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Fuldatal

Am letzten Tag des Novembers spazierten Samuel und ich von Kassel in die nordöstlich gelegene Gemeinde Fuldatal. Wir waren zuvor noch spät in der Mensa gewesen, hatten dann unsere Sachen zuhause abgeworfen und fuhren nun mit dem Auto zur Fuldatalstraße am Rande Kassels. Dort parkten wir in einer kleinen Einbuchtung neben der Straße und schlitterten einen matschigen Hang hinab, der uns direkt auf den hessischen Radfernweg R1 führte, der malerisch entlang der Fulda verläuft und, wie ich dachte, sicher auch für Fußgänger geeignet war. Schließlich wollten wir spazieren, die Seele baumeln lassen, runterkommen. So kurz vor dem ganzen Weihnachtstrubel. Schon sahen wir die Fulda zu unserer Rechten. Sofort schoss ich ein Foto von der Spiegelung der kargen Herbstbäume im stillen Wasser und einem grauen Himmel darüber, einem grauen Fluss darunter. 15:28 Uhr. Die Sonne würde um 16:17 Uhr untergehen. Wir hatten also keine ganze Stunde mehr im Tageslicht, doch das machte uns nichts aus. Hauptsache raus unter den freien Himmel. Und hier waren wir.
Feiner Schnee rieselte vom Himmel, die kalte Luft lag uns angenehm auf der Haut. Samuels Ohren wurden pink und pinker, doch er wollte meine Mütze nicht haben, die ich ihm immer wieder anbot. Ich hätte schließlich noch eine Kapuze gehabt.
„Das ist gut für die Durchblutung“, meinte er und dann sprachen wir von Eisbädern und dunklen, eisigen Ländern im Norden, wo so etwas wohl nötig war, um nicht an Depressionen einzugehen. Wir hier hatten wohl Glück. Weniger Dunkelheit, weniger Kälte. Ich mochte den Schnee. Zusammen bewunderten wir die filigranen Flocken, die wie kleine Gemälde auf Samuels Jacke landeten und nicht schmolzen.
Der Weg führte ein Stück über freies Feld an einsamen Gehöften vorbei. Links von uns lag der Wald. Schneisen umgestürzter Bäume zogen seltsam leere Linien durch das Gehölz. Davor, auf dem grünen Gras lag Schnee wie Puderzucker, vorsichtig verteilt. Wir ließen die Wiese hinter uns und tauchten ins Dickicht ein – so zumindest fühlte es sich an, da sich nun auch zu unserer Rechten ein kleines Wäldchen auftat, hinter dem still die Fulda verlief. Leuchtend rote Beeren hingen im trockenen Geäst. Ich fragte mich, welche das wohl waren, ob man sie essen konnte oder besser nicht. Wir ließen es jedenfalls bleiben. Der Wald rückte nun von links ganz nah an uns heran, zu unserer Rechten dagegen eröffneten sich bald wieder grüne Flächen; der Weg war von rötlich-braunem Herbstlaub bedeckt. Ich konnte mich gar nicht sattsehen an der Farbenpracht des Waldes, der mal gelb, mal rot, mal schwarz schien, je nach Färbung der Blätter in ihrem Verfall, so kurz vor dem Wintereinbruch. Rustikale Bänke am Wegesrand luden zum Hinsetzen und Ausruhen ein, doch die Kälte trieb uns vorwärts. Bald wuchsen mächtige, dicke Stämme aus dem Hang zu unserer Linken; und rechts von uns floss nun ganz nah die Fulda, kaum mehr von uns getrennt. Wie schön und beruhigend das alles war. Der Wald. Der Herbst. Der Schnee. Der Fluss. Samuel und ich. Die Zeit war vergessen.
Noch vor Sonnenuntergang erreichten wir Spiekershausen, einen Ortsteil der Gemeinde Staufenberg im Landkreis Göttingen. Wir konnten nicht wirklich hineinspazieren, da der Ort auf der anderen Seite des Flusses verlief – doch wir wurden entschädigt mit dem schönen Anblick, den der Ort uns bot! Schneebedeckte Stege führten zaghaft vom Ufer ins Wasser hinein. Der warme Schein von Laternen auf der anderen Seite spiegelte sich weihnachtlich in der Fulda. Rauch stieg aus Kaminen, alles war ruhig. Fachwerkhäuser und eine kleine Kirche erfreuten unser Auge.
Zu unserer Linken lag nun das Hotel Roter Kater & Graue Katze. Vor dem rustikalen Hof thronten zwei gigantische Katzenstatuen: eine in grauem Schimmer, die andere, wer hätte es gedacht, rot leuchtend. In diesem Moment, als wir dort standen, ging die Sonne unter. Wir sahen uns noch ein wenig um. Hinter einer Handvoll parkender Autos war noch eine Katzenstatue verborgen. Diese schlummerte in Übergröße in einer Art Krippe und weckte in uns seltsam religiöse Assoziationen. Gemütlich sah es in jedem Fall aus und musste natürlich bei zwei Katzenliebhabern wie uns Anklang finden.
Wir zogen weiter entlang des Fuldaradwegs, den Blick immer auf das gegenüberliegende Spiekershausen gerichtet. Wie nett dort alles aussah! Wir überlegten sofort, wie es sein musste, dort zu leben. Mit dem Rad wäre es nicht weit zur Uni und im Sommer könnte man immer in der Fulda schwimmen. Wäre das nicht ein Leben!
Kurz verschwand Samuel in einem düsteren Tunnel, der unheimlich im rotblättrigen Waldeshang zu unserer Seite aufgetaucht war. Das Licht seiner Handytaschenlampe war das einzige Zeichen von Leben, das ich von ihm hatte. Dann kam er wieder.
„Und? Wie war es?“, fragte ich.
„Gut“, sagte er. „400 Euro Miete kalt. Wie wär’s?“
„Nehmen wir“, sagte ich und wir gingen weiter. Doch noch eine günstige Wohnung gefunden!
Während wir langsam vorwärtstappten, hatte ich mein Handy herausgeholt und beobachtete, wo wir uns auf Google Maps bewegten.
„Jetzt!“, rief ich, „Jetzt haben wir die unsichtbare Grenze zur Gemeinde Fuldatal überschritten. Wir können umkehren.“
„Das zählt für mich nicht“, sagte Samuel und zog mich weiter. Wir liefen noch bis zu einer sogenannten Ruhebank der Gemeinde Fuldatal. Von hier aus konnten wir auch die Brücke sehen, die sich über die Fulda zog und wo immer der Zug von Kassel nach Göttingen fuhr. Wie oft hatte ich schon von der Brücke hinab ins Tal geblickt. Nun war es genau andersherum.
„Jetzt können wir umkehren“, erklärte Samuel und das taten wir dann auch.
Mittlerweile lag ein mystisches Dämmern über der Welt. Der Nebel kroch fein über den Fluss, der silbrig-blau entlang von Natur und Kultur lief und sich dabei zu räkeln schien wie eine Wasserschlange. Mit jeder Minute schien es dunkler zu werden. Und ehe wir uns versahen, war schwarze Nacht um uns. Ich war froh, nicht alleine zu sein, genoss jedoch auch die Momente, in denen ein Auto auf der Landstraße zu unserer Rechten vorbeifuhr. Dann wurde es kurz hell. Und in dieser Helligkeit sah man dann den Schnee wie Feenstaub vom Himmel rieseln.
Um 17.40 Uhr erreichten wir wieder unser Auto. Etwa zwei Stunden waren wir unterwegs gewesen, doch es hatte sich für mich wie ein ganzer, kleiner Urlaub angefühlt. Wir kämpften uns wieder den Schlammhang hinauf und schworen uns, viel öfter spazieren zu gehen. Auch kurz vor Sonnenuntergang. Auch abends. Auch nachts.


Wie in Seide ein Königskind
schläft die Erde in lauter Schnee,
blauer Mondscheinzauber spinnt
schimmernd über dem See.

Aus den Wassern der Raureif steigt,
Büsche und Bäume atmen kaum:
durch die Nacht, die erschauernd schweigt,
schreitet ein glitzernder Traum.

(Clara Müller-Jahnke)