Um neun Uhr morgens fährt mein Zug in Weimar ein. Bea kommt erst in zwei Stunden. Der Bahnhof ist klein. Ich gehe die Treppen hinab und halte Ausschau nach einem hübschen Café, vielleicht direkt
im Bahnhof, wo ich warten und etwas arbeiten könnte. Aber es gibt nur einen trostlosen Bäcker, der mich nicht gerade anlacht. Verwirrt kaufe ich dort ein Croissant, nur um dann doch nicht dort
Platz zu nehmen, und in die Stadt zu laufen. Der Bahnhof ist ein gutes Stück vom Zentrum entfernt, doch der Weg ist einfach. Immer geradeaus, da kann nichts schief gehen. Der Morgen ist schön.
Klar, kühl, trocken. Es ist wenig los auf den Straßen Weimars. Ich gehe gerne auf diesen breiten, leeren, schönen Straßen, bis ich bei der großen Statue von Goethe und Schiller ankomme. Ich stehe
davor, sehe sie mir an, und dann suche ich weiter nach einem Café. Meine verwirrte Phase dauert weiter an. Ich lande in der Backfactory. Zum Glück vergeht die Zeit schnell. Schon stehe ich wieder
auf, laufe zurück zum Bahnhof – und da steigt Bea aus ihrem Zug.
Wir fallen uns um den Hals, halten uns fest. Eigentlich ist es gar nicht so lange her, dass wir uns zuletzt gesehen haben, aber irgendwie fühlt es sich so an. Plötzlich klar im Kopf und
beschwingten Fußes machen wir uns wieder auf den Weg in die Altstadt. Bea hat einen Monat im Weimar gelebt, sie kennt sich hier aus. Ich dagegen war hier zuletzt vor 15 Jahren und fühle mich
deswegen schon erstaunlich alt.
Wir steuern sofort ein Lokal für ein Mittagessen an. Bea hat gute Erfahrungen mit einer Brotmanufaktur am Frauenplan gemacht, der Brotklappe. Dort sitzen wir gemütlich, essen unsere sehr
schmackhaften Stullen, trinken Kaffee und tauschen uns aus über alles, was passiert ist, während hinter einer Glasscheibe die Brotbäcker zu sehen sind, die Teig kneten und weißen Mehlstaub durch
die Luft wirbeln. Danach gehen wir bei bestem Herbstwetter zu Goethes Wohnhaus, das heute ein Museum ist. „Des Menschen Wohnung ist sein halbes Leben“, schreibt Goethe und deswegen sind wir wohl
hier. Fast 50 Jahre hat Goethe in dem Haus am Frauenplan gewohnt. Die Räume geben Einblick in sein Leben, in das 18. und 19. Jahrhundert generell. Überall stehen Statuen und Büsten, die Goethe so
eifrig gesammelt hat. Ein schwarzer Hund erwartet uns im Flur, kopflose, weiße Torsos und körperlose, weiße Köpfe in einem blauen Raum. Wir sehen sie uns genau an, auch die Gemälde, die an den
Wänden hängen und Goethes zahlreiche Bekanntschaften zeigen oder ihn selbst, goldgerahmt. Am spannendsten ist wohl das gut erhaltene Arbeitszimmer mit Goethes Privatbibliothek – diese allerdings
ist gerade zu Renovierungszwecken entwendet, was uns sehr betrübt. Wir wandeln durch den grünen Garten, blicken von dort auf das gelbe Haus, die roten Ziegel, den blauen Himmel. Alles ist hier so
klar.
In ihrem Umfang kaum zu fassen ist die im Museumspreis enthaltene Ausstellung zu Goethe, die versucht, sein ungemein produktives Leben und Schaffen zu fassen – und das beinhaltet auch die
unzähligen Dinge, die Goethe zu Lebzeiten gesammelt hat, aus persönlichem und wissenschaftlichem Interesse. Mir wird vor allem ein kleiner Junge in Erinnerung bleiben, der da zwischen all diesen
Bildern und Sammlungsstücken steht. Seine Mutter geht auf ihn zu und sagt: „Ich wäre durch. Und du?“ Und er schüttelt den Kopf und erwidert: „Da geht es doch noch weiter.“ Vielleicht ist er sogar
ausdauernder als Bea und ich. Auch uns raucht der Kopf ein wenig nach all diesen Eindrücken – und da bietet sich nichts mehr an, als ein Spaziergang in schönster Mittagssonne und Herbstpracht
durch den Park an der Ilm, ein Landschaftsgarten am Rand der Altstadt. Wir saugen die frische Luft in uns ein, die Sonne, die Farben der Bäume, spazieren über eine hübsche Brücke und vorbei an
Goethes berühmtem Gartenhaus, das Beas Lieblingsort in Weimar ist. Danach gehen wir in die Anna Amalia Bibliothek. Im Rokokosaal können wir uns verlieren. Ehrfürchtig schreiten wir in den
riesigen, grauen Pantoffeln durch die Regale von alten, ehrwürdigen Büchern. Ich würde gerne auf eine der Leitern steigen, um ein Buch aus einer der obersten Reihen zu ziehen und hineinzuspitzen.
Aber das geht leider nicht. Wir müssen uns sattsehen. Entsetzt sind wir von ein paar gigantisch großen Büsten von Goethes Kopf, die ihn wie Frankensteins Monster aussehen lassen. Schnell
weiter!
Für den Nachmittag empfiehlt sich nach derart kulturell befriedigendem Programm ein Besuch in der Kuchenmanufaktur Weimar, wo wir Glückspilze den letzten Platz im Innenraum ergattern, denn
mittlerweile ist es draußen doch recht kalt geworden. Wir teilen uns zwei Stücke Kuchen, einmal Schokolade, einmal Käse. Herrlich! Und dann ist es auch schon Abend. Zum Glück haben wir in einem
kleinen Restaurant, einer Crêperie Plätze reserviert. Dort bestellen wir Galettes und trockenen Cidre, der uns in Tassen serviert wird. Und danach? Danach gehen wir ins Kino, Arthouse, und lassen
uns vom Programm überraschen. In einer großen Halle zeigen sie Triangle of Sadness und uns gefällt es, uns einfach mal treiben zu lassen. An einigen Stellen ist der Film uns etwas zu bunt, im
Großen und Ganzen aber durchaus unterhaltsam – psychologisch interessant und unterlegt von einer bitterbösen Spur Sarkasmus.
Nachts ist es ganz schön kalt, stellen wir fröstelnd fest. Dennoch tut es gut, nach dem Film noch ein Stück zu laufen, um die teils sehr drastischen Bilder aus den Köpfen zu bekommen. Wir haben
ein Zimmer im Leonardo gebucht, das groß und einladend ist. Dort fallen wir in unsere Betten und sind schon bald eingeschlafen.
Am nächsten Morgen checken wir aus und gehen in einem hübschen Café mit dem klangvollen Namen Wünsch Dir Was frühstücken. Neben einem Frühstück wollen wir uns dort auch etwas anderes, Geheimes
wünschen. Doch der Frühstückswunsch gestaltet sich schon schwieriger als erwartet. Wir haben uns beide für das Pancake-Frühstück entschieden, doch als wir das der Bedienung mitteilen, erklärt sie
mit eiserner Miene: „Na das freut mich jetzt nicht. Und den Koch auch nicht!“ Ich denke, das muss ein Scherz sein und frage naiv nach: „Warum?“ Zur Antwort: „Das dauert so lange.“ Dann rauscht
sie ab und lässt Bea und mich leicht überfordert zurück. Während wir auf unser Frühstück warten, wünschen wir unseren geheimen Wunsch.
„Was wünschst du dir?“, fragt Bea.
„Das darf ich nicht sagen“, sage ich.
„Ich wünsche mir das Gleiche“, sagt Bea und wir wissen genau, was das ist.
Dann kommt das Frühstück – und es hat weder lange gedauert noch schmeckt es schlecht. Ganz im Gegenteil! Wir genießen es über die Maßen, geben dann aus Versehen noch ein viel zu großzügiges
Trinkgeld und verlassen das Café.
Bei herrlichstem Wetter spazieren wir zu Goethes Gartenhaus, das einfach so viel schöner ist als sein Anwesen am Frauenplatz. Wir wären beide dort eingezogen, so viel steht fest! Wir laufen
andächtig durch die hübschen Räume, in denen Goethe unter anderem den „Erlkönig“ und sein Gedicht „An den Mond“ geschrieben hat. Viele originale Möbel finden sich, besonders fasziniert mich der
„Sitzbock“, auf dem Goethe breitbeinig zur Entspannung des Rückens gesessen haben muss – wie auf dem Rücken eines Pferdes.
Ein wenig Zeit bleibt uns noch, ehe mein Zug fährt: gerade genug, um auch Schillers gelbes Wohnhaus noch zu besichtigen, wo er die letzten drei Jahre seines Lebens verbrachte und seine Dramen
„Die Braut von Messina“ und den „Wilhelm Tell“ schrieb. 1805 dann starb er in seinem Arbeitszimmer. Bea und ich stehen vor seinem originalen Schreibtisch, dem originalen Bett. Wir beide haben
erschreckend wenig von Schiller gelesen – eigentlich nur ein paar Balladen. Das sollten wir ändern.
Und dann? Dann verschlingen wir noch eine warme Suppe, denn das ist das beste Mittagsessen an diesen kühlen Herbsttagen, und unsere Wege trennen sich. Bea flaniert noch einmal in die Stadt
hinein, in der sie immerhin einige Zeit gelebt hat, und ich gehe zum Bahnhof, wo bald schon mein Zug ankommt, und steige ein.
Weimar für ein Wochenende – wir können es nur empfehlen!
Bleibe nicht am Boden heften,
Frisch gewagt und frisch hinaus!
Kopf und Arm mit heitern Kräften,
Überall sind sie zu Haus;
Wo wir uns der Sonne freuen,
Sind wir jede Sorge los.
Daß wir uns in ihr zerstreuen,
Darum ist die Welt so groß.
(Johann Wolfgang von Goethe)