Gegen acht Uhr morgens erreichen wir die Schönmoosalm in Österreich. Wir parken das Mietauto auf dem Wanderparkplatz in der Serpentinkurve neben der Alm, schlüpfen in unsere Wanderschuhe, hieven
die Rucksäcke auf die Rücken und schließen das Auto ab. Los geht’s! Das Wetter ist vielversprechend, nichts vom Regen, der für unsere Drei-Tages-Tour gemeldet ist. Der Berg geht direkt hinter
einem Kuhgatter los, an dessen Pfosten ein Papier genagelt ist, auf welchem steht: „Bitte das Tor umbedingt schließen!!!“ Sven macht ein Foto von uns, nachdem wir uns alle durch das Gatter
gezwängt haben. Am Anfang der Wanderung. Wir tragen blaue Jacken und schwarze Hosen und lächeln befreit in die Kamera. Noch sind wir frisch und guter Dinge. Die Kühe grasen am Wegesrand. Wir
gehen respektvoll an den großen Tieren vorbei, manche interessieren sich gar nicht für uns, andere beäugen uns etwas skeptisch. Mit großer Freude gehen wir den Anstieg an. Die Rucksäcke fühlen
sich nicht schwer an, der Himmel leuchtet hellgrau – es ist ideales Wetter zum Wandern. Der Weg führt erst sanft bergan, wird dann steiler. Je höher wir kommen, desto besser wird die Aussicht auf
die blauen Berge hinten im Tal, an deren Fuße der Nebel wie Watte hängt. Das Gras ist moosgrün, die Bäume und kleinen Stückchen Wälder tannendunkel. Es wird wärmer; die Sonne kommt heraus und wir
ziehen uns die Jacken aus. Adelheid erspäht einen weißgetupften Tannenhäher auf der Weide, der hier, im Reich der Zirben, zuhause ist und gerne Zirbensamen frisst. In der Nähe verläuft der Bach,
kühl und klar, und allmählich wird das Gras gelblich, die Umgebung felsiger. Ich ziehe meinen Pullover aus – vom Herbst ist in dieser Sonnenwärme nichts zu spüren. Zu guter Letzt steht uns ein
knackiges Endstück bevor, ehe wir die Platte oben erreichen. Agnes zieht vor, so schnell, dass ich befürchte, sie spielt wieder „Die Sonne ist Lava“. Ich nehme ihre Motivation als sportlichen
Ansporn und folge keuchend, dicht hinter mir Ronja, die weniger angestrengt wirkt. Sven und Adelheid haben wir etwas zurückgelassen. Oben angekommen genießen wir schwitzend den herrlich weiten
Blick, setzen uns auf eine Bank und nehmen ein paar Snacks zu uns: In den Bergen soll man wenigstens alle zwei Stunden eine Kleinigkeit essen, um nicht den berühmt-berüchtigten Hungerast zu
entwickeln.
Die Landschaft, die sich nun vor uns ausbreitet, ist wie aus einem Traum; das Gras wirkt weich aus der Entfernung, als wäre es liebevoll gemalt, die Felsbrocken dazwischen scheinen wie
hingewürfelt. Vereinzelt wachsen Nadelbäume. Ein kleiner, idyllischer Pfad führt durch das dahingegossene Paradies. Bald rieche ich die Zirben – ein betörender Duft. Die Vegetation wirkt urig,
Farne drängen sich um uns und der Wald wird dicht und bunt. Ein wenig klettern dürfen wir auch, doch da ist nichts dabei, was nicht zu machen wäre. Am anstrengendsten erscheint noch der Abstieg
auf glitschig feuchten Brettern. Ich konzentriere mich, um nicht zu stürzen oder umzuknicken. Unten dann, in einem kleinen Tal, steht die Trisslalm, die von einer einzigen Frau betrieben wird.
Wir liegen gut in der Zeit – es ist nun 12 Uhr – und gönnen uns dort eine Pause. Sven lädt ein zu Cappuccino, der mit frischem Bergwasser gebraut ist, und auch die Milch ist von den Kühen hier.
Danach ereilt uns doch ein wenig Regen, der sich allerdings bald wieder verzieht und stattdessen einen mystischen Nebel zurücklässt, hinter welchem die Felsen wie Trolle wirken, die zackigen
Rücken der Berge um uns wie Drachenschuppen. Dies ist ein verzaubertes Land, da sind wir uns sicher, während wir beseelt durch den wabernden Dunst schreiten, am rauschenden Bach entlang, dessen
Wasser so klar und kristallblau, fast silbrig ist, dass ich am liebsten weinen würde. Hier scheint die Welt noch in Ordnung zu sein. Hier, zwischen Trollen und Drachen. Ihrem Habitat entsprechend
weicht auch das Grün vermehrt Geröll und Stein. Es steht uns noch ein Berg bevor, ehe wir in der Hütte einkehren können, wo wir heute Nacht schlafen wollen. Und natürlich geraten wir doch noch in
Regen. Mit flatternden Capes kämpfen wir uns den Berg hinauf, auf einem Pfad, der zu beiden Seiten steil hinabführt, zuletzt ganz dicht am Fels entlang. Und dann haben wir es geschafft. Nass,
aber froh erreichen wir die Zittauer Hütte. Der See, der gleich daneben liegt, ist unseren Augen verborgen, so dicht wabert der Nebel um uns. In der Hütte legen wir zuerst die nassen Sachen im
Trockenraum ab; dann habe ich Zeit, das Hüttenmotto, das auf einer kleinen Tafel notiert ist, zu lesen: „Der Weg, den du gewählt hast, ist nicht entscheidend – wichtiger ist nur, wie und mit wem
du ihn beschreitest.“ Mit Agnes und Ronja beziehe ich eine kleine Schlafkammer unter dem Dach, die genau für drei ausgerichtet ist. Wir spüren alle unsere Beine und sind froh, im
Gemeinschaftsraum unten Schiwasser zu trinken und dabei ein Hermelin zu beobachten, das neugierig zum Fenster hineinschaut, ehe es wieder verschwunden ist. Selten hat Suppe so gut geschmeckt wie
nach einem Tag in den Alpen an der frischen Luft. Danach schaffen wir kaum die Spinatknödel mit Gorgonzola. Wir lassen sie uns in eine leere Mascarpone-Dose packen, die auch verrät, woraus das
Dessert gezaubert ist, welches auf die Knödel folgt. Eine Creme aus Vanille und Schokolade – ein Traum.
Wir fallen wie Steine ins Bett, schlafen tief und fest. Nichts anderes habe ich erwartet.
Zum Frühstück gibt es Brot und Kaffee, dazu Joghurt und Müsli. Reichhaltig – schließlich folgt nun der zweite Tag unserer Wandertour. Unsere Sachen sind über Nacht im Trockenraum schön warm und
trocken geworden. So schlüpfen wir gerne zurück in die schweren Wanderschuhe und einstmals nassen Regenjacken. Vor der Zittauer Hütte hängt nach wie vor der Nebel, dicht und schwer. Das Gras vor
dem kaum erkenntlichen Bergsee leuchtet jenseitig grün und rot; ich glaube, wir sind nun ins Feenreich entflohen. Pünktlich um acht Uhr starten wir wieder unsere Reise, es geht bergauf, über
glatte, kalte Platten von Stein, die das Einzige sind, was wir im Nebel sehen. Auch der Regen setzt bald ein. Wir ziehen unsere Capes über und kämpfen uns vorwärts. Bei der Wetterlage ist es
alles andere als leicht, die roten Wegmarkierungen überhaupt rechtzeitig zu entdecken, ehe man schon falsch ins dunstige Nirwana abgebogen ist. Einmal passiert mir das, als ich die Gruppe gerade
führe – Ronja ruft mich zum Glück rechtzeitig zurück. Danach lasse ich andere vor, die aufmerksamer sind und weniger verträumt im Nirgendwo nach Geistern heischen. Unser nächstes Ziel ist die
Roszkarscharte. Zwei Stunden nach unserer Abreise von der Hütte sind wir hoch oben, balancieren vorsichtig schmale, steinerne Pfade entlang, die wie schwerelos vor uns durch die Luft führen. Nur
manchmal, wenn ein klein wenig Licht durchdringt, erahnen wir die Berggiganten um uns. Dann haben wir es geschafft. Nass und klamm stehen wir bei 2687 Metern Höhe auf der Roszkarscharte und
fühlen uns froh und erschöpft. Das Wetter lädt nach wie vor nicht zum Bleiben ein. Wir steigen direkt auf der anderen Seite ab, hinab in ein bleigraues Geröllland, dessen Gestein ab und an
silbrig funkelt. Allmählich verzieht der Nebel sich, der Regen hört auf, und durch die Wolken bricht tatsächlich die Sonne. Wie wunderbar warm das auf der Haut ist! Im Trockenen läuft es sich
doch viel schöner. Wie Dampf steigt der Nebel nun hinter den klaren Bergkonturen hoch, und wir wandern durch diese frische Landschaft. Bald wird es wieder etwas grüner, sumpfig wirkt die
Vegetation neben dem Weg. Haben wir ein Moor in den Bergen gefunden? Ich will es nicht testen. Die Blaubeeren, die hier an den Sträuchern wachsen, schmecken ein wenig bitter, nicht so süß wie
die, die wir gestern fanden, als wir noch tiefer waren. Ich kann mich an den Farben kaum satt sehen, das Silberblau der kleinen Teiche, das Orange des Heidegrases daneben und dazwischen, die
Steine, weiß wie Schnee. Und hinter der nächsten Biegung erwartet uns ein kleiner Bergsee. Wir haben fast 12 Uhr, der Himmel ist nun klar und im Wasser spiegeln sich die Berge und die Wolken.
Hier ruhen wir ein wenig aus, ehe es weitergeht. Immer dann, wenn ich denke, dass es nicht schöner werden kann, wird es doch noch schöner. Mit der tieferen Höhenlage gelangen wir nun auch wieder
in bewachsenere Regionen, in denen vereinzelte Bäume unseren Weg säumen. Unten im Tal führt ein kleiner Steg über den Bach. Und überall hören wir es pfeifen.
„Das sind Murmeltiere“, erklärt Sven und wir hoffen begierig, welche zu sehen. Als wir direkt durch ein Geröllfeld wandern, passiert es.
„Bleib stehen!“, ruft Ronja flüsternd hinter mir, denn wie durch ein Wunder bin ich schon wieder vorne gelandet. Ich verharre sofort regungslos, wo ich bin.
„Da!“, ruft Ronja. Und dann sehe ich es auch: Ein süßes, dickes, flauschiges Murmeltier verharrt genauso still wie ich vor einem Stein nur wenige Meter entfernt von mir und denkt wohl, dass wir
es nicht sehen. Dann aber huscht es doch in sein Loch zurück und wir gehen weiter. Die Murmeltiere sehen wir nun überall um uns. Links und rechts gucken sie hinter Felsblöcken hervor, nicht
schüchtern, eher neugierig. In der Ferne, auf einem hohen Fels thront grau auf grau die Richterhütte, unser Quartier für die heutige Nacht. Am Berghang erkennen wir Gämse.
Der letzte Anstieg hoch zur Hütte erscheint vergleichsweise leicht. Wir sind wohl alle froh, dass der Regen ein für alle Mal aufgehört hat – und wir freuen uns auf Kaffee in der Hütte. Der Blick
von der Richterhütte ist großartig. Wir schauen ins ganze lange Tal hinab, durch das wir auch gewandert sind, sehen das Geröllfeld, in dem die Murmeltiere waren, nun klein unter uns liegen. Wir
legen ab, gönnen uns Kaffee und dazu Apfelstrudel, der wie ein Gedicht im Mund zergeht, und ziehen dann noch einmal los, die Umgegend zu erkunden. Hinter der Hütte lauert eine Überraschung in
Form einer Katze, der Bergkatze, wie Ronja sie tauft. Das Tier sieht aus, als sei es ein halbes Murmeltier, und so seidig weich ist auch sein Fell. Nur schweren Herzens lassen wir den
verschmusten Gesellen zurück, überqueren das kleine Bächlein gleich bei der Hütte, beobachten amüsiert die etwas ungelenken Hüpfer eines Frosches, der kreuz und quer zu springen scheint, und
ziehen dann wieder durch einsames Geröll von Stein. Um vier Uhr lassen wir es gut sein. Sven und Adelheid fotografieren den Bach, der den Berg hinabstürzt, sein Bett schimmert golden – und das
bringt Agnes, Ronja und mich, nachdem wir unsere restlichen Spinatknödel verspeist haben, auf die Idee, nach funkelnden Steinen zu suchen. Mir vergeht bald die Lust, ich war noch nie ein großer
Sammler und Sucher – doch Agnes lässt das Unterfangen nicht los, und ihr Eifer wird auch mit dem Fund eines großen klaren Bergkristalls belohnt. Zurück bei der Hütte schmusen Ronja und ich noch
ausgiebig mit der Bergkatze, die sich wohlig auf Ronjas Schoß zusammenrollt.
„Hat sie ein Opfer gefunden“, schmunzelt der Hüttenwirt nur, als er uns dort entdeckt.
Abends gibt es nepalesische Nudeln. Dazu gönnen wir uns Zirbenbier, das uns allen mundet.
Für diese Nacht sind wir im großen Bettenlager unter dem Dach untergebracht. Zu fünft nehmen wir eine ganze Seite in Beschlag – auf der anderen nächtigen zwei Tschechen, die uns schon zuvor in
den Bergen begegnet sind. Ich liege im Dunkeln in meine Wolldecke gehüllt, bin froh, dass es hier keine Ablenkung gibt, keinen Strom für mein Handy, kein Licht, um zu schreiben, weil Sven schon
schlafen will. Die Tschechen flüstern leise, und dann schlafe ich ein.
Unser letzter Tag in den Bergen ist wettertechnisch der schönste. Die Sonne begrüßt uns schon am Morgen und lockt uns noch einmal hinauf in die Höhe. Unser letzter Anstieg für diese Reise: Wir
wollen hinauf zur Windbachscharte, die mit 2693 Höhenmetern unseren höchsten Punkt der Tour markiert. Agnes findet unterwegs noch mehr Bergkristalle, ich spüre stattdessen meinen rechten Fuß, der
nach längeren Touren immer ein wenig Probleme bereitet. Eine Stunde nach Verlassen der Richterhütte sind wir oben, um uns nur ein paar Dohlen. Es ist so schön warm und sonnig, dass wir glückselig
ein Gruppenfoto machen, hier, hoch über der Welt. Können wir nicht bleiben?
Aber jede Reise muss zu Ende gehen, und so steigen wir nach einem kleinen Snack wieder ab, und nun finde auch ich einen Bergkristall. Bei der Richterhütte nutzen wir alle noch einmal die
Toiletten, und dann geht es zurück ins Tal. Unser Ziel ist das Krimmler Tauernhaus – dorthin sind es noch gute zwei Stunden. Doch wenn ich dachte, die Reise sei nun zu Ende, so eröffnet sich nun
der paradiesischste Teil der Landschaft. Je tiefer wir hinabsteigen, desto üppiger grünt und blüht es wieder neben uns. Die ersten Herbsttöne haben sich ins Farbspektrum geschlichen. Am Wegesrand
wachsen Blaubeeren und Himbeeren ohne Ende, groß und süß, und sogar Pferde und Esel sehen wir. Auch wenn es wunderschön ist – so schön, dass ich es kaum glauben kann – spüren wir alle unsere
Füße. An einer Stelle, an der der Bach, der mit uns ins Tal fließt, von großen, schönen Kieselsteinen gesäumt ist, machen wir eine Pause, ziehen die Schuhe aus und kneippen unsere müden Füße. Wie
gut das tut! Die kleine Rast gibt uns die nötige Energie für den Endspurt. Durch den Wald hindurch sehen wir bald das Krimmler Tauernhaus. Dort gönnen wir uns eine deftige Mahlzeit und lassen uns
dann vom Sammeltaxi zurück zur Schönmoosalm kutschieren, wo das Auto glücklicherweise noch steht. In der Alm gibt Ronja allen Kaffee aus. Damit setzen wir uns erschöpft, aber glücklich in den
Wagen, machen die Türen zu – und Sven fährt los.
Für Wehmut und Sehnsucht bin ich zu erschöpft, aber sie wird kommen, da bin ich mir sicher. Denn selten bin ich so paradiesisch gereist.
Das ist nicht Sommer mehr, das ist September …
Herbst: diese großen weichen Wolken am Himmel,
diese feinen weißen Spinnwebschleier in der Ferne
und hinter den Gärten mit den Sonnenblumen
der ringelnde Rauch aufglimmender Krautfeuer …
und diese süße weiche Müdigkeit
und diese frohe ruhige Stille überall
und trotzdem wieder diese frische, satte, erntefreudige, herbe Kraft …
das ist nicht Sommer … das ist Herbst.
(Cäsar Flaischlen)