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Hoorn

Dienstag.
Gemälde an Häusern, der Rost auf den Gleisen, rötlich, und draußen die Mittagssonne. Unser heillos überfüllter Zug rollt in Utrecht ein und mittlerweile habe ich endlich einen ordentlichen Sitzplatz ergattert. Die Züge in den Niederlanden sind gelb, die Menschen in unserem Zug international. Manche sprechen Deutsch, andere Niederländisch, andere Englisch. Viele Jugendliche sind unterwegs, reden laut und derb miteinander und ich fühle mich sehr alt und konventionell.
Jetzt ist es nicht mehr lange bis Amsterdam, nur noch 20 Minuten. Ich werde noch einmal auf Toilette gehen, meine sieben Sachen zusammensuchen und den Blick aus dem Fenster genießen. Holland. Weideland. Kühe. Ein blauer Himmel.

Mit der Tram nach IJburg fahre ich kostenlos, weil es irgendein technisches Problem gibt. Ich Glücksvogel, denke ich, und sauge die Bilder der an mir vorbeiziehenden futuristisch abstrakten Häuser ein, und des Wassers, das in der Sonne glitzert. Was für ein Sommer. In Amsterdam habe ich ein Jahr gelebt. Zurückkommen heißt immer auch heimkommen. Meine Gastfamilie wohnt hier noch. Ich finde das Haus, in dem ich so lange gelebt habe, klingle. Mein Gastvater, Hajo, öffnet. Er ist noch in einer Telefonkonferenz. Ich trinke ein Wasser, genieße die Sonne auf dem Balkon und den Blick auf den Kanal. Dann geht es los. Wir machen das Boot fertig, Wellenteilchen heißt es. Wir stechen in See. Schleusen werden geöffnet, andere Bootsbesitzer grüßen – wenn man ein Boot hat, ist es, als wäre man in einem geheimen Club, finde ich. Von den Grachten der Siedlung aus geht es aufs IJsselmeer. Hier können wir schneller fahren und die Gischt spritzt mich nass – ein tolles Gefühl. Wir fahren in die Stadt hinein, in Amsterdams Zentrum, halten vor der Bibliothek, von der aus man einen hervorragenden Blick über die Stadt hat. Dort sammeln wir Freunde meiner Gastfamilie auf, die für die große Geburtstagsfeier am Freitag extra aus Seattle angereist sind, ein nettes Ehepaar mit ihrer jugendlichen Tochter. Zu fünft fahren wir weiter, durch Amsterdams pittoreske Altstadt, und ich sehe die leicht nach vorne geneigten Häuser an, die Menschen, die Fahrradfahrer, die Trams, die zahllosen Cafés und Geschäfte, rieche das Gras, das über allem in der Luft schwebt, und genieße die Sonne auf meiner Haut.
Zeit für den Heimweg. Unterwegs gabeln wir noch Christina, Hajos Frau auf, die von der Arbeit kommt. Ich trinke ein zweites Bier und fühle mich ungemein entspannt.

Abends essen wir gemeinsam; ich werde von der amerikanischen Familie freundlicherweise eingeladen. Danach trinken wir Tee. Nachts spazieren wir zu viert zum Hotel Four Elements, wo ich einchecke und mein Zimmer beziehe.
In letzter Zeit war ich viel alleine in Hotels unterwegs. Allmählich gewöhne ich mich an die Situation.

Mittwoch.
Frühstück mit Blick auf den Hafen. Ich schicke Fotos an Freunde und lausche den Gesprächen meiner deutschen Tischnachbarn zu beiden Seiten. Alle haben sich erstaunlich wenig zu sagen.
Danach spaziere ich in der gleißenden Morgensonne am IJsselmeer entlang und von dort zu meiner Gastfamilie. Heute treffe ich meine damaligen Au-pair-Kinder, die nun nicht mehr Kinder sind. Arian arbeitet schon, er liefert Essen aus, bis er in wenigen Wochen schon mit einem Studium beginnen wird. Und Lily, Lily hat goldene Augen. In ihnen versinke ich und sinniere über die Zeit. Es ist, als wäre ich erst gestern hier gewesen und sie so klein, auf meinem Schoß. Doch das ist lange her.
Lily. Kleine Lily.
Wir reden, sitzen gemeinsam auf der Couch, ich mit einem Buch, Lily am Laptop. Sie programmiert in ihrer Freizeit. Auch für sie ist es nur noch ein Jahr Schule und in den Ferien kellnert sie. Als Christina von der Arbeit kommt, setzen wir uns zusammen auf die Terrasse und essen. Dann stechen wir noch einmal für eine kleine Runde durch IJburg in See und fahren in den Sonnenuntergang.

Donnerstag.
Gestern hatte ich wohlweislich die Vorhänge vor dem großen Fenster nicht zugezogen, und so wache ich mit dem Anblick des glitzernden IJsselmeeres in der Welt mir zu Füßen auf. Ich kann mich kaum sattsehen. Beim Frühstück erkläre ich einer alten deutschen Dame, wo der Kaffee zu finden ist, und sie bedankt sich aus mir unverständlichen Gründen auf Englisch bei mir.
Meine Routine ist nun so: Ich spaziere am Wasser entlang zum Buchladen, sehe mich um, treffe eine schwarze Katze mit weißen Pfoten, die mir zufrieden um die Beine schmust, und spaziere am Wasser zurück. Von dort aus mache ich mich auf zur Familie, trinke Kaffee und lese im Schatten auf dem Balkon mein Buch zu Ende.
Unten im Haus erklingt Klaviermusik. Ich beobachte die Vögel. Die Reiher fliegen über den Kanal, gleiten schwerelos durch die Luft. Die Spatzen fliegen zu mir, die Brust stolz und flauschig vorgereckt. Sie zwitschern hell, singen unbeschwerte Lieder.
Und dann geht die Feier los. Die Gäste kommen, und plötzlich machen wir Musik. Zwei Pianisten sind da, sie spielen, und ich singe, ihre Stimmen legen sich auf meine, und das ist schön, so schön. Hier am Klavier ist mein Platz, singend, schwebend, frei wie ein Vogel.
Let it be. Let it be. Let it be, oh let it be. Speaking words of wisdom. Let it be.

Freitag.
Das silberne Meer. Das Wasser, überall, das schaukelnde Schiff. Wie eine Wiege liegt unser Segelboot, die Titaan, darin. Nach einem gemeinsamen Brunch im Hotel sind wir in IJburg am Hafen in See gestochen. Wir sind an die dreißig Gäste, unerfahren in der hohen Kunst des Segelns, doch das macht nichts. Wir sind in guten Händen: Eine kompetente Crew manövriert uns durch die Wellen, erklärt uns, wann an welchen Seilen zu ziehen ist, und als das Segel sich verhakt, klettert der Captain höchstpersönlich flink wie ein Affe den Mast hoch, um es zu lösen. Applaus von unserer Seite! Es scheint mir, als ob es ihm etwas unangenehm ist. Ich faulenze an Deck in der Sonne, spreche mit der Crew und den Geburtstagsgästen. Wir sind eine internationale Truppe, bestehend aus Deutschen, Niederländern, Schweizern, Italienern, Slowenen, Schotten und Amerikanern. Ich denke, dass auch die Crew selten eine Truppe wie unsere gesehen hat. An Bord haben wir erstaunlich viele Instrumente geschleppt: diverse Gitarren, eine Ukulele, ein Akkordeon – und ja, selbst ein Klavier. Andauernd werden uns Häppchen und Drinks gereicht und ich frage mich, wie man nach so einem Urlaub eigentlich jemals wieder in den Alltag zurückkehren soll. Aber das sehe ich dann, wenn es so weit ist.
Der Wind trägt uns übers Wasser. Der Himmel ist weit, so weit. Über das silberne Meer legt sich ein zweites, hellblau, durchzogen von weißen Wolkenwellen. Zwei Männer spielen am  Bug die berühmte Titanicszene nach, der vordere hat die Arme weit von sich gestreckt, der hintere hält ihn. Alles hier ist so leicht und lustig. Ihre Haare flattern nach hinten. Irgendjemand hat außerdem im Lager unter Deck ein Tattoostudio eröffnet. Wie kleine Kinder kleben wir uns alle einen Anker auf diverse Körperteile, der uns als Teil der Crew labelt. Die echte Crew macht auch mit.
Einige unerfahrene Matrosen fehlen uns jedoch noch, und zwar ausgerechnet unsere Gastgeber. Wir sammeln Hajo, Christina und ein paar weitere Nachzügler am Hafen in Volendam auf. Die beiden waren noch auf Arians Abiturverleihung – ein Ereignis, das sich selbstverständlich nicht allzu oft ereignet. Hajo erkenne ich erst nicht. Er trägt eine Kapitänsmütze und hat sich einen dicken, schwarzen Bart angeklebt. Wir gehen dort an Land, um uns kurz das pittoreske Fischer-Örtchen anzusehen. Ein Niederländer erzählt mir, dass Volendam die Stadt der Musiker ist. Seit den 1960er Jahren hat sich dort eine regelrechte Musikindustrie angesiedelt, die den Namen Palingsound trägt – zu deutsch: Aal-Klang. Ich finde das ungemein spannend und würde ein paar dieser Aale gerne einmal singen hören.
Unser eigentliches Ziel jedoch ist Hoorn, eine gar nicht allzu kleine Stadt in Westfriesland. Dort kommen wir am Abend an, es ist, dem Sommer entsprechend, noch hell. Auch in Hoorn stoßen weitere Gäste zu uns. In der Dunkelheit holen wir die Gitarren an Heck und spielen und singen Seemannslieder in Deutsch, Niederländisch und Plattdeutsch. Das Akkordeon kommt auch zum Zug.
Spät verabschiede ich mich und laufe am Hafen entlang zum Hotel, wo wir übernachten. Es ist ein ehemaliges Gefängnis und ich darf in der Isolierzelle nächtigen.
Und so verbringe ich meine erste Nacht in einem Gefängnis.

Samstag.
Ich verschlafe nicht wirklich, aber fast. Jedenfalls fällt mein Frühstück im Hotel eher kurz aus, weil die Titaan schon bald in See sticht – und natürlich will ich da nicht fehlen.
Im Anschluss an mein kleines Frühstück werden sofort Häppchen gereicht, ich trinke bald schon den dritten Kaffee und denke, ich sollte langsam damit aufhören.
Das Wetter ist wieder grandios. Die Sonne scheint, und sobald wir den Hafen verlassen haben, kühlt eine angenehme Brise uns.
Heute segeln wir nach Enkhuizen. Auf dem IJsselmeer vergesse ich die Zeit. Vielleicht, weil überall nur Wasser zu sehen ist, diese herrlich klaren Weiten, das Schaukeln des Schiffes. Unterwegs hole ich mir ein paar neue Tattoos. Links am Arm lasse ich mir noch eine Welle stechen, rechts einen Berg und einen Baum. Die Tattoos sind generell ordentlich expandiert. Manche unserer Crew haben schon ganze Arme mit Totenköpfen und schwarzen Rosen gepflastert, andere wiederum haben sich Krönchen auf den Bauch geklatscht.
Als wir in Enkhuizen an Land gehen, sehen wir schon wie echte Piraten aus. Wir drehen eine Runde durch den Ort. Die Häuser aus roten Backsteinen finde ich erstaunlich klein, dafür, dass die Niederländer insgesamt so groß sind. Alles ist schief und beugt sich leicht nach vorne. Wir spitzen in eine Kirche hinein, wo es eine wunderschöne alte Orgel gibt, die nach oben immer größer wird. Einer aus unserer Crew singt laut ein Lied von der Empore.
Und dann geht es wieder aufs Wasser. Mitten im IJsselmeer halten wir an, um baden zu gehen. Eine Leiter wird hinabgelassen, die wir einige Meter ins Wasser hinabklettern. Andere springen von oben. Es ist gar nicht kalt, ich fühle mich wohl wie ein Fisch und spüre dieser herrlichen Schwerelosigkeit nach. Lasse mich auf dem Rücken treiben, schließe die Augen.
Wir sind eine außergewöhnliche Crew. Mit an Bord haben wir auch Dunja, die seit einem Mountainbike-Unfall im Rollstuhl sitzt. Dunja war vor mir Au-pair bei Hajo und Christina und sie ist der größte Sonnenschein, den ich kenne. Ihr Freund Timo trägt sie am Schiff dorthin, wo es am schönsten ist – und plötzlich wird mir klar, dass Dunja plant, schwimmen zu gehen. Ich bin im Wasser und schaue besorgt nach oben. Alle gucken besorgt, merke ich. Aber Dunja lässt sich einfach vom Schiff oben ins Wasser fallen. Sie taucht auf, schwimmt. Sie schwimmt schneller als ich, was wirklich eine traurige Aussage über meine Schwimmkünste darstellt. Danach hängt sie sich Timo um den Hals und er klettert mit ihr auf dem Rücken die Titaan hoch. So eine Crew sind wir nämlich. Nichts ist hier schwer, alles ist leicht.
Mit 29, sagt Dunja, hat sie sich gewünscht, einfach mal Zeit zu haben, um irgendwo in Ruhe zu sitzen und nachzudenken. Dann hatte sie den Unfall. Wünsche gehen in Erfüllung, sagt sie, und überlege dir gut, was du dir wünschst.
Jetzt bin ich 29. Was wünsche ich mir?
An Bord jedenfalls fehlt mir nichts. Als die Sonne langsam sinkt, ist das IJsselmeer golden und der Himmel rosa. Wir tragen das Klavier aus dem Lager an Heck, und die Niederländer spielen ein Ständchen, das sie vorbereitet haben. Ich schließe mich gleich an, auch wenn ich nichts vorbereitet habe, aber das macht nichts, denn Jeroen kann sowieso alles spielen. Und was das für ein Gefühl ist, hier auf dem Schiff zu singen, das Wasser um uns, der warme Abendhimmel. Und bald singen alle mit, bald spielt Arne Akkordeon. Diese Crew kann einfach alles.
Später, als wir weiterfahren, tragen die Männer das Piano wieder unter Deck. Dort musizieren wir weiter, niederländische, deutsche und englische Kassenschlager. Keiner will so recht aufhören, die Schiffscrew sitzt auch verträumt auf den Treppen und lauscht.
Irgendwann aber ist es so spät, dass es Zeit ist. Wir trinken noch einen Whiskey – dann geht es ab in die Zellen.

Sonntag.
In Wahrheit bin ich ja gar nicht als Gast an Bord. In Wahrheit bin ich ja als Sängerin hier, denn was könnte es eigentlich Besseres geben?
Schweren Herzens bringe ich mein Gepäck an Bord. Nicht, weil die Isolierzelle so schön war, sondern weil es heißt, dass der Segelausflug zu Ende gehen wird. Wir stechen in See, lassen Hoorn hinter uns. Dunja packt ihre Ukulele aus und so sitzen wir an Bord in der Sonne, spielen und singen und haben einfach die beste Zeit. Beim Mittagessen geben Arne und ich die Begleitmusik. Arne kann auch einfach alles spielen.
Und plötzlich sind wir da, laufen wieder im Hafen IJburgs ein. Die ersten Crewmitglieder müssen sich verabschieden. Sind alle so wehmütig wie ich? Ich hatte eigentlich einen Zug gebucht, aber Dunja und Timo bieten an, mich mit dem Auto mitzunehmen, sie fahren sowieso über Kassel. Das nehme ich gerne an, denn so habe ich die Chance, Arian und Lily noch einmal zu sehen und mich zu verabschieden.
Dann ist es so weit. Die Kutsche wartet vor der Tür – ein schneidiger Tesla, und nicht anders würde ich diesen grandiosen Segelausflug beenden wollen. Christina bringt uns bis zum Auto, umarmt Dunja zweimal und ich winke aus dem Fenster.
Der Tesla gleitet los. Amsterdam zieht an mir vorbei. Die Tattoos kleben noch immer an meinen Armen, und im Kopf singe ich einfach weiter und weiter.  

 


In 20 Jahren wirst du mehr enttäuscht sein über die Dinge,
die du nicht getan hast,
als über die Dinge,
die du getan hast.
Also löse die Knoten,
laufe aus, aus dem sicheren Hafen.
Erfasse die Passatwinde mit deinen Segeln.
Erforsche, träume.


(Mark Twain)