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Helsinki

Kaum, dass wir auf dem Meer sind, spüre ich, wie sich eine große Ruhe in mir einstellt. Die Müdigkeit der letzten Tage überkommt mich. Es ist schon spät, tiefschwarze Nacht, als das Schiff sich in Bewegung setzt. Das Schaukeln, nur ganz leicht, wiegt Ronja und mich sanft in den Schlaf.
Und welch ein Erlebnis, diese Überfahrt. Um 2:45 Uhr starten wir in Travemünde, am nächsten Morgen gibt es Brunch mit Blick auf den weiten Ozean, und am Nachmittag lesen wir, schreiben wir, spielen „Das verrückte Labyrinth“ mit Blick auf den Ozean. Wir haben kein Internet und keinen Empfang und das ist einfach herrlich. Wir erkunden das Deck, wo die Sonne uns blendet und der Wind fast davon weht. Wir kichern beim reichhaltigen Abendbuffet, weil wir solche Glückspilze sind, dass wir es uns leisten können, hier zu sein, mit der Fähre diese weite Strecke bis nach Helsinki zurückzulegen. Noch ein letztes Frühstück an Bord und schon sehen wir gleich nach dem Sonnenaufgang die ersten Stück Land. Schwarze Felsketten, mit Nadelwald bewachsen. Unser Schiff legt an, draußen ist es sonnig, aber auch kalt. Perfektes Wetter. Ein Shuttle Bus fährt uns zu einer Bushaltestelle. Wir haben uns diesbezüglich nicht informiert, steigen einfach ein, der Busfahrer nimmt uns kostenlos mit, weil wir kein Ticket haben, und fahren bis zur nächsten Metrostelle. Von dort bringt eine U-Bahn uns ins Zentrum. Wir trinken Tee in einem hübschen Café, warten, bis unser Airbnb frei ist. Die Schlüsselgewinnung ist etwas abenteuerlich, doch schließlich sind wir in der Wohnung und könnten glücklicher nicht sein. Alles ist sehr schön eingerichtet, es ist warm und wir haben einen Balkon mit Blick aufs Meer. Einen kurzen Moment setzen wir uns in die Sonne, genießen ihre Strahlen – doch eigentlich zieht es uns sogleich in die Stadt. Also brechen wir auf. Laufen am Wasser entlang ins Zentrum und steuern zuerst den Dom zu Helsinki an, einen schneeweißen, hoch erhobenen klassizistischen Tempel. Das Zentrum Helsinkis, wie wir feststellen, ist überschaubar und an diesem ersten Tag schon sehen wir so viel und so vieles, das uns gut gefällt. Der Dom, der Sandwich Club, die Markthalle, wo all die seltsamen Gebäckstücke ausliegen, die wir nicht kennen, das Meer, immer wieder das Meer, Schiffe, die Kathedrale, rot und ihre Decke innen mit Sternen bemalt, von denen ich den Blick nicht wenden kann, und schließlich – ach! Die Bibliothek. Finnlands Nationalbibliothek, gleich neben dem Dom, ist Besuchern zugänglich, und als Ronja und ich eintreten, ist uns sofort klar, dass wir hier richtig sind. Ein ganzer Saal voller alter Bücher umgibt uns, mit mehreren Stockwerken, Balustraden und einer prächtigen Kuppeldecke. Erstaunlich viel deutsche Literatur steht überall, Schiller, Schopenhauer, Nietzsche, sogar Albert Einstein. Aber auch finnische Literatur, englische, einfach alles. Und dieser Saal ist natürlich nur der Anfang. In den angrenzenden Räumen, ebenso schön und prächtig, sitzen Menschen und arbeiten, lesen, vor lichtdurchfluteten Fenstern, und alles scheint so friedlich.

Suomenlinna – die Finnenburg. So heißt eine der zahlreichen Inseln, die vor Helsinki liegen. Zur Suomenlinna fahren wir heute, und zwar mit der Fähre. Der Tag ist ein wenig bewölkt und kalt, nicht so sonnig wie gestern, weshalb wir die Hinfahrt übers Wasser unter Deck verbringen. An Land informieren wir uns im Infocenter über die Insel. Wir folgen der empfohlenen blauen Route, die uns einmal längs über das Eiland führen soll. Ein wenig fühlen wir uns wie in einem Computerspiel. Es nieselt. Überall stehen verlassene Gebäude. Wir suchen etwas verloren unseren Weg, die ominöse blaue Route. Irgendwann steht plötzlich eine uralte Frau mitten auf dem Pfad, den wir passieren wollen, stützt sich auf ihren Stock und starrt uns an, als könnten wir nicht vorbei. Eine Hexe? Ronja und ich wagen uns tapfer an ihr vorbei, wir sind schließlich die Protagonistinnen in unserem eigenen Spiel. Und dann plötzlich kommt die Sonne. Es wird so warm, dass wir Jacken und Mützen ausziehen. Wir überqueren eine kleine Brücke. Am Himmel findet ein wahres Spektakel statt: Die gleißende Sonne erscheint über einem verwaschenen Wolkenberg. Das Meer um uns reflektiert diesen glühenden Ball, alles glitzert und schimmert wie verzaubert. Wir gehen weiter, steigen einen kleinen Hügel hinauf. Und nun sehen wir das Meer, das offene, wie es weit und klar vor uns liegt. Wir haben das hintere Ende der Insel erreicht. Überall kann man ans Ufer hinabgehen und Ronja und ich setzen uns auf eine warme Felsenbucht, sehen zwei weißen Schwänen bei ihrem Rundgang zu und genießen die Sonne und das weite, blaue Meer. Wir können unser Glück nicht fassen.  

Dritter Tag – und ich kann jetzt schon nicht genug von dieser Stadt am Meer bekommen. Ronja und ich schlafen aus. Frühstücken gemütlich und machen uns dann auf den Weg. Heute wollen wir Eina treffen, eine Freundin von Ronja aus ihrer Zeit in Australien. Sie ist Finnin, wohnt, seit sie klein ist, in Helsinki und ist damit der perfekte Tour Guide für uns. Wir treffen sie in einem Café. Eina trinkt Kaffee und erklärt uns, dass die Finnen bis zu fünf Tassen am Tag trinken und damit mit den höchsten Kaffeekonsum in Europa haben. Ich finde das sehr sympathisch, so wie die Finnen generell. Sie und Ronja haben sich seit Jahren nicht mehr gesehen, zuletzt eben in Australien bei einer gemeinsamen Reise. Jetzt studiert Eina Malerei. Sie liebt Helsinki, spricht schwärmerisch von der Stadt und führt uns bald zu ihren liebsten Orten. Wir sehen uns zuerst die Johanniskirche aus dem 19. Jahrhundert an. Eigentlich wollen wir sie gerne von innen besichtigen, doch heute findet dort eine Hochzeit statt, so dass das nicht geht. Macht nichts. Eina fotografiert Ronja und mich vor der Kirche und durchs Bild läuft eine junge Frau in wehend blauem Kleid, die zu spät zur Hochzeit kommt. Danach nehmen wir die Straßenbahn. Wir passieren eine Demonstration. Menschen halten die iranische Flagge hoch, ihre Gesichter ernst und bewegt. Ein Polizeiwagen fährt ihnen voraus, dahinter die Presse, die eifrig fotografiert. Eine Welle der Traurigkeit überkommt mich, wie immer bei dem Thema. Ich fühle mich hilflos, was ich ja auch bin. Immerhin hat ein Freund mir letzthin ein Programm auf dem Laptop installiert, über das iranische Frauen auf mein Internet zugreifen können.
Dann sind wir da: beim finnischen Nationalmuseum. Eini verweist auf die Baum- und Tiergravuren am romantischen Bau, dann treten wir ein und bewundern die Kuppeldecke, die Szenen der Kalevala, des finnischen Nationalepos zeigen. Ich bin begeistert, wie Eini uns diese Geschichten hier mündlich nacherzählt, Geschichten, die ursprünglich gesungen wurden und viel später erst verschriftlicht.
Danach schmökern wir uns durch den Arcadia, einen Buchladen, der auf zwei Etagen die schönsten antiquarischen Bücher verkauft, die man sich nur vorstellen kann. Sprachen aller Welt sind vertreten, verschiedenste Genres und sogar Musiknoten. Ronja kauft eine seltene Ausgabe vom letzten Einhorn, zu der ich ihr herzlich gratuliere, Eina einen Band über den Impressionismus. Ich bin überfordert von der großen Auswahl und nehme ausnahmsweise nichts mit.
Zuletzt zeigt Eina uns die Felsenkirche. Eina hat früher Oboe studiert und hier einmal gespielt. Jetzt sitzt eine ältere Frau mit einem grauen Pferdeschwanz und in einem violetten Blazer vorne am Klavier und stimmt das Instrument voller konzentrierter Hingabe. Wir setzen uns auf die Empore und ich lasse den Blick über die Orgel schweifen, die Felsenwände, den kargen Altar und die hypnotisierende Decke über uns, die aus einer gigantischen Kupferspirale besteht. Das eintönige Stimmen des Klaviers versetzt mich zusätzlich in Trance. Ich sitze einfach nur da und werde still. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Eina einen Block auspackt und mit schnellen, konzisen Bewegungen mit Bleistift Porträts malt, von einem Mann, von der Pianistin, von mir (oder ist es Ronja?). Lange sitzen wir da zu dritt, ich lausche dem Gespräch eines niederländischen Paares neben mir und beobachte ein kleines Kind, das lustig zum Altar wackelt, dann vom Vater weggetragen wird, um einen neuen Versuch zu starten.
Wir verlassen die Kirche und Eina verabschiedet sich, weil sie noch arbeiten muss.
Ronja und ich fahren mit der Straßenbahn zum Botanischen Garten Kaisaniemi. Es ist kurz vor 18 Uhr, und der Himmel ist leicht rosa gefärbt, die Wolken fast ein wenig golden. Im Garten gehen die Lichter der Laternen an, es ist wunderbar romantisch. Das gläserne Gewächshaus reflektiert die Farben des Himmels und in den Teichen spiegeln sich die prächtigen Herbstbäume.

So viele Inseln liegen vor Helsinkis Küste. Ronja und ich entscheiden uns, heute nach Seurasaari zu fahren. Ronja findet auf Google Maps ein Café am Meer. Dort, mit Blick auf Strand und Wasser und das Land voll Nadelwald dahinter, trinken wir unseren Kaffee und essen finnisches Gebäck. Danach nehmen wir den Bus zur Insel. Er hält vor einer kleinen, weißen Brücke, die den Übergang zur Insel darstellt. Enten, Gänse und Schwäne bevölkern das Wasser. Wir schauen ihrem Treiben zu und umrunden zu Fuß die Insel. Das Wetter ist wieder herrlich. Am Wasser, ohne den Schutz des Waldes pfeift uns ein kalter Wind um die Ohren, doch die Sonne scheint warm und hell. Wir streifen durch den herbstlichen Wald, vorbei an Seen und Sümpfen, Tümpeln und alten Holzhütten aus dem 19. Jahrhundert. Wir klettern nah am Wasser auf die Felsen, sitzen dort einfach und sonnen uns. Wir beobachten Eichhörnchen, wie sie hin- und her wuseln. Sie sind erstaunlich zutraulich. Eines rennt uns direkt vor die Füße und sieht uns erwartungsvoll an.

Wir wachen zu einem glühend orangeroten Sonnenaufgang über dem Meer vor unserem Fenster auf. Beim Supermarkt holen wir Gebäck, kochen Kaffee und hören entspannte Morgenmusik zu unserem Frühstück. Dann nehmen wir den Bus Richtung Lammassaari, einer Insel, die unter Vogelfreunden bekannt und beliebt ist. Die Stadt Helsinki empfiehlt die Gegend auch als Erholungsgebiet zum Wandern. Genau deshalb sind wir da. Der Morgen ist herrlich. Die Sonne leuchtet hell und klar am Himmel, doch Raureif bedeckt den Boden. Wir laufen zuerst durch einen lichten Birkenwald. Die Bäume werfen lange Schatten wie wir selbst auch. Dann führt ein Holzsteg mitten durch ein einsames Ährenfeld. Wir laufen vorsichtig und gleichzeitig befreit auf den gefrorenen Holzbrettern, müssen immer wieder lachen, wenn ein Brett plötzlich unter unserem Gewicht im Sumpf versinkt. Vereinzelt sind Menschen unterwegs, manche mit Hunden. Mal geht es durch herbstlich bunte Wälder, vorbei an blauen Bächen, dann wieder über die Bohlen und auf unseren Schuhen sammelt sich weißgepudert der Raureif. Schließlich erreichen wir die kleine Insel, klettern auf eine Art Steinplateau. Moos leuchtet grün, wohin das Auge reicht. Wir wandern weiter vor bis ans Ende der Insel. Dort setzen wir uns auf einen warmen Stein und beobachten einen kleinen Marder, der in einem Steinhaufen herumkriecht. Ein Steg führt hinaus aufs Wasser. Dort gehen wir hin und blicken über das Wasser hinüber zur Skyline Helsinkis. Die hohen Türme spiegeln sich glasklar im unbewegten Wasser – ein surrealer Ausblick. Im Sommer sollen hier Schafe weiden. Jetzt wäre das nicht möglich. Außer uns sind nur wenige Menschen hier.

Und dann bricht auch schon mein letzter Tag mit Ronja in Helsinki an. Wir lassen uns durch die Stadt treiben, gehen ins Katzencafé und wollen uns am Abend finnisch vegetarische Küche im Restaurant Kosmos gönnen. Ich habe die Empfehlung auf der Seite der Stadt Helsinki gelesen, also gehen wir am frühen Abend hin, um zu reservieren. Von der Eingangshalle aus spitzen wir ins Lokal. Nur Leute in Anzügen, hilfe! Schnell wollen wir die Flucht ergreifen, doch da kommt schon ein Butler wie aus dem Bilderbuch auf uns zu.
„We were just going“, sage ich, und er, erstaunt, wieso denn?
„I think we’re underdressed“, erklärt Ronja frei heraus und er schüttelt vehement den Kopf. Das sei hier gar kein Problem! Also reservieren wir, fahren nochmal ins Airbnb, wo wir uns etwas frisch machen, um nicht allzu negativ aufzufallen, und fahren wieder zum Kosmos, wo uns ein köstliches Menu und freundliche Bedienung erwartet. Der perfekte letzte Abend.
Im Apartment machen wir uns einen Glühwein warm und stoßen auf die schöne Zeit in Helsinki an.

Ich muss am nächsten Morgen früh unsere schöne Unterkunft verlassen. Ronja steht extra mit auf, um sich zu verabschieden. Sie wird später zurück nach Hamburg fliegen.
Also laufe ich alleine durch den dichten Morgennebel. Am Hafen entlang, zum Eurohostel, wo ich einen frühen Check-In für einen Aufpreis von 10 Euro bekomme und meine nassen Sachen in einem unwirtlichen Zimmer ablade. Ich mache mich direkt wieder auf den Weg, jetzt ohne schweres Gepäck. Zur Universität Helsinki, wo mich der erste Tag der Internationalen Konferenz für junge Folkloristen erwartet. Drei Tage Vorträge von früh bis spät. Die Themenvielfalt ist einfach fantastisch. Hier sind Forscher, die sich mit Göttern beschäftigen, die von Menschen Besitz ergreifen, Künstler, die artistische Vorträge halten, in denen gesungen und gelesen wird. Am zweiten Abend gibt es ein Filmscreening, „Shepherds of the Earth“, bei dem die finnische Regisseurin für eine anschließende Gesprächsrunde zur Verfügung steht. Natürlich kommt es auch zum geselligen Biertrinken in gemütlichen Kellern und Bars der Stadt. Der letzte Tag schließt mit Vorträgen über das finnische Nationalepos, die Kalevala, über Wildnis, über Träume – und dann gibt es noch ein letztes gemeinsames Teetrinken, ehe wir uns in alle Winde verstreuen.
Nach einer letzten Nacht im Eurohostel checke ich um 10 Uhr morgens aus und entscheide mich, zum Hafen zu laufen, ein dreieinhalbstündiges Unterfangen. Ich laufe am Hafen entlang, über die Brücke, die wieder Richtung Airbnb führt, in dem ich mit Ronja übernachtet habe, an Straßen entlang, über Inseln. Das Meer zu meiner Seite, laufe ich im Regen, der all meine Sachen durchweicht. Durch gelbe Herbstwälder, in denen ein Reh vor mir über den Weg springt und mein Herz ein wenig höherschlagen lässt.
Müde erreiche ich den Hafen, checke ein und bald schon werden wir aufs Schiff gebracht.
Hier sitze ich nun, schreibe, blicke aufs graue, große Meer und die dunkel bewaldeten Inseln, die dort schwimmen. Das Meer ist heute ruhig und leicht bewegt – so wie ich, wenn ich an Helsinki zurückdenke.
Schließlich legen wir ab und ich blicke sehnsüchtig den vielen, kleinen Inseln hinterher, während wir hinaus in den Ozean gleiten.  


Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmrung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.
Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.

(Theodor Storm)