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Vellmar

Ich war auf der Suche nach einem Weg. Einem Weg nach Vellmar, einer Kleinstadt in Hessen. Vor langer Zeit hatte ich ihn zufällig gefunden und wieder verloren. Ein Weg, der aus Kassel heraus plötzlich in den Wald führt, entlang der Ahne, eines Zuflusses der Fulda. Mehrfach schon hatte ich ihn vergeblich gesucht, doch heute, an einem sonnigen Sonntagabend wollte ich mein Glück erneut versuchen und ihn finden.
„Wenn wir den Weg entdecken, werde ich darüber schreiben“, sagte ich zu Samuel, der aus unerfindlichen Gründen mit mir verloren gehen wollte. Er hatte nichts dabei, keinen Rucksack, kein Wasser, und irgendwie fand ich das gut. Wir liefen also durch Kassel, immer an der Ahne entlang, die der einzige Wegweiser war, den ich hatte. Vorbei am Garten eines Kindergartens, in dem heute keine Kinder spielten, vorbei an seltsam dunklen Käfigen, in denen den Augen verborgene Tiere dumpfe Geräusche von sich gaben, ein Klacken von Krallen vielleicht, ein Gurren, das Ahnen eines Federschweifs.
„Ein Truthahn“, sagte ich und Samuel lachte.
Nach den Käfigen endete der Weg. Die Ahne führte weiter geradeaus.
„Wir müssen rechts gehen“, sagte ich, „das weiß ich noch.“
Samuel schlug vor, links zu gehen, und ich dachte nach kurzem Zögern: Wieso nicht?
„Wenn wir links gehen, können wir näher an der Ahne bleiben. Vielleicht können wir dann irgendwann nach rechts queren!“
Ich fand das unheimlich klug von Samuel.
„Ja, lass uns das Pferd von hinten aufzäumen!“
Außerdem gefiel mir die Idee des Unerwarteten. Ich war mir so sicher gewesen, dass wir hier rechts gehen müssten. Ich war nahezu begierig darauf, nun einen anderen Pfad einzuschlagen.
Wir liefen also die Straße entlang, der Wind war unser Begleiter. Er fuhr durch die Wipfel der Birken am Straßenrand und durch unsere Kleidung. Tatsächlich führte ein Weg nach rechts und wir mussten ja wieder näher zum Bach, der uns zu entgleiten drohte. Wir bogen ab und standen schließlich vor einem verschlossenen Gatter. Daneben stand ein Schild: Pariser Mühle Ebrecht. Getreideprodukte. Tiernahrung. Die Ahne plätscherte nun wieder direkt unter unseren Füßen. Wir betrachteten die verwaisten Gebäude, die Brennnesseln und den roten Mohn, die dort alles erobert hatten. Und kehrten um, weil uns nichts anderes übrigblieb.
Weiter ging es entlang der Straße, neben uns gelbe Felder, dahinter vielversprechend der dunkle Wald, der doch so fern war.
Dann waren wir plötzlich in Vellmar. Da stand das Ortsschild direkt vor unserer Nase. Ich war enttäuscht und froh zugleich. So schnell war man in Vellmar? So schnell war man in Vellmar! Der Wind war noch immer bei uns. Ich zog meine Jacke an und aus und an und aus. Samuel hatte ja nichts dabei als das Hemd, das er trug. Weniger Entscheidungen? Oder Leichtsinn?
Wir schlugen den erstbesten Weg ein, der nach rechts führte. Samuel mutmaßte mittlerweile, dass ich den Weg nur geträumt hatte, und ich räumte ein, dass das durchaus eine Möglichkeit sei. Mir war das ganz egal. Ich hatte das Plätschern der Ahne gehört, das Rauschen des Windes gespürt, Felder und seltsame verlorene Orte gesehen, mit denen ich nicht gerechnet hatte.
Und da erkannte ich den Weg wieder, auf dem wir gingen. Er führte aus Vellmar heraus in eine idyllische Kulturlandschaft: links ein Feld golden wie die Sonne, rechts eines silbern wie die Nuancen zwischen grün und blau. Ich war aufgeregt wie ein kleines Kind, weil ich es wiedererkannte.
„Hier bin ich damals rausgekommen!“ Wir zäumten wirklich das Pferd von hinten auf! Wieder bogen wir nach rechts ab, auf einen kleinen Pfad zwischen den Silberfeldern – und da war die Ahne, von Bäumen gesäumt, und da war eine kleine Brücke, neu gebaut und frisch gestrichen sah sie aus. Wir standen zufrieden davor. Ich hatte doch nicht geträumt! Oder ich träumte gerade und dann war es ein guter Traum, aus dem ich nicht erwachen wollte. Wir schwebten nahezu über die Brücke. Am anderen Ufer ging es bergauf. Ein kleiner Weg, von jungen Bäumen gerahmt, führte uns zu einer Bank, auf der wir Platz nahmen und die Stille der Lichtung in uns aufnahmen.
Noch war es hell. Doch wir fühlten, dass es Zeit war, weiterzugehen. Ich hatte Samuel noch von einem Aussichtspunkt erzählt, von dem aus ich damals die ganze Stadt überblickt hatte. Ich war mir sicher, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Bergauf, immer bergauf. Wir verließen die Lichtung und ließen uns vom Wald verschlucken, hell und sommerlich. Sogleich standen wir vor dem ersten Hindernis: ein großer, umgestürzter Baum lag vor uns. Doch Samuel sah darin kein Hindernis, sondern ein Spaßobjekt. Wie eine Wildkatze hangelte er sich den Stamm hoch und kletterte höher in die Wipfel. Ich sah ihm neugierig zu. Ob er fallen würde? Er fiel nicht, sondern sprang am Ende wieder behände vor mir auf den Boden. Ich kletterte einfach unter dem gefallenen Stamm hindurch.
Und da war auch schon das Ende des Waldes – und ein kleines Stück Weg weiter oben die Wiese, von der aus wir Kassel überblicken konnten. Wir setzten uns, blickten töricht in die Abendsonne und sprachen über Gott und die Welt. Wie die Zeit verflog! Wie das Licht durch die Wolken brach. Hinter dem sonnenbeschienenen Aussichtsplatz lag eine Art Hain, der uns düster erschien, als sei dort etwas Schlechtes passiert. Wir wandten uns ab, zu einem Spielplatz direkt daneben, fuhren schwerelos auf der Seilbahn und vergaßen uns selbst. Wenigstens eine kurze Zeit.
Wir gingen bergab, und das hieß wohl nach Hause. Samuel wollte zurück in den Wald und von dort gen Kassel queren. Wieder versperrte uns ein mächtiger Baum den Weg. Er hatte gar ein einstiges Treppengeländer unter sich begraben. Es wurde richtig abenteuerlich. Samuel balancierte voraus, ich hinterher, kratzte mir mein Bein an einem spitzen Ast auf, und wählte nach dem ersten hoch gelegenen Stamm den bodennahen Weg durchs dichte Gestrüpp, schlängelte und quetschte mich durchs Geäst. Samuel erwartete mich auf der anderen Seite. Unser Gefühl sagte uns, dass wir uns eigentlich links halten sollten. Doch ein verheißungsvoll matschiger Pfad führte bergab ins Nirgendwo, und wir schlitterten ihn natürlich herunter, um wieder auf die Ahne zu blicken. Mir war klar, dass ich diesen Weg nicht mehr hochkommen würde. Also schlitterten wir endgültig zum Bachlauf herunter. Von hier sahen wir den Weg, der uns aus Vellmar geführt hatte. Also wateten wir durch den tiefen Schlamm der Ahne an dieser Stelle, versanken fast knietief, die Turnschuhe in unseren Händen.
„Andere zahlen für so etwas“, lachte ich.
Wir balancierten über die steinerne Kante eines kleinen Wasserfalls, wuschen unsere Füße und Beine in etwas klarerem Wasser, und spazierten barfuß am Feld entlang zurück zum Weg.
Ich fühlte mich wie neugeboren.
Wir hatten den Weg gefunden, den Weg aus meinen Träumen, den Traum eines Weges. Er führte uns zurück nach Hause, woher wir gekommen waren.

Vellmar – wer hätte es gedacht?

 


Ich bin mir selbst ein unbekanntes Land
und jedes Jahr entdeck ich neue Stege.
Bald wandr´ ich hin durch meilenweiten Sand
und bald durch blütenquellende Gehege.
So oft mein Ziel im Dunkel mir entschwand,
verriet ein neuer Stern mir neue Wege.

(Christian Morgenstern)