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Erfurt

Der Regionalzug fährt in den Hauptbahnhof Erfurt ein. Erfurt, die Hauptstadt Thüringens. Ich erkenne den Bahnhof sofort wieder. Hier war ich schon einmal, zum Umsteigen. Diesmal aber steige ich nicht um, sondern komme an. Es ist Samstag und ich will meine Freundin Joni besuchen, die hier studiert. Ich finde sie in der Bahnhofshalle. Klein und zierlich steht sie da zwischen all den Menschen. Wir umarmen uns – es ist Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen haben. Vor der Pandemie, das weiß ich noch, waren wir zusammen in Amsterdam. Joni und ich haben beide in Hildesheim studiert und wohnten im selben Haus, Joni in der Wohnung über meiner. Sie hatte einen Balkon, auf dem wir manchmal übernachteten. Der Sternenhimmel über uns, der Regen, unter dem wir am Morgen aufwachten. Es war uns ganz egal gewesen. Und nun hatten wir uns so lange nicht gesehen.
Joni tauscht noch beim Bahnschalter ein Ticket um und dann gehen wir in die Stadt. Erfurt – das ist es also. Wir gehen direkt zur berühmten Krämerbrücke, vorbei am mechanischen Theatrum Mundi und all den kleinen Lädchen, die sich in der Gasse befinden und thüringische Spezialitäten anbieten, unter anderem goldene Puffbohnen. Die Puffbohne hat in Erfurt wohl Tradition: Im Mittelalter wurde sie um die Stadtmauer herum angepflanzt und brachte der Stadt Glück und Segen. Das Wetter ist herrlich, die Sonne scheint, doch ein kühler Wind weht. Joni führt mich zum Café Füchsen, vor dem ich entzückt stehen bleibe. Als hätte sie gewusst, dass die Figur des Fuchses mich derzeit mythologisch beschäftigt. Ich werte das als sehr gutes Zeichen. Überall am Café sind kleine Füchse angebracht und ich fühle mich sehr wohl. Wir bestellen hausgemachte Limonade und eine köstliche Spinat-Quiche. Wir versuchen aufzuholen, was wir voneinander verpasst haben, doch es ist kaum möglich. Vorsichtig nähern wir uns einander wieder an.
Für Erfurt habe ich mir wenig vorgenommen, eigentlich will ich mich überraschen lassen. Was ich jedoch sehen möchte, ist der Dom. Er geht bis ins 8. Jahrhundert zurück und hier wurde Martin Luther zum Priester geweiht. Die Domstufen sind gerade in eine opulente Bühne umgewandelt, denn derzeit sind die DomStufen-Festspiele in Erfurt, wo diverse Opern auf den Domstufen vorgetragen werden. Wir haben auch eine Karte gekauft, doch erst für morgen.
Nun aber stehen wir vor dem Mariendom und ich komme aus dem Staunen nicht heraus. Er ist riesig und schön hell. Der Sandstein, aus dem er erbaut wurde, hat etwas Beruhigendes, fast Goldenes. Wenn Agnes jetzt hier wäre, könnte sie mir alles erklären, denke ich, aber sie ist nicht hier, und so müssen wir Kunstbanausen ahnungs- und ratlos in den Wunderbau eintreten. Innen umfängt uns die Dunkelheit, düster ist es. Joni gefällt das nicht so gut, doch ich entdecke sofort einen Schatz, der mich ganz in seinen Bann zieht: den Erfurter Einhornaltar. Ehrfürchtig stehe ich davor. Die Tafel zeigt Maria, auf deren Schoß ein goldenes Einhorn, die Verkörperung Christi, sein goldenes Haupt mit goldenem Horn bettet. Ich bin so ergriffen, dass ich mich gar nicht davon lösen kann. Am liebsten würde ich die drei Tafeln mit nach Hause nehmen, aber das geht natürlich nicht. Stattdessen kaufe ich mir zwei Postkarten des berühmten Kunstwerks im Domshop.  Das tröstet mich etwas.
Bald treffen wir in der Stadt Vanessa, eine Freundin Jonis, die gerade in Halle arbeitet. Von dort ist es auch nur ein Katzensprung nach Erfurt. Zusammen gehen wir in die Kaffeerösterei, wo wir gemütlich sitzen und Kaffee schlürfen, Vanessa und ich jeweils einen ausgesprochen leckeren Zimtkaffee.
Der Rest des Tages plätschert so dahin und das ist einfach schön. Es ist Samstag, die Geschäfte haben offen und wir bummeln unbeschwert durch die Gassen, spitzen in alle Läden und kaufen hier und da eine Kleinigkeit. Am Abend essen wir im Augustiner an der Krämerbrücke und ich trinke ein Augustiner Helles, das hier Tradition hat.
Als wir spät abends bei Joni ankommen, sind wir alle müde und fallen erschöpft in unsere Betten.

Der nächste Morgen verspricht aufregend zu werden. Für den Vormittag haben wir Karten für die Domfestspiele ergattert. Die regulären Karten waren so teuer, dass sie für uns arme Schlucker nicht erschwinglich waren. Aber das macht nichts. Stattdessen gehen wir in die Kindervorstellung: Pettersson und Findus und der Hahn im Korb wird dargeboten. Liebevoll wurde ein idyllisches Bühnenbild aus Holz vor den Domstufen errichtet und dahinter ragt mächtig der Dom selbst in die Höhe, eine tolle Kulisse! Vorne der idyllische Baum, das kleine, gemütliche Haus, dahinter der Prachtbau, als wäre man direkt im mittelalterlichen Erfurt gelandet. So ist es aber nicht. Hier sitzen wir zwischen Familien mit ihren kleinen Kindern, die alle herausgeputzt sind, Sonnenbrillen tragen und dabei geschäftig Eis essen. Die Kinder sind während der Oper erstaunlich leise und aufmerksam, die Eltern leider nicht alle. Die Oper selbst ist toll gemacht und rührt mich sehr. Wann war ich zuletzt in einer Oper? Die Sängerin, die Findus spielt, hat eine wunderschöne Stimme und vermag aufs Beste authentisch den Schmerz des Katers wiederzugeben, als er sich von der Ankunft des Nachbarhahns Caruso, der seinem Schicksal im Suppentopf zu entgehen sucht, derart gekränkt fühlt, dass er zu radikalen Mitteln greift. Mit einer List verbietet Findus dem Hahn, der in herrlicher Weise auf der Bühne umherstolziert und sein Kikeriki gesanglich darbietet, das andauernde Krähen, woraufhin der Hahn selbst, Caruso, vor Schmerz fast vergeht. In einer ergreifenden Einlage erklärt der alte Pettersson seinem Kater, was es bedeutet, als Hahn keine Stimme zu haben und nicht mehr singen zu können: Das ist wie Pettersson ohne Findus, wie Papa ohne gei. Findus wird einsichtig und rettet schlussendlich den Rivalen vor dem Nachbarn Gustafson.
Glücklich gehen wir aus der Vorstellung und holen uns auch ein Eis. Warm genug ist es heute. Danach schleppe ich meine Begleiterinnen noch in die gotische Severikirche neben dem Dom und ins Augustinerkloster, in dem Martin Luther als Mönch lebte.
Abends, bevor Vanessa und ich getrennt unseren Zug nehmen müssen, essen wir noch – echt thüringisch – eine Rostbratwurst im Brot mit Senf, ehe wir zum Bahnhof aufbrechen. Vanessa fährt zuerst, wir verabschieden sie in der Halle. Danach bringt Joni mich noch zu meinem Gleis. Wir umarmen uns und ich lade sie herzlich nach Kassel ein. Mal schauen, wann wir uns wiedersehen werden. Ich verschwinde im Zug, der schrecklich vollgestopft ist, aber immerhin habe ich einen Sitzplatz. Die Frau neben mir kann nicht aufhören, mich zuzuquasseln, bis ich meinen Laptop auspacke und deutlich signalisiere, dass ich nun arbeite.
So verlasse ich Erfurt.


Es gibt Augenblicke im Theater,
die gerade dadurch besonders fesselnd sind,
dass der Schauspieler nicht spielt –
ähnlich ist es im Leben
in den Augenblicken schöpferischer Ruhe.

(Seami Motokiyo)