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Ahnatal

Wir verlassen die Wohnung gegen 11:30 Uhr. Es ist sonnig, frühlingshaft – der perfekte Tag für einen Spaziergang an der Ahne entlang nach Ahnatal. Wir überqueren die Ahne sogleich wenige Meter nach der Haustür, um nicht an der Straße entlang, sondern durch einen hübschen kleinen, namenlosen Park zu spazieren, wo heute am Sonntag zahlreiche Eltern mit ihren Kindern spielen. Wir passieren diese friedliche Gruppe, und unser Blick bleibt an einem kuriosen Geflecht im Buschwerk entlang des Baches haften: Dort in den grünen Blättern hängt eine Ähre, deren Halm zu einem feinen Ring geflochten ist. Ich mag die Vorstellung, dass fremde Hände sich die Mühe gemacht haben, diesen Ring zu basteln – er scheint wie magisch hierherzugehören, und deswegen lassen wir ihn auch hängen, wo er ist. Wir flanieren die Bunsenstraße entlang und biegen wenige Minuten später in die Gahrenbergstraße ein, um dem Bachlauf so nah wie möglich folgen zu können. Zwei Sticker an einer Laterne verraten uns, dass wir uns sowohl auf dem Märchenlandweg als auch auf dem Ahnetalweg befinden. Vorbei am nächsten Spielplatz, vorbei an der verwaisten Pariser Mühle Ebrecht, wo es Getreideprodukte und Tiernahrung gegeben haben soll, landen Samuel und ich nun auf dem märchenhaften Feldweg, der aus der Stadt hinaus ins Grüne führt und den wir einst sehnsuchtsvoll gesucht hatten. Nun wissen wir, wo er ist. Der Himmel ist blau, mein Kleid flattert sacht im Wind. Es ist wunderbar. Weiße Wolken treiben über uns, der Bach plätschert gemütlich neben uns her. Ab und zu begegnen wir Spaziergängern mit ihren Hunden. Samuel meint, dass dies das Auenland ist und ich darin ein Hobbit, weil ich meine Barfußschuhe trage und aussehe, als wäre ich nicht ganz von dieser Welt. Bald führt der Weg etwas bergan und wir müssen den Flusslauf kurzzeitig verlassen. Die weißen Markierungen M und V an den Baumstämmen verraten uns, dass wir noch immer auf zivilisierten Wegen wandeln, die einerseits ins Märchenland führen, andererseits nach Ahnatal. Nur wo die Grenze verläuft – das wissen wir nicht. Jedenfalls vergessen wir bald jegliche Zeit. Das Waldstück, durch das wir gehen, wirkt urig. Tellergroße Pflanzen wachsen hier wie in einem Dschungel und ich habe keine Ahnung, welch magische Gewächse diese wohl sind. Samuel zückt sein Handy, öffnet die Pflanzenapp und klärt mich auf: Es ist die große Klette, und zu ihr gibt es direkt auch eine Legende. Einst lebte ein alter Bauer, dessen Kühe das Ackerland pflügten. In den Pausen fraßen die Kühe die gigantischen Pflanzen, die am Rande des Feldes wuchsen. Der Bauer merkte, dass der Genuss der Pflanzen den Kühen neue, unerhörte Kräfte verlieh. Also probierte er selbst davon und gewann von nun an täglich an Kraft. Er und seine Kühe lebten ein glückliches Leben dank der großen Kletten.
Wir haben Brote für später dabei, deswegen sparen wir uns die kulinarische Exkursion, doch mir gefällt, wie an den Pflanzen Geschichten haften. Daneben fallen uns weiße Blüten auf, die überall im kleinen Urwald hervorleuchten. Es sind die Blütenstände des Hecken-Kälberkropf. Ihr Duft erinnert uns an Möhren und Kümmel. Keinesfalls sollte man hiervon jedoch kosten – die Pflanzen sind leicht giftig.
Ich habe jedenfalls großen Spaß am Erkunden der unbekannten Natur. Bald haben Samuel und ich die Höhe erreicht, von der aus wir ins Tal blicken können. Wir setzen uns auf eine einsame Bank auf der lichten Wiese und lassen den Blick schweifen. Trinken von unserem Wasser. Dann spazieren wir den Hang hinab. Die Markierungen weisen nun nach links, eine kleine Treppe hinab, die von dichtem Blattwerk verwunschen umschlungen ist. Der Weg führt wieder direkt zur Ahne, in der sich das Licht der Sonne magisch bricht. Ein schmaler Pfad führt den Fluss entlang, durch hohes Gras und ganze Brennnessel-Plantagen. Niemand ist hier außer uns.
Schließlich erreichen wir ländliche Ausläufer von Vellmar. Der Zug fährt hier über eine Brücke. Wir gehen unten hindurch, immer am Fluss entlang. Ein Hund badet unter den Gleisen im kühlen Nass. Hier, ohne Schatten, knallt die Sonne uns ganz schön auf die Köpfe. Der Tag ist trotzdem zu schön, um über irgendetwas klagen zu wollen. Bald erreichen wir doch wieder schattigere Parks entlang der Ahne. Menschen und ihre Tiere flanieren hier glücklich wie wir.
Und dann sind wir im Ahnepark, wo wir uns auf eine Bank setzen, unsere Brotzeit auspacken und die Wasserfontänen beobachten. Eine wohlige Müdigkeit überkommt uns, das Brot schmeckt hervorragend, obwohl es gar nicht mehr so frisch ist. Leute liegen auf Decken auf den Wiesen, unter Rosenbüschen, sonnen sich und schlafen. Es ist ein Sonntag wie im Bilderbuch, ein Tag der Erholung. Aus der Stadt heraus hat der Bach uns in die Wildnis geführt und dann in die grüne Kultur – sein Wasser zieht die Menschen an und scheint allen gutzutun.
Ein kleines Stück folgen Samuel und ich noch seinem Lauf. Wir flanieren über einen kleinen Friedhof, an einer Schule vorbei und verlassen Vellmar, gehen ein Stück entlang der Straße, durch einen kalten Tunnel und erreichen zu guter Letzt einen idyllischen Pfad entlang der Ahne. Kleine Baumplantagen wachsen links von uns; rechts erstreckt sich bald eine Pferdekoppel. Wie schön die Tiere es hier haben! Wir gehen noch bis zur Baumschule Döring, die der Gemeinde Ahnatal angehört, und kehren dann um, denn unsere Füße sind müde. Zwei Uhr ist es nun – wir sind also von unserer Haustür aus zweieinhalb Stunden hierhergelaufen. Zurücklaufen wollen wir nicht mehr. Wir nehmen die nächste Tram – und ich behalte diesen Spaziergang entlang der Ahne von Kassel nach Ahnatal in bester, frühlingshafter Erinnerung.

 


Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So faßt uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an –

und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen,
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen …
wir aber spüren nur den Gegenwind.

(Rainer Maria Rilke)