Gemüsestrudel, für die besonders hart gesottenen unter uns – Ronja – die Möglichkeit, eine Eiswasserdusche zu nehmen. Besonders wohlig bleibt mir der heiße Kakao vor dem Schlafengehen in Erinnerung, mit Ronja und Adelheid „Das verrückte Labyrinth“ zu spielen.
Nachts finden wir alle keine Ruhe. Hier sind so viele Menschen und mindestens die Hälfte schnarcht – zumindest fühlt es sich so an. Erst als der Wind draußen heult, schlafe ich ein.

Unser zweiter Tag verspricht wieder Sommer und Sonne hoch oben in den Bergen. Ich bin ja der Überzeugung, dass Samuel unser Wettergott ist, denn mit ihm unterwegs zu sein bedeutet immer, gutes Wetter zu haben. Um 08:37 Uhr steigen wir wieder ein Stück hinab, wo wir gestern noch aufgestiegen sind, doch heute ist das Licht ganz frisch und bleich, die Berge in der Ferne blassblau. Unser Blick reicht so weit, dass meine Augen sich entspannen können. Wir biegen allerdings bald nach links ab und gelangen zu einem kleinen, klaren See, in dem sich possierlich der Großglockner, der höchste Berg Österreichs, spiegelt, der mit einer Höhe von 3798 Metern in nicht allzu weiter Ferne in den Himmel ragt. Sven und Adelheid packen sofort ihre Kameras aus und lassen sich dieses Motiv selbstverständlich nicht entgehen. Wir anderen spielen mit unseren Rucksäcken herum und ich merke, dass mein guter, großer Wanderrucksack, den ich seit Jahren schon habe, größenverstellbar ist und ich ihn bisher fälschlicherweise für Rückengröße XL getragen habe. Das nasse, moosige Gras im kleinen See glitzert silbern in der Sonne. Wechseln wir die Seite, so ist das Wasser blau wie der Himmel über uns, der Berg ein grauer Koloss darin. Wir ziehen weiter, bis wir zu einer Weggabelung kommen, die zwei verschiedene Routen zur bewirtschafteten Salmhütte vorschlägt. Wir setzen uns einfach ins Gras. Samuel schließt gar die Augen für ein kleines Schläfchen, während Ronja und ich uns auf einen kleinen Hügel setzen und das Spiel der jungen Murmeltiere beobachten, die völlig angstfrei hier um uns herumtollen. Sven und Adelheid liegen zwischen gelben Blumen im Gras verborgen auf der Pirsch. Sven fotografiert ein Murmeltier, wie es eine Blume verspeist. Und dann kommt ein Kleines plötzlich ganz dicht zu mir gewuselt, so dass ich fast glaube, es krabbelt mir gleich auf den Schoß. Dann macht es aber doch kehrt, verschwindet in sein Loch und auch wir machen uns weiter. Ich bin sehr froh über die Kappie, die ich mir noch in Kassel gekauft hatte, da die Sonne uns gut auf die Köpfe brennt. Kaum zu glauben – liegt auf dem Großglockner doch reichlich Schnee. Der Weg gleitet fort und fort über eine weite Ebene, bis wir zu einem silbernen Bach gelangen. Samuel und Adelheid turnen hinüber, um zu einem kleinen Wasserfall zu gelangen. Sven, Ronja und ich beobachten sie eine Weile und kehren dann zur Brücke zurück, langsam und bedacht. Ich höre dem Rauschen des Baches zu. Es ist, als würde er eine Geschichte ohne Worte erzählen. Ich werde ihn nicht vergessen.
Nach einem kurzen, aber knackigen Aufstieg in der Mittagssonne erreichen wir die Salmhütte, die gut besucht ist. Wir essen und trinken reichlich, lassen es uns gutgehen und beobachten dabei ein Murmeltier, das seelenruhig unter einem Brett der Terrasse sitzt und an etwas knabbert. Irgendwann reicht es ihm dann doch und es verschwindet – so wie wir. Unsere Gruppe trennt sich nun: Sven geht den Weg zurück, in der Hoffnung, noch in Ruhe Schmetterlinge fotografieren zu können, während wir eine steilere Route in Aussicht haben. Bald nach der Salmhütte passieren wir eine idyllische Kuhweide. Dann geht es allmählich hinauf, es wird felsiger. Aus einem Schneefeld machen wir Schneebälle und werfen sie. Die Landschaft hier scheint so klar konturiert: Weiße Wolken ziehen zielstrebig durch einen azurblauen Himmel, die felsigen Kanten der Berge heben sich scharf davon ab. Wir folgen dem klaren Bachlauf bis zu einer Weggabelung. Wir wollen heute hinauf zur Pfortscharte auf 2825 Meter. Samuel rennt wie immer alleine vor, wir drei Frauen gehen gemütlich hinterher. Steil ragt die Scharte vor uns auf. Das erste Abenteuer ist ein schräg abfallendes Schneefeld, über das wir balancieren müssen. Danach klettern wir vorsichtig über das lose Geröll die Scharte hinauf. Oben kann einem fast schwindelig werden. Wir essen und trinken eine Kleinigkeit, genießen die Aussicht und machen uns dann an den Abweg die andere Seite hinab. Nun gilt es, über das Geröll hinunter zu schlittern. Kaum, dass wir das geschafft haben, finden wir einen schmalen, steinigen Pfad, der uns zurück zu unserer Hütte führen soll: mein erster Klettersteig. Zu meiner Linken taste ich mich vorsichtig am Drahtseil entlang; zu meiner Rechten geht es steil bergab. Samuel sehe ich immer mal kurz als Silhouette vor mir, Ronja ist hinter mir und Adelheid macht das Schlusslicht. Wie winzig die kleinen Siedlungen weit unten im Tal aussehen! Wer dort wohl lebt?
Vom Klettersteig kann ich kaum genug kriegen. Ich mag die Höhe, den Schwindel, das vorsichtige Klettern am Berg entlang, die fantastische Landschaft unter mir. Hier vergisst man die Zeit auf eine gute Art. Kurz vor dem Ende des Steigs kommt uns noch eine Gruppe von drei Wanderern entgegen. Die letzte, eine junge Frau, hat Schürfwunden am ganzen Bein. Fast will ich fragen, ob es ihr gut geht, aber dann lasse ich es, weil sie offensichtlich nicht alleine ist. Oben auf der Anhöhe, wo das Gras wieder grünt wie im Bilderbuch, wartet Samuel auf uns. Er berichtet, dass er die Frau hat stürzen sehen. Ich lobe in Gedanken meine langen Hosen in diesem steinigen Terrain. Wir flanieren noch vor zum Ende der grünen Hügelzunge, von wo aus wir in die fernen, blauen Berge blicken. Wie wir uns hier verlieren könnten!
Dann gehen wir heim zur Hütte, wo wir Sven treffen. Noch eine zweite Nacht verbringen wir hier. Diesen Abend ist es wesentlich ruhiger, weil weniger Betrieb ist, und wir schlafen alle besser.  

Der dritte Tag bricht an. Nun verlassen wir die Glorer Hütte endgültig. Wieder steigen wir ein Stück bergab, um den Eselssteig zu beschreiten, der uns durch malerische Plateaus auf sanften Pfaden am Bösen Weibele vorbeiführen soll, einem echten Dreitausender. Während wir durch dieses verwunschene Land wandern, ragt in der Ferne schon spitz und karg der Berg auf. Nach einer kleinen Rast an einer verwaisten Hütte geht es dann ordentlich hoch. Samuel ist irgendwo weit vorne, wo wir ihn nicht sehen. Ich gehe mit Ronja, während Sven und Adelheid ein gutes Stück hinter uns sind. Wir keuchen in der Hitze zwischen dem Gestein und sehen bald den ersten türkisklaren Bergsee. Er ist weit unter uns, dennoch sehen wir, wie eine Frau nackt darin baden geht. Mutig – die Kälte scheint sie nicht abzuschrecken. Der Schnee wird hier oben mehr und mehr. Wieder müssen wir über ein Schneefeld stapfen, was dieses Mal schon weniger Furcht bereitet. Die Berge wirken hier fast schwarz gegen den blauen Himmel. Oben auf der Scharte in bereits schwindelerregender Höhe wartet Samuel auf uns und Sven und Adelheid folgen sogleich. Die zwei steigen weiter ab zu unserer nächsten und letzten Hütte, während wir drei beschließen, das Böse Weibele noch mitzunehmen – denn das Wetter ist hervorragend und wann hat man sonst die Möglichkeit, einen Dreitausender zu besteigen? Es ist 12:44 Uhr. Wir verabschieden uns fürs Erste von Sven und Adelheid und packen unsere Rucksäcke in den kleinen Notbiwak auf dem Kamm. Das Nötigste packen wir in meinen leergeräumten Rucksack, so dass wir den beschwerlichen Aufstieg mit nur leichtem Gepäck zu bewältigen haben. Und wie abenteuerlich der Weg sich gestaltet, der sich kaum so nennen lassen kann. Vage führt eine rote Markierung durch loses Geröll. Wir erklimmen eine unerhörte Spitze von Gestein und zu allen Seiten geht es nur in die Tiefe. Es folgt noch ein solch wackliger Turm, ehe wir uns den letzten kleinen Berg hochkämpfen und auf einem Kamm landen, der wirklich nichts für schwache Nerven ist. Ganz vorsichtig balancieren wir vorwärts, müssen immer wieder nach dem rechten Weg suchen, während der Gipfel in greifbare Nähe rückt. Das letzte Stück lässt uns schlucken. Fast klettern wir fälschlicherweise rechts, wo es wahnsinnig steil hinab geht, ehe wir erkennen, dass es links herum doch sicherer ist. Und dann haben wir es geschafft. Eine kleine Stufe aus Stein hinauf und wir haben das Böse Weibele erklommen. Samuel wartet oben auf mich und begrüßt mich mit der Information, dass ich Nasenbluten habe. Ronja, dicht hinter mir, lacht, weil sie sicher ist, dass sie das bemerkt hätte. Die letzten Höhenmeter müssen mir den Rest gegeben haben.
Die Aussicht ist fantastisch. Wir haben auf 3121 Höhenmetern eine einzigartig klare Sicht unter anderem auf den Großglockner – kein Wölkchen trübt das Bild, wenn auch in der Ferne etwas Dunkles auf uns zuzukommen scheint. Deswegen verweilen wir nicht lange und treten den Abstieg an. Wir beschließen wagemutig, eine Abkürzung zu nehmen – über ein langes Schneefeld hinüber, um den schwindelerregenden Kamm zu vermeiden. Auf halber Strecke des Schneefeldes dann sehen wir, wie Samuel plötzlich einfach hinabrutscht. Er streckt die Arme in die Höhe und schlittert bergab, während Ronja und ich gebannt zusehen. Unten angekommen springt er auf und winkt uns.
„Absicht?“, schreie ich zu ihm herunter.
„Absicht!“, schreit er zu mir herauf.
Ronja und ich machen die Dummheit sofort nach. Eine nach der anderen rutschen wir das Schneefeld herunter und fühlen uns danach seltsam albern. Wir können nicht aufhören zu lachen. Tatsächlich haben wir hervorragend abgekürzt, so dass der Rückweg wesentlich schneller geht. Bald sind wir wieder an der Scharte und machen uns nun auch auf zur Hütte. Das letzte Stück zieht sich gewaltig. Der Dreitausender sitzt uns gewaltig in den Beinen und Füßen, was wir zuvor wegen des Adrenalins wohl nicht gemerkt hatten. An einem klaren Bach kann Samuel zum Glück sein Wasser auffüllen, das knapp geworden war. Gestärkt und doch langsam geht es weiter. Der Hunger nagt. Wir sind völlig alleine, als wir schließlich zu einem einsamen Bergsee am Wegesrand gelangen. Ronja lässt erleichtert ihre Füße ins Wasser und Samuel kneipt unter Schreien mit den Beinen hinein. Aus einer unerklärlichen Laune heraus gehe ich bis zum Bauch hinein. Das Wasser ist weniger kalt als vermutet. Lang lässt es sich natürlich trotzdem nicht aushalten und wir müssen nun auch wirklich weiter. Dass wir das gefährliche Gebiet hinter unter gelassen haben, hören wir am Pfeifen der Murmeltiere, die nun wieder vor uns den Weg entlanghoppeln.
Gut erschöpft erreichen wir schließlich die Elberfelder Hütte auf 2346 Metern Höhe, wo uns das bisher vollste Haus und das beste Essen erwartet. Nachts regnet es heftig, ein Geräusch, zu dem ich gut einschlafen kann.

Und dann heißt es schon Abschied nehmen. Einen ganzen Tag haben wir Zeit, um abzusteigen und wehmütig der wunderbaren Natur hinterher zu trauern. Wir starten früher als bisher, um sieben Uhr, da ein Unwetter aufkommen soll. Davon merken wir jedoch nichts. Weit oben über dem Flusslauf im Tal wandern wir entlang, beobachten die Murmeltiere, die das weite Land unten betrachten wie ein Königreich. Ich liebe, wie frisch das Licht am Morgen ist, wie zart noch die Farben des Himmels, wie verwaschen die Wolken, wie pastellgrün das Gras flattert. Der Weg hinab führt an drei Gebirgsseen vorbei. Am ersten sind wir ganz alleine. Adelheid macht den Anfang und wirft sich komplett ins Wasser. Ich und Samuel folgen schreiend hinein und schreiend hinaus, aber wir hätten es nicht missen wollen. Beim zweiten See sind so viele Mücken, dass wir schleunigst dran vorbeigehen. Der dritte See schließlich ist der schönste von allen. Seine Oberfläche schimmert wie ein fantastischer Edelstein türkis. Während Sven und Adelheid hier fotagrafieren, brotzeiteln wir anderen auf einem kleinen Felsen mit Blick auf den See. Samuel kann vom Baden nicht genug kriegen und auch Ronja beschließt, das Erlebnis mitzunehmen. Zu zweit wagen wir uns ins Nass, schwimmen eine kurze Runde und kriechen glücklich wieder aus dem Wasser hervor.
Vom Sturm ist immer noch keine Spur. Lange sind wir kaum Höhenmeter hinabgestiegen, nun ändert sich das. Wir queren einen munteren Bachlauf und bald sehen wir wieder Bäume, kleine Stückchen Wald, die uns verraten, dass wir uns freundlicherem Terrain zuwenden. Es duftet nach Zirben, wohin wir auch gehen. Zerstörte, kleine Hütten säumen den letzten Teil des Abstiegs, neben dem Weg wächst nun Farn und auch die wundersame Wollkopf-Kratzdistel mit violetter Krone. Kühe grasen nicht weit unter uns und schon sind wir bei ihnen und bewundern ihre großen, starken Körper und sanften Gemüter. Höhlen säumen die Anhöhen des Flusses.
Der letzte Rest Weg zieht sich. Wir trotten auf harten Schotterwegen in Serpentinen und sind erstaunt, wie schnell es nun so steil hinabgeht, ein Unterfangen, das wahnsinnig auf die Knie geht. Bald sind wir auf der Strecke, die wir ganz zu Beginn gegangen waren. Es ist nicht mehr weit! Samuel geht voraus und holt das Auto in Winkl ab. Damit erwartet er uns beim Wanderparkplatz an der Gößnitz. Wir laden unsere Sachen im Wagen ab und dann waten wir alle ins kalte Wasser, kühlen unsere erhitzten Füße und Gesichter. So nehmen wir Abschied von den Hohen Tauern: angenehm erfrischt und wohlig erschöpft.

 


Es ist ein stetes stilles Wandern
Durch Menschen, Dinge und Gedanken.
Man geht und geht
Und merkt kaum, wie ringsum die Bilder
Sich verschieben und vorübergleiten
Und eines um das andere rückwärts fällt …
Und plötzlich steht
Man wie in einer neuen Welt!
Fernes wird nah und Nahes fern …
Du bleib sein Kern!

(Cäsar Flaischlen)