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Prag

Ich komme um neun Uhr morgens am Busbahnhof in Prag an. Müde steige ich aus und ziehe mir erst einmal meinen Pulli aus. Ein blauer Himmel strahlt über mir, die Sonne brennt jetzt schon. Ich packe meine Sonnencreme aus und schmiere mein Gesicht ein – wenigstens das. Leider ist die kleine Tube schnell leer und ich beglückwünsche mich zu meinem nutzlosen Packen vergangene Nacht.
Vom Bahnhof Florenc gehe ich direkt in die Altstadt. Ich habe nur einen Rucksack dabei, lasse mich mit den Menschen über die Straßen treiben, gehe unter Brücken hindurch, spüre den harten Asphalt unter meinen Füßen. In einer halben Stunde treffe ich mich mit Katja beim Hotel. In Prag ist einfach alles alt – man kann den Blick kaum abwenden. Das liegt daran, dass die Stadt glücklicherweise nie zerstört wurde, von ein paar kleinen Bränden und einem versehentlichen Bombenangriff der Engländer einmal abgesehen. Sie dachten, sie seien über Dresden. Nein, diese Stadt ist alt, hier mischen sich Jugendstilbauten mit kubistischer Architektur, und das gibt dem ganzen einen Jahrhundertwende-Charme. In der Jungmannova schließlich warte ich an die Wand gelehnt und beobachte eine Gruppe junger Männer, die in einem Café frühstücken.
Katja erkenne ich an ihrem etwas planlosen, suchenden Blick, der wohl auch meinem ähnelt. Ehrlich gesagt bin ich mir nicht sicher, ob wir uns schon einmal davor getroffen hatten oder nicht – irgendwann in Amsterdam, als wir beide dort Au Pair waren, sie einige Jahre nach mir. Bei der gleichen Familie, an der gleichen Gracht, im gleichen Haus. Nur die Zimmer wechselten irgendwann. Sollten wir ein wenig die gleiche Person sein, ob wir wollen oder nicht? Wir sind jung, allein in einer großen Stadt unterwegs und umarmen uns, als wären wir schon lange beste Freundinnen. Gemeinsam finden wir Einlass ins Hotel und erhalten an der Rezeption die Schlüssel für unser Apartment. Wir fahren mit einem abenteuerlich gläsernen Aufzug in den fünften Stock, sperren auf – und können unser Glück kaum fassen. Eine fantastische Suite wie aus dem Märchen erwartet uns: ein großer, geräumiger Aufenthaltsraum mit Esstisch, Küche und Sitzcouch in edlem Weinrot. Es gibt zwei helle Bäder, eines mit Wanne, und vier prächtige Zimmer mit mehr Betten als wir brauchen werden.
„Wer zuerst kommt, mahlt zuerst!“, verkündet Katja und bezieht aufgeregt das hinterste Zimmer, ich das davor. Hier würde ich gerne wohnen, denke ich, während ich im Bett versinke: Goldene Vorhänge hängen vor den großen Fenstern, die Möblierung ist in warmen Holztönen gehalten; Blumen stehen in einer Vase auf dem kleinen Sekretär.
Aber natürlich wollen Katja und ich Prag sehen. Vor allem wollen wir auch Kaffee und ein vielleicht ja sogar tschechisches Frühstück, falls es so etwas gibt.
Gibt es! Katja, die letzte Nacht in einem Hostel geschlafen hat, hat dort gute Tipps zu tschechischer Kulinarik bekommen, und so steuern wir zielstrebig ein hübsches Café an, wo wir Cappuccino bekommen und zwei tschechische Gebäckstücke, fluffige Taler, eines mit Käse und eines mit Blaubeeren. Von dort flanieren wir zum Altstädter Ring im Zentrum der Prager Altstadt. Dort ist viel los. Die Menschen stehen staunend vor dem Rathaus und wir gesellen uns dazu. Sie warten ehrfürchtig vor der weltberühmten astronomischen Uhr. Gleich ist es 12 Uhr – und dann wird etwas geschehen. Pünktlich zur vollen Stunde erscheinen in den beiden Fenstern der Uhr die zwölf Apostel. Neben dem Ziffernblatt regen sich plötzlich die Allegorie der Eitelkeit, die der Habsucht, rechts der Sensenmann und neben ihm die Wollust. Als alle Apostel vorüber sind, kräht der goldene Hahn, der über allen thront.
„War’s das?“, fragt Katja, ich nicke, wir machen ein Selfie und spazieren weiter zur Karlsbrücke, die sich prächtig über die Donau schwingt und als Wahrzeichen der Stadt gilt. Durch den Brückenturm strömen wir mit den Leuten auf die im 14. Jahrhundert errichtete Steinbrücke. Der Fluss ist himmelblau; in der Mitte der Brücke spielt ein Quartett älterer Männer, einer singt leise dazu. Ein Paar beginnt zu tanzen, die Umstehenden klatschen. Überall sitzen Künstler und malen. Am Brückengeländer stehen Statuen. Die älteste unter ihnen ist der Heilige Nepomuk. Ihn zu streicheln, soll Glück bringen, erklärt mir Katja. Wir streicheln lieber die Abbildung eines gelockten Hündchens darunter, weil uns das viel sinnvoller erscheint. Auf der anderen Seite finden wir die Treppen – viele Treppen an einem heißen Sommertag, die hoch zu der über tausend Jahre alten Prager Burg führen. Dort schlendern wir über die große Anlage, spitzen in die Kathedrale und bewundern das goldene Schimmern darin, die bunten Fenster.
Der Hunger treibt uns wieder in die Stadt. Wir finden ein hübsches, kleines Restaurant, wo wir uns Kartoffeln und saisonales Gemüse teilen und mit einem Gläschen Weißwein anstoßen. Danach treffen wir in einem Café Radima, die mit ihrem kleinen Sohn gekommen ist. Sie war damals vor mir Au Pair. Wir hatten eine gemeinsame Woche in Amsterdam, in der sie mir die Stadt gezeigt hatte, tapfer mit dem Rad voran, ich etwas unbeholfen hinterher – Fahrräder waren mir damals eher fremd. Nun sitzen wir zu viert hier in Prag, trinken Kaffee und versuchen, diese Jahre zu überbrücken.
Gemeinsam gehen wir zurück zu unserer Unterkunft. Radima und ihr Sohn beziehen das Zimmer neben mir. Und dann kommen auch schon unsere Gastgeber – die Familie, bei der wir alle einmal Au Pair waren: Hajo und Christina, und die Kinder, die jetzt keine Kinder mehr sind. Arian studiert mittlerweile und Lily hat Abitur gemacht. Sie haben zu viert die Suite gegenüber unserer. Mit im Gepäck haben sie außerdem Hanna, das erste Au Pair. Sie waren davor zusammen in Budapest und kamen nun vereint mit dem Zug. Am Abend kommt schließlich Jenny aus Wien angereist und unsere, noch nicht ganz vollständige Truppe, macht sich auf den Weg zum Abendessen. Wir flanieren durch das dunkle Prag zu einem hübschen, kleinen Lokal, das sich auf Pasta spezialisiert hat, und lassen uns dort verwöhnen.
Erst tief in der Nacht trifft Dunja mit ihrer Familie ein. Sie kommen aus der Schweiz und haben die weite Stecke mit dem Auto zurückgelegt. Wir treffen sie in der Au Pair-Suite – die Familie hat ihr eigenes Appartement bezogen. Dunjas Partner Timo trägt das wenige Wochen alte Baby auf dem Arm: Der Kleine ist so entspannt, wie man sich das bei einem Baby nur vorstellen kann, und wir witzeln alle, dass es gar kein echtes Kind sei. Timo erklärt, dass sie bei Amazon den „nicht-schreien-Haken“ gesetzt haben, et voilà! Belustigt sehen wir Arian dabei zu, wie er das Baby hält, das bei ihm seltsam unruhig wird – mehr als gezappelt wird aber nicht. Wie eigenartig, hier in dieser Runde zu sein. Einstmals kleine Kinder nun als Erwachsene zu sehen, mit den Säuglingen ihrer Nannys auf dem Arm.
Es ist schon spät. Nach diversen Drinks verziehen sich alle in ihre Betten – und dort schlafe ich ein wie ein Stein.

Am nächsten Morgen gehen Katja, Jenny, Hanna und ich gemeinsam zum Café Graff auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Dort sitzen schon Hajo, Christina, Radima und ihr Sohn beim Frühstück. Wir setzen uns erholt von einer traumhaften Nacht dazu, bestellen Kaffee und Pancakes mit Blaubeeren. Arian und Lily schlafen, ihrem Alter entsprechend, natürlich aus; auch Dunja und ihre Familie, die den ganzen letzten Tag im Stau standen, treffen wir erst nach dem Frühstück.
Wir sind begierig darauf, die Stadt zu sehen, in unserer illustren Runde gemeinsam loszuziehen und Katja und ich witzeln, dass wir schon alles gesehen hätten. Obwohl es heute heißer ist als gestern, komme ich weniger ins Schwitzen. Vielleicht hat mein Körper sich akklimatisiert, oder ich bin zu abgelenkt von Dunjas Rollstuhlkunststücken auf den Pflastersteinen, die gefühlt die gesamte Altstadt durchzieht. Ich bin nicht nur fasziniert von Dunjas Kraft, mit der sie über den rollstuhlunfreundlichen Boden navigiert, sondern auch von der Ignoranz der Touristenmassen, die wie wir durch die Stadt strömen. Sie sehen Dunja in ihrem Rollstuhl gar nicht, behindern den Flow, den sie mühsam aufbaut, um vorwärtszukommen. Irgendwann gehen Hajo und ich wie zwei Bodyguards vor und schieben die Leute einfach weg, um einen Durchgang zu schaffen. Prag: wunderschön. Leider nicht so rollstuhlfreundlich. Auf der Karlsbrücke liegen die Pflastersteine dichter beieinander; hier rollt es sich besser. Doch danach tun sich wieder Fragezeichen auf: Wie kommen wir eigentlich auf die Burg? Katja und ich hatten gestern natürlich die Treppen genommen – die sind für Dunja keine Option. Zum Glück fährt eine Straßenbahn hoch. Unsere Truppe spaltet sich: die einen fahren, die anderen laufen. Und wieder quäle ich mich die Treppen in der brütenden Mittagshitze hoch, nun rinnt der Schweiß doch. Vorne dran: frische Abiturienten und Studenten, hinten drein: gealterte Au Pairs. Vor dem Palast warten wir ohne Schatten und Hüte auf den Wachwechsel, der uns in seiner veralteten Ritualität erheitert. Erst als die Sonne unerträglich wird, flüchten wir zu Katja in den Schatten. Vor der Kathedrale treffen wir den Rest und essen Eis von einem kleinen Stand. Wie gut und kalt es ist! Im Anschluss gibt es eine kleine Führung, die wenig mit einer Führung im beweglichen Sinne zu tun hat, da wir einfach nur vor der Kathedrale stehen und über historische Eckdaten zur Kathedrale und dem Burgkomplex belehrt werden, unter anderem zum Prager Fenstersturz 1618, der den Beginn des Dreißigjährigen Krieges markierte.
Mit unserem Ticket kommen wir in vier kostenpflichtige Sehenswürdigkeiten der Burganlage. Alle gemeinsam sehen wir uns die Kathedrale an; ich entscheide mich danach noch für die romanische St. Georgs Basilika aus dem Jahr 920, die die zweitälteste Kirche Prags ist. Zuletzt flanieren wir durch das Goldene Gässchen entlang der Innenmauer, wo einst Alchimisten bemüht waren, den Stein der Weisen zu erzeugen. 1916 und 1917 kam auch Franz Kafka hier im Haus des Liebhabers seiner Schwester unter, auf der Suche nach einem Ort, wo er in Ruhe schreiben konnte. Wir spitzen in die kleinen Wohnungen hinein, die noch Einblicke geben in das Leben einstiger Zeiten und uns träumen lassen.
Danach sind wir platt. Unsere Gruppe findet sich in den Gärten vor der Burg wieder, wo wir uns ins erschreckend unnatürlich grüne Gras legen und dösen. Hajo und Timo machen sich danach an die mühevolle Aufgabe, Dunja einen langen Pflastersteinhang hinabzurollen; der Rest der Au Pairs macht sich zusammen mit ihren einstigen Schützlingen noch auf zur Besichtigung der Gärten. Von den königlichen Gärten aus führt ein malerischer Weg hinab in die Stadt. Und auch dann, wenn wir denken, wir hätten schon alles Wichtige gesehen, überrascht uns Prag mit seinem Viertel der Reichen und Schönen, wo prächtige Jugendstilbauten das Auge erfreuen. Ein Auto überfährt ein Taube, die zuckend auf der Straße liegen bleibt. Eine Asiatin rennt bestürzt auf die Straße, hebt das tödlich verletzte Tier auf und trägt es an den Straßenrand. Ihr Begleiter versucht sie fortzuziehen. Ich gucke weg und wir gehen weiter.
Der Tag klingt in einem hübschen, tschechischen Lokal aus, wo wir gut essen, trinken und ausgelassen Spaß haben. Danach sitzen wir noch in der Au Pair Suite, spielen Spiele und tauschen alte Geschichten aus. Es ist spät, die meisten gehen schlafen – nur Katja und Jenny ziehen noch einmal ins nächtliche Prag, um zu feiern.
Unsere damaligen Zöglinge sind am nächsten Morgen verschwunden – sie haben zu zweit einen frühen Zug zurück nach Amsterdam genommen.
Mit Hajo, Christina und Hanna frühstücke ich noch im Café Ippa: Croissant und dazu Cappuccino – was will man mehr?
Nun heißt es Abschied nehmen. Wieder mal fahre ich mit Dunja und Timo mit, die mich auf ihrer weiteren Reise mitnehmen können. Nur jetzt sind wir zu viert – und das ist schön. Ich quetsche mich auf die Rückbank zwischen Dunja und den Kindersitz, in dem ein außergewöhnlich zufriedenes Baby steckt, und alle winken wir aus den Fenstern. Bis bald, bis bald! Da bin ich sicher.
Dann fahren wir los.

 


Es gibt – und nicht bloß in des Himmels Höhen,
Nein, auf der Erde schon – ein Wiedersehen,
Bei dem man halb sich freut und halb erschrickt.


(Christoph August Tiedge)