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Niestetal

Samuel und ich parkten das Auto auf dem Parkplatz eines Schulgeländes in Sandershausen und hofften, dass dies an einem Samstag kein Problem sein würde. Draußen nieselte es leicht. Obwohl erst Anfang Februar, war es schon erstaunlich warm. Mein Plan war, an der Nieste, einem Zufluss der Fulda, entlangzuspazieren und zu sehen, wie weit wir an diesem Nachmittag kommen würden. Ein kleiner Feldweg führte uns Richtung Fulda. Auf der anderen Seite des Flusses weideten Schafe. Von der Niestebrücke an der Mündung konnten wir zur Niestemündung sehen, wo die Nieste in die Fulda floss. Wir wandten uns ab und liefen nun entgegengesetzt der Strömung, fort von der Fulda. Unser Weg führte uns bald zurück nach Sandershausen, die Fuldastraße entlang. Bald teilte sich der Flusslauf neben uns und wir folgten dem begradigten Kanal, ehe die Wasserarme sich nahe der Niestebrücke am Sportplatz Sandershausen wieder trafen und vereinigten. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurde hier der sogenannte Schwinnegraben (von Schweinegraben) ausgebaut, um einen Teil der Nieste abfließen zu lassen. Damals bereits wollte man durch die Erweiterung des Bachbettes Hochwassern entgegenwirken. In Kassel und Umland ist jedenfalls noch viel zu tun, wie das letzte verheerende Unwetter gezeigt hatte. Meine Kollegin und ich hatten im Büro, gefangen von den Wassermassen, staunend den reißenden Fluten zugesehen.
Die Nieste sprudelte munter vor sich hin. Wir folgten ihrem Bachlauf und kamen am Natur-Erlebnis-Bad vorbei, einem natürlichen Gewässer mit biologischer Filterung, wie ich lernte. Ich fand es schön, wie der kleine Fluss neben Gefahren wie Hochwasser auch ökologische Erholungsorte zu bieten hatte. Ich nahm mir vor, das Bad im Sommer einmal zu testen.
Obwohl wir noch nicht lange gelaufen waren, stellte sich bereits ein erstes Hüngerchen ein. Zum Glück war ich mit den selbstgebackenen Haferkeksen meiner Großmutter ausgestattet, die auch Samuel sehr zu schätzen wusste. Genüsslich bissen wir in das süße Gebäck, wobei ich dachte, dass es beim Spazierengehen doch immer am besten schmeckt. Obwohl wir nicht weit von uns den Verkehr auf der Autobahn rumpeln hörten, wurde der Lauf der Nieste zunehmend wilder, fast sumpfig. Ein Schild bat darum, Hunde hier anzuleinen wegen der wilden Tierarten, die hier lebten. Das Wasser stand hoch; karge Bäume spiegelten sich darin. Am Ufer sahen wir die Spuren eines Bibers und fragten uns, ob Hunde wohl auch Bibern hinterherjagen würden. Neben diesen Hinweisen jedoch blieb alles still. Nur zwei Enten steckten ihre Köpfe ins Wasser und schwammen pikiert fort, als ich sie fotografieren wollte. Samuel stapfte durch das schlammige Gras und ich irgendwie hinterher. Der Bach hatte sich hier vielfach verzweigt und mutete wie ein Moor an. Ein alter, rostiger Karren stand einsam und verweist mitten auf grüner Flur.
Wir liefen nun unter der Autobahnbrücke hindurch und querten eine große Straße. Eine Weile konnten wir noch auf einem idyllischen Feldweg gehen, dann jedoch hinderte uns ein Privatgrundstück daran, weiter den Fluss entlangzuwandern. Stattdessen mussten wir ein Stück durch eine öde Siedlung laufen, vorbei an einer Packstation der Post und einer Tankstelle. Nicht weit davon entdeckte Samuel eine steile Treppe entlang eines alten Industriegebäudes, die wieder hinab zur Nieste führte. Unten am Ufer erwarteten uns drei hübsche, schwarze Pferde, die neugierig die Hälse über den Zaun streckten. Ich hätte sie gerne gestreichelt, doch ihr Fell war vom Regen ganz schlammig. So nickte ich ihnen nur zu und wir zogen weiter. Die Umgebung hatte etwas von einer verlassenen Zombie-Apokalypse, fand Samuel und ich konnte nur zustimmen. Eine gigantische rote Flagge wehte zerrissen im Wind; wir schlichen daran vorbei wie auf der Flucht.
Eine Infotafel versetzte uns in alte Zeiten zurück. Wir befanden uns nun bei den sogenannten Bleichen, die bis ins 20. Jahrhundert als Wäschewiesen genutzt wurden. Große, weiße Wäschestücke wurden zum Bleichen in der Sonne ausgelegt. Kinder mussten Acht geben, dass Enten und Gänse nicht über die Wäsche liefen. Mehrfach am Tag mussten die Textilien mit Wasser besprengt werden – eine Aufgabe für Frauen und Kinder. Das Wasser hierfür durfte nur aus dem Mühlengraben geholt werden, der als sauber galt. Das Baden darin war daher streng verboten. Nicht dagegen in der dreckigen Nieste!
So schmutzig erschien uns der Fluss eigentlich nicht. Nun mussten wir seinen Lauf ein wenig verlassen und wandten uns waldwärts einen kleinen Berg hinauf. Oben angekommen fanden wir am Waldesrand überdachte Rastplätze mit Holzbänken, die uns bei dem Nieselwetter einluden uns hinzusetzen und ein wenig auszuruhen. Glücklich verspeisten wir ein paar weitere Kekse, tranken Wasser und lauschten dem Gezwitscher der Vögel um uns herum. Hier endlich war es still. Die Autobahn war nun nicht mehr zu hören. Wir stapften weiter über schlammige Feldwege, zu unserer rechten der Wald, zu unserer linken weite Wiesen und Felder. Bald führte der Pfad wieder bergab zu einem kleinen Holzlager. Hier war der Endpunkt unserer Route – nun wollten wir am anderen Ufer wieder zurücklaufen. Unser Weg führte uns abenteuerlich über eine baufällige Brücke, vorbei an entwurzelten Baumgiganten, die kopfüber hingen und einfach weiterwuchsen. Das Flusswasser war glasklar.
Wie immer schien es mir, dass der Rückweg viel kürzer war als der Hinweg. Eine letzte Infotafel erwartete uns noch für eine kleine Zeitreise zur Bedeutung des Waldes. Holz war und ist schließlich essenziell: Man brauchte es zum Bauen, Wärmen, Kochen – sowie zur Werkzeugherstellung. Ebenso benötigten Wild- und Zuchttiere die Waldflächen, die sogenannte Hutefläche. Die „Beholzigung“, die Versorgung mit Brennholz, war an Taxpreise gekoppelt. Außerdem musste jeder an der Mast beteiligte Einwohner dem Revierförster eine Wurst und seinem Pferd einen Sack Hafer zahlen.
Im 16. Jahrhundert schon entstand hier an der Nieste in Heiligenrode außerdem ein Eisenhammerwerk. Für die Nutzung des Flusses als Kraftspender waren jährlich zwei Gulden zu zahlen – ein Vermögen. Für den Betrieb war eine Köhlerei zur Kohleherstellung und natürlich genügend Brennholz als Nachschub nötig. Das Eisenhammerwerk trieb den Holzverbrauch bald so sehr in die Höhe, dass die landgräfliche Regierung den Ankauf in der Region verbot. Vermutlich hatte es der Bevölkerung im Konkurrenzkampf mit dem Eisenhammerwerk an Brennholz gefehlt. Dieser Konflikt sowie das mühsame Herankarren des Erzes über die Fulda führte wohl dazu, dass der Betrieb wenige Jahre später schon dicht machen musste.
All diese Bilder schwebten in meinem Kopf herum, während Samuel und ich dem Bachlauf zurück folgten, bis wir schließlich wieder das Auto erreicht hatten. Mittlerweile waren wir beide recht nass und durchgefroren und freuten uns auf ein warmes Zuhause, in dem die Wärme wie aus dem Nichts zu kommen schien und wir uns um Brennholz keine Sorgen zu machen brauchten.

 


Alles Menschliche ist im Flusse und gleitet dahin,
und was uns im Leben am besten gefällt,
das ist gerade das Flüchtigste und Zarteste.


(Seneca)