Ina wartet in der Sonne unter dem Magnolienbaum. Grinsend steige ich aus der kleinen Bimmelbahn aus, Bad Bergzabern heißt der Ort hier, und laufe auf sie zu. Ein Kuss auf die Wange, eine
Umarmung, die viel zu lange auf sich warten ließ. Wir steigen in ihr kleines, altes Auto und tuckern los. Die Straßen sind kurvig, der Wald und die Wiesen um uns bergig und voller Tiere. Überall
weiden Schafe, Ziegen, Pferde und Kühe; ich freue mich darüber wie ein kleines Kind, und ebenso über die Sonne.
„Du hast sie mitgebracht“, sagt Ina, aber ich denke, die Sonne hat hier gewartet. Nur auf mich.
Ina wohnt nun seit Oktober in einem kleinen Dorf namens Nothweiler mitten im Pfälzerwald, nahe an der französischen Grenze. Während wir im Auto sitzen, erzählt sie, wie sie vor einigen Monaten
hier mit ihrem Freund entlanggefahren war, auf der Suche nach einem Ort, in dem sie leben könne. Abgeschieden, naturnah, still. Und während sie diese Strecke entlangfuhren, so, wie wir nun auch,
wurde es immer schöner und schöner, bis sie um eine Kurve bogen, und da lag es: Nothweiler. Ein Zufluchtsort in der Not?
Das kleine Dorf liegt idyllisch ins Tal gebettet, umgeben von hügeligem Weideland und schließlich Wald. Ina wohnt gleich im Dorfkern, neben dem Brunnen, dessen Wasser man trinken kann. Wir laden
meine Sachen bei ihr in der Wohnung ab und Ina erklärt mir, dass ihr Freund Kai hier sei, heute aber einen Schweigetag mache, wir also nicht mit ihm reden sollten. Kai und Ina üben sich beide in
buddhistischer Meditation und Zurückgezogenheit. Generell schweigen sie beide immer bis zehn Uhr morgens.
Keine Spur von Kai in der Wohnung. Ist auch egal. Die Sonne scheint so wunderbar, alles blüht und wächst, dass wir uns Wanderschuhe anziehen und das Haus verlassen. Ein kleiner Weg führt bergan,
vorbei an den alten Fachwerkhäusern des Ortes, entlang einer Wiese hinein in den Wald. Doch ehe wir ihn betreten können, rast jemand auf einem schwarzen E-Bike an uns vorbei: Kai.
„Der braust hier immer durch die Gegend“, lacht Ina und dann gehen wir in den Wald. Wir wandern steil bergauf;schnell wird uns warm. Wir öffnen die Jacken, trinken Wasser, halten uns an der Hand
und umarmen Bäume. Das Moos auf den Felsen leuchtet grün, die Sonne blitzt zwischen den hohen Stämmen hindurch. Hinauf und immer weiter hinauf – dann haben wir die Wegelnburg erreicht. Wie ein
Schiff aus buntem Sandstein ragt sie in den blauen Himmel, heute nur noch eine Ruine. Von oben überblicken wir das weite Land. Auf jedem Berg, auf jedem Hügel steht das Überbleibsel einer
einstigen Burg – wir könnten hier den ganzen Tag von Ruine zu Ruine wandern! Und überall so viel Wald, auch wenn er flächenweise abgestorben ist. Das ist nun leider keine Überraschung mehr, ich
weiß nicht, ob es noch Wälder gibt, die weniger tot wirken.
Von der Wegelnburg laufen wir zur Hohenburg – und überschreiten damit die Grenze von Deutschland zu Frankreich. Sogleich werden wir auch von jungen Wanderern freundlich mit „Bon jour“ begrüßt.
Wir tollen in den pittoresken Mauerresten umher, erklimmen Treppen, die ins Nirgendwo führen, und steigen dann wieder hinab, zum Maidenbrunnen, auf deutschem Grund. Ina ist froh, dass das Wasser
fließt. Ein gutes Zeichen. Ich werde langsam müde. Mein letztes Mahl, ein Schokowuppi vom Kasseler Bahnhof um sieben Uhr morgen, ist schon lange her und war nicht gerade reichhaltig. Dennoch
gehen wir weiter, ignorieren eine Absperrung, weisen eine wandernde Familie hoffentlich in die richtige Richtung, und klettern dann auf rotsteiniges Felsenplateau. Die weißen Wurzeln eines Baumes
verlaufen unter unseren Füßen und ich kann den Blick nicht abwenden. Ich sauge tief die frische Luft ein, sehe in die Ferne zu den blauen Bergketten am Horizont.
Dann schließen wir die Runde. Nun geht es bergab, fast hüpfend. Auch Ina ist hungrig. Zuhause bei ihr kochen wir: Reis mit Paprika und Karotten, dazu Avocado und Hummus. Ich finde es
hervorragend, die Geschmäcker so klar – bestimmt kommt das auch von unserer erfrischenden Wanderung.
Am Abend meditieren wir. Ich merke, dass mein Atem nicht so frei geht, wie ich mir das wünsche, und nachts, wer hätte es gedacht, schnarche ich wohl auch. Ina kann trotzdem schlafen.
Während Ina und Kai um sechs Uhr aufstehen, um zu meditieren und anschließend zu walken, schlafe ich bis zehn Uhr – und das tut gut. Als ich aufstehe, ist Ina schon dabei, Haferbrei und Kaffee zu
kochen. Wir tauschen Märchen zum Thema Brei aus und auch Kai gesellt sich nun zu uns. Kai wollte buddhistischer Mönch werden und lernte dann Ina im Kloster kennen.
„Und da hat der Mund plötzlich ganz von alleine hallo gesagt“, erzählt er und ich muss lachen. Eine schöne Geschichte! Ich finde es spannend, wie die beiden leben, zusammen, und doch jeder für
sich. Und vielleicht ist ja jede Beziehung am Ende so.
Ina und ich jedenfalls haben für heute ein Gegenprogramm zu unserer gestrigen Waldwanderung geplant. Wir fahren nach Weißenburg in Frankreich – eine kleine Stadt, von der mir schon Agnes erzählt
hat, die sich dort kirchentechnisch umgesehen hat. Wir fahren keine halbe Stunde und wieder kann ich mich an der blühenden Landschaft gar nicht sattsehen. Das Elsass durfte ich ja auch mit Agnes
schon bereisen; nun kehre ich also zurück und denke, ich sollte bleiben. So wie Ina. Einfach einen Ort suchen, der so wundervoll klein und versteckt und heimelig anmutet wie Nothweiler.
Doch ich weiß, dass ich auch die Städte mag. Und so ist Weißenburg das perfekte Ziel für unseren Tagesausflug. Wir flanieren bei bestem Frühlingswetter durch die pittoreske Altstadt, sitzen
gemütlich beim plätschernden Brunnen und riechen dem Duft der Blumen nach, die hier gepflanzt sind. Auch vor der gotischen Kirche St. Peter und Paul blüht eine Magnolie. Wie herrlich still es
innen ist. Von einer CD wird leise Orgelmusik gespielt, eine Frau sitzt betend in der ersten Reihe, und wir schleichen flüsternd von einer Ecke in die nächste und sehen uns alles sehr genau an.
Dabei gebe ich meine stümperhaften Architekturweisheiten zum Besten und beglückwünsche mich innerlich, dass Agnes nicht hier ist, um mich zu verbessern. Oft liege ich aber gar nicht so falsch,
was mich mit einem gewissen Stolz erfüllt.
Von St. Peter und Paul laufen Ina und ich zum Pfisterturm, der im 15. Jahrhundert gebaut wurde, um den Durchgang zwischen der Stadt und dem Vorort Bruch zu kontrollieren. Wir überqueren einen
kleinen Bach und gelangen zur Bruch-Nordmauer aus dem 14. Jahrhundert. Eine kleine, verwunschene Treppe führt uns hinauf auf den Wall, der zu unserer Linken den ehemaligen Stadtgraben offenbart,
zu unserer rechten die roten Dächer der Stadt. Ein feiner Nieselregen setzt ein, den wir freudig begrüßen. Doch wieder überkommt uns die Erschöpfung, wir kehren in die Stadt zurück und kehren in
der Patisserie Daniel Rebert ein, wo wir zwei köstliche Quiches verspeisen und uns zum Abschluss einen Traum aus Schokolade, Kirsche und fluffig leichter Creme teilen, der wie Butter auf der
Zunge zergeht.
Abschließend laufen wir noch zu Inas Boulangerie des Vertrauens. Auf dem Dach sitzt eine weiße Katze und putzt genüsslich ihr Fell. Wir sehen uns die Waren nur von außen an, weil wir so satt
sind, und gehen stattdessen noch in einen Käseladen, wo wir uns beraten lassen, welcher Käse wohl zu einem süßen, weißen Wein passen könnte. Wir entscheiden uns nach reichhaltigen Kostproben für
einen würzigen Comté. Schweren Herzens verlassen wir dann das wunderschöne Wissembourg – aber sicher werde ich wiederkommen.
Mein letzter Tag in Nothweiler ist wiederum ein Gegensatz zum idyllischen Wissembourg. Ina hat einen Termin in Pirmasens, zu dem ich sie begleite. Schon auf der Fahrt erzählt sie mir, dass
Pirmasens so eine trostlose, arme Stadt ist, das dunkle Gegenstück zum sonnigen Weißenburg. Doch wir haben Glück. Gar so schlimm ist es nicht, auch wenn die Stadt sicher nichts von französischem
Charme zu bieten hat. Doch Inas Termin verläuft so gut, dass sie danach wie beschwingt ist. Von Pirmasens fahren wir zurück nach Nothweiler und machen unterwegs noch einen Halt in Dahn, wo wir
uns im Bioladen eindecken und dann noch einen Weinhändler aufsuchen. Zwei Pfälzerweine nehmen wir mit – ein kleines Souvenir, ein kleines Andenken an die schöne Zeit hier für mich. Ich bin wieder
vollkommen unterzuckert, als wir bei Ina ankommen. Sie kocht für mich und danach gehen wir raus. Eine kleine Runde nur, Inas Hausrunde. Sie führt an der Pferdekoppel vorbei, wo wir den Tieren gut
zurufen, die heute eingekleidet sind, weil es geregnet hat, und dann in den Wald. An einem Ast hängt ein silbernes Band, das ich verheißungsvoll finde, und auch eine alte, verfallene Hütte steht
dort.
„Da könnte ich einziehen“, scherze ich, und Ina verspricht, mir dann immer Kuchen und Wein zu bringen, wenn nicht gerade der Wolf zu Besuch bei mir sei.
Noch lange sitzen wir unter einem großen, ausladenden Baum und schwelgen in Erinnerungen. So lange kennen wir uns nun schon, so vieles haben wir schon erlebt. Ina erzählt von unserem ersten
Treffen, das auch im Wald war. Ich habe daran keine Erinnerung mehr, doch Ina merkt sich alles. Ihr zuzuhören ist wie eine Reise in die Vergangenheit.
Am Abend dann trinken wir den süßen weißen Wein und essen den würzigen Comté.
Am letzten Tag im März bringt Ina mich wieder nach Bad Bergzabern, wo ich die kleine Bimmelbahn zurück in die Welt nehme. Aber sicher werde ich wiederkommen, sicher.
„Überhaupt aber kann jeder im vollkommensten Einklange nur mit sich selbst stehen; nicht mit seinem Freunde, nicht mit seiner Geliebten: denn die Unterschiede der Individualität und Stimmung
führen allemal eine, wenn auch geringe, Dissonanz herbei: Daher ist der wahre, tiefe Friede des Herzens und die vollkommene Gemütsruhe, dieses, nächst der Gesundheit, höchste irdische Gut, allein
in der Einsamkeit zu finden und als dauernde Stimmung nur in der tiefsten Zurückgezogenheit.“
(Arthur Schopenhauer)