Meine Zugfahrt nach Wien ist spannend. Der Zug ist voll, doch ich ergattere einen Sitzplatz neben einem jungen Mann. Ich packe meinen Laptop aus, um noch ein wenig zu arbeiten, und arbeite. Ab
und an gucke ich sehnsüchtig aus dem Fenster, wo die Landschaft immer südlicher wird.
Plötzlich spricht der Mann mich an, in gebrochenem Deutsch. Ich verstehe leider nicht wirklich, was er will, er deutet in den Flur. Ich folge seinen Handzeichen und sehe: eine Nonne! Eine echte,
alte Nonne. Etwas beschämt, dass ich die Dame nicht bemerkt habe, lasse ich ihn hinaus, denn er will ihr seinen wertvollen Platz anbieten. Erst will sie nicht annehmen, doch dann setzt sie sich
neben mich. Ich lächle sie freundlich an und merke dann, dass man das unter der Maske natürlich gar nicht sieht.
Ich arbeite weiter an meinem Laptop und sie packt geschäftig ihre Bibel aus, um darin zu lesen.
So sitzen wir also und arbeiten und lesen, ich alte Handschriften, sie ihre Bibel.
Ein Gespräch entwickelt sich. Sie fragt, was ich da lese, ich frage, wann sie Nonne wurde. Mit 21, sagt sie. Wir sitzen im Stilleabteil, doch niemand scheint sich an dem Gespräch zu stören.
Eigentlich arbeite ich gerne still in den Stilleabteilen, doch mit der Nonne will ich wohl reden.
Sie erzählt, dass sie in ihr Kloster in Österreich fährt, wo es nur sie und zwei andere Nonnen gibt. Sonst sind es Mönche. Aber sie haben auch vermehrt junge Frauen, die jetzt Nonnen
werden.
Ich finde das alles äußerst spannend. In Wien Meidling muss sie umsteigen, ich schaue für sie die Verbindung nach, da unser Zug natürlich Verspätung hat.
So verabschieden wir uns. Die Nonne und ich.
In Wien will ich Agnes treffen, und Marlene und Paul. Ich bin die Erste, die ankommt und warte auf den Rest unserer Truppe vor dem Bahnhof. Agnes kommt erst etwas später, doch Marlene und Paul
stoßen bald zu mir. Gemeinsam laufen wir vom Bahnhof zu unserer Unterkunft. Wien hat schon einen sehr eigenen Stadtcharakter, alles wirkt groß und hell. Es ist heiß, so heiß, dass ich
schweißgebadet bin, als wir mit unserem schweren Gepäck in der Wohnung ankommen. Wir wählen schon einmal Betten aus. Meines knarzt wie im Film, wenn ich mich darauf setze. Die Wohnung ist ein
wenig ranzig, aber hat die schön hohen Decken der Wiener Altbauten und große, weiße Türen, die die Zimmer theoretisch miteinander verbinden würden. Bis Agnes kommt, gehen wir einkaufen. Der
Supermarkt ist gleich um die Ecke, unsere Wohnung sowieso fußläufig vom Zentrum. Im Billa ist es so angenehm kühl, dass wir am liebsten bleiben würden. Stattdessen trinken wir einen löslichen
Kaffee in unserem Apartment und warten auf Agnes. Es ist schon spät. Wir haben alle Hunger und gehen in ein Lokal gleich gegenüber auf der anderen Straßenseite. Sie haben echte Wiener Küche und
Marlene und ich wagen uns sogleich an ein Wiener Schnitzel. Dort sitzen wir alle ausgesprochen gut und werden immer ausgelassener und lustiger, jetzt, wo es auch endlich abkühlt. Die Bedienung,
ein Ehepaar mittleren Alters, ist schrecklich nett und auch ziemlich witzig. Die Wiener machen einen hervorragenden ersten Eindruck auf uns.
Unsere Nacht jedoch ist unruhig. Es ist nach wie vor so drückend schwül, selbst in der Wohnung. Mitten in der Nacht wache ich auf, weil ich Wadenkrämpfe habe. Die große Straße, die neben der
Wohnung verläuft, ist auch nachts stark befahren, der Lärm sehr präsent.
Agnes und ich stehen früh am Morgen auf und laufen zum Bahnhof. Wir haben für heute einen kleinen Ausflug zu zweit geplant, für den Marlene und Paul sich nicht recht begeistern konnten. Wir
verlassen die Stadt mit dem Zug und fahren nach Stift Heiligenkreuz, einem Zisterzienserkloster. Zum Glück hat der Klostergasthof schon offen. Dort trinken wir einen Kaffee und essen eine
Kleinigkeit. Eine alte Dame am Nebentisch bestellt Espresso und dazu schon einen Grappa. Ein anderes Ehepaar hat bereits mit Bier begonnen. Ich finde das witzig. So früh am Tag.
Am Eingang zur Klosteranlage sehen wir schon zwei Mönche in ihren weißen Kutten mit dem schwarzen Überwurf. Sie grüßen uns freundlich, als wir an ihnen vorbeigehen. Nonnen und Mönche. Dieser
Urlaub scheint von ihnen geprägt zu sein. Bei einem anderen Mönch kaufen wir unsere Eintrittskarten für die Stiftskirche und erhalten einen goldenen Schlüssel, um uns einzulassen. Die steinernen
Hallen reichen hoch hinauf, Licht fällt matt durch die Fenster. Wie angenehm kühl es hier ist. Das ist eigentlich das Einzige, was man in diesen heißen Zeiten noch tun kann. In Klöster gehen. Wir
sehen uns die Sakristei an, die Fraterie und das Dormitorium und wandeln durch den Kreuzgang.
Im Lesegang stellen wir uns vor, wie es wäre, hier mit einem Buch zu sitzen und zu lesen. Das würde ich gerne tun. Innehalten, eintauchen, zur Ruhe kommen. Aber nicht jetzt. Der Dom hat nicht
mehr lange geöffnet und wir wollen noch ins Brunnenhaus. Der Brunnen ist mächtig verkalkt und wir fragen uns, ob das Absicht ist oder nicht. Schön ist es jedenfalls, auch das stetige Plätschern
des Wassers.
Draußen ist die Hitze kaum zu ertragen. Zum Glück müssen wir nicht lange ausharren. Die Glocken läuten schon bald zum mittäglichen Chorgebet, zu dem auch Besucher des Stifts eingeladen sind.
Still und ehrfürchtig treten wir wieder in die Kirche ein und nehmen in einer der hölzernen Bänke Platz. Zwei Kinder tuscheln leider ununterbrochen laut mit ihrer Mutter, die auch noch hustet und
ganz offensichtlich kränkelt. Doch dann beginnt das Gebet und mit ihm fast eine Art Trance für mich. Die Mönche kommen, nehmen ihre Plätze im Chorgestühl ein und singen auf Latein. Sie beten,
senken die Köpfe, singen, knien, stehen wieder auf, alles in einem einstudierten Rhythmus, der mich ganz ruhig werden lässt.
Ich bin richtig traurig, als es vorbei ist und sie wieder gehen. Zwei junge Mönche verabschieden die Besucher von außen freundlich. Agnes und ich sind erstaunt, wie viele junge Mönche wir hier
sehen.
Ob das etwas für mich wäre? Leben in einem Kloster? Radikale Askese – das steht auf der Homepage des Stifts im Internet. Einfache Kleidung, bescheidene Nahrung, das Schlafen auf hölzernen Planken
... Ich bin mir nicht ganz sicher, ob diese Information sich auf das tägliche Klosterleben im 21. Jahrhundert bezieht oder einen Blick in die Vergangenheit repräsentiert.
Radikale Askese – jedenfalls nicht in Wien.
Als Agnes und ich wieder in der Stadt ankommen, ist die Hitze kaum mehr erträglich. Wir treffen Marlene und Paul vor der Donauinsel und schleppen uns gerade noch so durch die Sonne zur Insel, wo
wir auf einer Bank im Schatten zusammenbrechen und den Rest des Tages nur noch kühle Getränke zu uns nehmen. Spritzer, selbstverständlich, so gehört sich das in Wien! Und er ist gut bemessen,
fast nur Wein und wenig Mineralwasser. Eine Gruppe Frauen badet in der Donau, eine andere sitzt am Ufer und meditiert. Hier lässt es sich doch ganz gut aushalten! Das Wasser ist blau, der Himmel
ist blau. Und wir haben unsere Drinks. Alles ist gut.
Paul schläft diese Nacht außerordentlich schlecht. So schlecht, dass wir ihn in der Wohnung zurücklassen müssen, wo er sich erholen möchte. Also ziehen wir zu dritt los, laufen die halbe Stunde
ins Wiener Zentrum. Wir wollen zur Schlossanlage Belvedere, einem Bau aus dem 18. Jahrhundert mit barockem Ambiente. Über Nacht ist es angenehm abgekühlt. Dunkle Wolken türmen sich über dem
weißen Schloss zusammen. Die Wege des Parks sind gesäumt von Statuen. Am Anfang unseres Weges kommen wir an Musikern auf ihren Sockeln vorbei. Frauen halten Lauten und Harfen und sehen ernst in
die Luft. Ein Mann spielt verträumt auf einer Flöte. Wir nähern uns dem Schloss, wo Statuen von Sphinxen die Pfade bewachen. Fröhlich posieren wir vor ihnen und machen Selfies. Nicht weit vor dem
Schloss ergießt sich das Wasser einer Brunnenanlage über Kaskaden in die Becken. Auch hier: Statuen. Einer hält einem Greif das Maul offen, aus dem eine Wasserfontäne spritzt. Eine Krähe fliegt
über sie.
Wir ziehen weiter Richtung Zentrum, werden dabei vom Regen überrascht. In Sandalen rennen wir durch die nassen Straßen der Stadt, an einen Regenschirm hat keine von uns gedacht. Doch der Schauer
währt nicht lange. Und er ist uns allemal lieber als die schreckliche Hitze von gestern. Halbwegs trocken erreichen wir das Zentrum, wo wir sogleich finden, was wir gesucht haben: ein echtes
Wiener Kaffeehaus. Dort sitzen wir auf roten samtenen Bänken, die Wände sind kontrastreich vollgeklebt mit Postern aus der Kulturszene Wiens. Ateliers werden beworben, Kabarettisten und
Architekten. Eine kleine Vase mit weißen und rosa Blümchen steht auf unserem Tisch, die Blüten ganz frisch. Wir bestellen Wiener Melange. Der Kaffeegenuss kommt auf kleinen Silbertabletten
serviert, mit einem Glas Wasser für jede und einem Zuckerstreuer, den niemand von uns benötigt. Der Kaffee schmeckt hervorragend, und dazu gönnen wir uns Kaiserschmarrn, den wir in schwarzen
Pfännchen auf einem Holzbrett erhalten, dazu ein Gläschen Schlagsahne und ein Gläschen mit Zwetschkenröster. Der Puderzucker über allem ist wie ein Gedicht, die Erdbeeren und Blaubeeren
dazwischen kleine Oasen der Freude. Wir sind hochzufrieden und essen alles auf. Eine besondere Überraschung bietet noch das Bad. Als ich auf die Damentoilette verschwinde, bleibe ich zuerst
einmal perplex stehen. Wo bin ich? Überall um mich herum sind Spiegel und überall sehe ich mir selbst verwirrt entgegen. Ich suche verzweifelt eine Tür, die zu einer Kabine führt. Da! Gleich
neben dem Waschbecken geht es in einen verborgenen Raum. Auch in der Kabine sind überall Spiegel, was ich ziemlich skurril finde. Als ich die Tür wieder öffne, dringt mir ein erschrockener Schrei
entgegen. Am Waschbecken vor mir steht eine Frau, die sich dort die Hände wäscht. Sie lacht, als sie mich sieht, und dann waschen wir uns beide die Hände.
Zehn von zehn Punkten für das Wiener Kaffeehaus!
Danach besichtigen wir den Stephansdom, das Wahrzeichen der Stadt Wien. Er ist groß und prächtig, aber voller Menschenmassen. Sehnsüchtig denke ich an das Stift Heiligenkreuz zurück. Da kann der
Dom für mich nicht mithalten.
Wir verlustieren uns noch eine Weile im Shop vom Mozarthaus, weil uns der Eintritt zu teuer ist, und treffen dann Paul, der es mittlerweile aus dem Bett geschafft hat. Zu viert flanieren wir
gemütlich durch die Stadt, bis zu einem Teehaus, wo wir eine traditionelle Teezeremonie bekommen und Puerh, den dunklen unbekannten Tee Asiens trinken. Paul ist nicht begeistert, zu bitter für
ihn. Agnes und ich dagegen sind begeistert. Wir sind schon eine Weile intensiver am Tee trinken – ich habe mittlerweile auch einige Kurse zu asiatischer Teekultur absolviert.
So viel gibt es in Wien zu sehen, und die kurze Zeit, die wir für diese kulturell reiche Stadt bemessen haben, genügt natürlich keinesfalls. Das denke ich mir zumindest, als wir vor der Wiener
Hofburg stehen, die bis 1918 die Residenz der Habsburger in Wien war. Darin befindet sich heute die österreichische Nationalbibliothek sowie diverse Museen, zum Beispiel das Sisi Museum. Von der
Spanischen Hofreitschule hatte ich bis heute noch nie ein Wort gehört, Agnes dagegen kennt die altehrwürdige Reitinstitution. Sie diente einst der Reitausbildung der kaiserlichen Familie und
bildet ausschließlich die alte Pferderasse der Lipizzaner aus, sogenannte Milch-Schimmel.
Über die Haltung von Pferden generell, vor allem heutzutage, lässt sich natürlich streiten. Den Lipizzanern geht es jedoch bestimmt besser als den armen Pferden, die die zahlreichen Kutschen
ziehen, die vor der Hofburg stehen und nur darauf warten, Leute durch die Gegend zu kutschieren. Wir gehen schnell weiter, weil Marlene etwas allergisch auf die Pferdehaare reagiert und einige
der Tiere so müde aussehen, dass es kein schöner Anblick ist.
Allmählich sind wir alle etwas geschlaucht vom vielen Gehen. Wir spitzen noch in die Wiener Secession, ein Ausstellungsgebäude für zeitgenössische Kunst, das eines der wichtigsten Gebäude des
österreichischen Jugendstils ist. Auch hier sehen wir uns nur den Eingangsbereich an und die große goldene Kuppel aus Blätterwerk auf dem Dach. Wir schlendern durch den Naschmarkt, wo allerlei
Köstlichkeiten angeboten werden und landen aber schließlich in einem Pub, wo wir Bier trinken und ein paar Snacks zu uns nehmen. Eigentlich sind wir noch satt vom Kaiserschmarrn.
So lange ist es abends noch hell. Als wir das Pub verlassen, ist der Himmel rosarot vom Licht der Abendsonne. Wir erreichen den Schwarzenbergplatz, wo der Hochstrahlbrunnen in wechselnden Farben
leuchtet. Ein Schwurbler verkündet daneben lauthals die Gefahren einer Corona-Impfung. Die Polizei sieht desinteressiert zu.
Es ist schön, dass es wieder möglich ist, zu reisen. Was im Herbst kommen wird, ist leider ungewiss. Doch darüber machen wir uns jetzt keine Sorgen. Vielleicht ist das naiv, vielleicht aber auch
notwendig.
Am nächsten Morgen stehen wir früh auf und laufen zu Fuß die halbe Stunde zum Schwedenplatz, wo wir eine Schiffsfahrt gebucht haben. Wir sind spät dran und eilen gerade noch so an Bord, wo wir
Plätze für teures Geld in der zweiten Reihe gebucht haben. Wir sind enttäuscht. Die zweite Reihe ist keinesfalls besser als die letzte, man sieht von hier auch nicht besser aufs Wasser. Da hätten
wir genauso gut die billigen Plätze buchen können. Die Familie vor uns hat zwei Söhne, die wohl erzogen sind. Sie essen fröhlich ihre Snacks und spielen ein wenig Pokémon Go auf ihren Handys. Das
Schiff setzt sich in Bewegung und wir fahren gemütlich die Donau entlang. Die Häuser Wiens ziehen an uns vorbei.
In der Reihe hinter uns sitzen lärmende Kinder. Das Mädchen hinter mir tritt vehement in meinen Sitz. Agnes wirft mir entsetzte Blicke zu. Wieso machen denn die Eltern nichts?
Hoffentlich sind wir bald in Bratislava.
Die Hitze des Lebens blendet unseren Geist,
wie die Sonnenglut eines heißen Tages das Auge.
Erst am kühlen Abend
schaut die Seele
in den Tiefen der still heraufziehenden Nacht
die ewig brennende Kerze der Unvergänglichkeit,
gleich einem freundlichen Stern,
der im Abgrunde der Finsternis leuchtet.
(Ernst Wagner)