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Lämmerbach

Wie weit der Blick in die Berge ist. Wie angenehm die kühle Luft auf der Haut, die seit Tagen brennt. Der Herbst ist gekommen und mit ihm Regen. Endlich.
Lämmerbach, wie schön das klingt. Dort fahre ich hin. Mal wieder stehe ich früh in Heidelberg auf, um fünf Uhr, um rechtzeitig die S-Bahn nach Mannheim zu bekommen. Von dort fährt mein Zug nach Salzburg. Die Fahrt ist angenehm. Je mehr wir in den Süden kommen, desto bergiger wird es. Ich kann am Laptop noch ein wenig arbeiten, versuche verzweifelt, einen Vortrag von 25 Minuten auf sieben zu kürzen. Uni-Alltag. Schreibe noch ein paar Mails.
In Salzburg nehme ich den Bus nach Faistenau. Dort steige ich in einen kleinen Minibus um, der weiter nach Hintersee fährt. Alle kennen sich, unterhalten sich auf österreichisch. Der Busfahrer schwärmt von seiner Tochter, die fünf Sprachen spricht. „Auch hochdeutsch?“, fragt die Frau, die ganz vorne sitzt, und er nickt stolz.
Ich schaue aus dem Fenster. Draußen ist es mystisch. Ein leichter Nieselregen hängt über der bergigen Kulisse. Eine einzige Straße, es ist die, auf der wir fahren, schlängelt sich hindurch. Vorbei an einem großen, silbergrauen See, über dem der Nebel schwebt. Wir halten an, weil eine Kuhherde über die Straße getrieben wird. Ich höre die Glocken bimmeln. Weiter geht es, und ich habe die Nase fast ans Fenster gepresst, so wohltuend ist das alles für die Augen und die Seele. Auf einer Weide galoppieren bunt gefleckte Pferde.
In Hintersee steige ich aus. Der Regen ist stärker geworden. Hier irgendwo soll ich Fabian treffen. Ich finde die Straße und die richtige Hausnummer. Das Haus steht nahe an einem kleinen, klaren Bach. Vor der Garage steht ein Auto und ich kann mich immerhin unterstellen. Fabian ist Wandern, hieß es, und später, wenn er wiederkommt, kann ich mit ihm hoch zur Hütte fahren. Leider ist er oft nicht gut zu erreichen, was auch jetzt der Fall ist. Ich setze mich auf den Boden, packe mein Buch aus und lese, während der Regen stärker und stärker wird.
Ein paar Stunden später kommt er um die Ecke gebogen. Wie schön es ist, ins Warme zu kommen! Wie klug, sich über diese einfachsten aller Geschenke zu freuen. Wärme. Trockene Füße, ein Dach über dem Kopf und eine Mahlzeit. Ich habe natürlich nichts dabei, außer einer Brezel, die ich vorsichtshalber noch am Bahnhof in Salzburg gekauft hatte. Doch das macht nichts. Das Glück ist mir hold und Fabian hat bestens vorgesorgt. Er kocht uns Nudeln mit Soße. Wir trinken Tee, schauen aus dem Fenster in den großen Garten, und ich klimpere ein wenig auf dem alten Klavier im Wohnzimmer.
Dann fahren wir hoch zur Hütte. Ich bin froh, bei dem unfreundlichen Wetter nicht laufen zu müssen. Einige Zeit stehen wir verzweifelt vor einer Schranke, die sich nicht mit dem Chipper öffnen lässt, den wir zu diesem Zweck bekommen haben. Mühsam schaffen wir es, acht Euro in Münzgeld zusammenzukratzen und so dann doch noch Einlass in die Welt dahinter zu erhalten. Es geht steil einen rutschigen und kurvenreichen Berg hinauf, den das Auto nur im ersten Gang bewältigt. An einer besonders engen Stelle kommt uns zu allem Überfluss auch noch ein PKW entgegen. Zum Glück ist die Straße an dieser Stelle für uns beide gerade noch breit genug. Auf den steilen Hängen zwischen den Waldstücken weiden Kühe, der Nebel schwebt fein über allem. Doch als wir oben angekommen sind, ist es so weiß, dass wir kaum etwas sehen können. Durch das dunstige Meer hindurch fahren wir vorsichtig weiter, finden die richtige Abzweigung, es wird noch steiler und steiler, die Wege kleiner und schmaler. Wieder erreichen wir ein Plateau, als plötzlich die Silhouette eines Pferdes im Nebel vor uns erscheint.
Wir lachen beide, weil es so zauberhaft ist. Fabian fährt langsam weiter, und das Tier macht uns dankbarerweise den Weg frei, und gesellt sich zu seinen Gefährten.
Wir erkennen die weiße Hütte, am Ende des Weges. Geschafft! Wir sind tatsächlich angekommen. Bei Regen und Nebel. Wir parken vor der Hütte, da sehen wir schon unsere Freunde, die uns lächelnd beobachtet haben.
Die Hütte hat einen Kamin. Wir wollen Feuer machen, müssen jedoch zuerst die alte Asche hinausbringen. Ich habe keine Ahnung von Öfen und Feuer machen und finde das alles großartig.
Wir müssen den Holzfräulein Aschekuchen geben, das bringt Glück, erkläre ich und alle finden das eine hervorragende Idee. Wir kratzen die alte Asche aus dem Ofen und tragen sie hinaus in die Nacht. Jeder sagt etwas Nettes, ehe wir den silbrigen Staub wegschütten.
Neben dem Ofen ist tatsächlich auch eine Schlafstatt.
Dort will ich schlafen, wie Aschenputtel, erkläre ich – und das mache ich dann auch. Die anderen schlafen oben, aber hier ist es am wärmsten. Ich möchte nur noch neben einem Ofen schlafen.

Früh um sieben Uhr weckt mich eine penetrante Fliege, die sich immer wieder auf mein Gesicht setzt. Ich döse weiter und versuche sie im Halbschlaf zu vertreiben, bis die anderen aufwachen und wir gemeinsam und gemütlich frühstücken. Der Tag ist wieder verregnet, das Wetter ungewiss. Mal nieselt es, mal klart der Himmel auf. Ich mag diese Ungewissheit, diese Macht der Natur, dieses Aufgeben aller Pläne und sich einfach treiben lassen.
Am Nachmittag bricht endlich die Sonne zwischen den Wolken hervor. Und wie wir uns darüber freuen! Wir folgen dem Weg, der sich von der Hütte aus weiter den Berg hinaufschlängelt, vorbei an Kühen und Pferden, immer den herrlichen Blick ins Tal garantiert. Am Wegrand wachsen Blaubeeren. Beim Pflücken ist es unmöglich, sie nicht in den Fingern zu zerquetschen, so weich sind sie schon. Weich und süß. Eine ganze Weile bleiben wir dort, bei den Blaubeeren, stehen und blicken ins Tal. Ich sauge die frische Luft in mich auf, gierig, schließe die Augen, nur um sie dann wieder zu öffnen. Hier könnte ich bleiben.

Doch das tue ich nicht, denn ich habe ein Leben woanders, für das ich mich sehr aktiv irgendwann entschieden habe. Doch der kurze Wochenendausflug hat mir wieder gezeigt, wie sehr ich mich nach Natur und Ruhe sehne. Mit Fabian fahre ich am nächsten Morgen wieder ins Tal und nehme dort den Bus zurück nach Salzburg. Die ganze Zeit regnet es in Strömen und ich bin froh, im Trockenen zu sein.

 


Es ist ein stiller Regentag,
So weich, so ernst – und doch so klar,
Wo durch den Dämmer brechen mag
Die Sonne weiß und sonderbar.

Ein wunderliches Zwielicht spielt
Beschaulich über Berg und Tal,
Und die Natur, lind abgekühlt,
Sie weint und lächelt allzumal!

(Gottfried Keller)