Abends, kurz nach neun Uhr, rollt mein ICE in Wuppertal ein. Ich bin die erste, die aussteigt. Heute bin ich mit Koffer unterwegs. Es ist erstaunlich laut, das Klackern der Rollen, das mich bei
Schritt und Tritt verfolgt, während ich meinen Weg Richtung City suche.
Draußen ist es schon dunkel. Das Hotel Astor, wo ich übernachten will, ist nur wenige Minuten vom Bahnhof entfernt und schnell gefunden. Am Check-in werde ich sofort identifiziert.
„Sie müssen dann die Frau Lang sein!“
„Wow“, fällt mir nur ein, und der Herr lacht freundlich.
„Sie sind die letzte, die heute eincheckt, deswegen.“
Ich bekomme die Schlüssel und fahre mit dem Aufzug in den vierten Stock, sperre mein Zimmer auf und lade erstmal ab. Ich trinke das Wasser, das auf dem Tisch steht, und blicke aus dem Fenster.
Eine sterile Wand befindet sich mir gegenüber.
Noch ist es nicht zu spät. Ich beschließe, wenigstens ein paar Minuten die Innenstadt zu erkunden.
Seltsam ist es, allein durch die Stadt zu laufen. Ich habe den Eindruck, dass fast nur Männer unterwegs sind. Manche angetrunken. In den Restaurants sitzen die Menschen gesellig beisammen, dort
sehe ich auch Frauen. Ich wandere ziellos umher, bis zu einem Brunnen vor einem Gebäude, das alt aussieht – das erste Gebäude, das alt aussieht. Ein Stück gehe ich noch weiter, doch hier scheint
nichts Vielsprechendes mehr. Ich kehre um. Weiche den einzelnen, schwankenden Männergestalten aus. Einer torkelt trotzdem zielstrebig auf mich zu.
„Gute Frau!“, ruft er mir zu.
„Nein, Entschuldigung“, sage ich und gehe schneller. Hinter mir höre ich ihn: „Nein, wirklich, wie alt sind Sie?“
Ich verstehe nicht, was das nun wieder zu bedeuten hat, und gehe gekränkt meiner Wege. Nahe beim Hotel steht eine Statue der Weberin Mina. Trotzig sieht sie mich an und ich gehe weiter.
Wohin?
Meine Füße tragen mich zurück zum Bahnhof. Ich mag Bahnhöfe. Und jetzt erst sehe ich ihn richtig. Ein schönes Gebäude, das muss ich sagen. Irgendwelche Punkte leuchten wie Sterne am dunklen
Nachthimmel und das Bahnhofsgebäude ragt wie eine moderne Akropolis davor auf. Menschengruppen bewegen sich zielstrebig darauf zu. Rechts davor geht es über weiße Treppen zu einem majestätischen
Bankgebäude hinauf. Langsam sollte ich ins Bett, denke ich, morgen muss ich ja fit sein. Aber nun hat mich doch die Entdeckerlust gepackt. Und sieh einer an: Hier oben stehen silberne Löwen und
ich bin seltsam ergriffen.
Beim Frühstück am nächsten Morgen suche ich sie: die anderen Teilnehmer der Tagung zum Vormärz, für die ich angereist bin. Sechs von uns müssten hier im Hotel sein. Ich frage fälschlicherweise
eine junge Frau aus Kiel, ob sie zur Tagung hier ist. Ist sie nicht. Dann jedoch findet mich die Tübinger-Fraktion – zwei Historiker, die später über den Crash von 1825/26 und das
Eisenbahnaktienfieber sprechen werden. Ich bin froh, mein Müsli in Gesellschaft löffeln zu können, frage die beiden, ob sie noch diese und jene Person aus Tübingen kennen oder nicht – schließlich
habe ich drei Jahre dort gelebt. Dann finden wir am Nebentisch die Literaturwissenschaftlerin der Universität Münster, die einen Vortrag über Büchners Woyzeck halten wird. Ich setze mich für den
Kaffee zu ihr.
Zu viert teilen wir uns ein Taxi und fahren zur Uni, die brachial auf dem Grifflenberg ruht.
Woyzeck, Heine, ein Spion namens Joel Jacoby – und dann die Mittagspause. Die Häppchen sind edel. Ich verspeise ein Stück Quiche, plaudere hier und dort. Und weiter geht es.
Nach dem letzten Vortrag zum deutschen Zollverein in der Lyrik des Vormärz, ruft allmählich die Stadt. Aus dem hoch oben gelegenen Universitätsgebäude blicke ich sehnsüchtig auf die grünen
Wälder, die wir von hier sehen können.
Mit der Woyzeck-Expertin und der Studierenden der Universität Heidelberg, die über die Lyrik Heinrich Heines gesprochen hatte, laufe ich nun von der Universität hinab in die Stadt. Frische Luft,
wie schön! Und die Bäume auf dem Campus blühen grün. So schlecht wäre es hier eigentlich nicht. Wir erfrischen uns kurz im Hotel und machen dann das, was man in Wuppertal wohl unbedingt machen
muss: Wir drehen eine Runde in der Schwebebahn. Wir steigen wahllos beim Bahnhof ein und fahren in irgendeine Richtung. Es ist wie fliegen. Unter uns gleitet die Wupper dahin; wenn die Bahn hält
und die Türen öffnet, sieht man, wie der Wagen leicht schaukelt, hin und her, hin und her.
Im Luisenviertel soll es die besten Restaurants geben. Dort fahren wir mit der Schwebebahn schließlich hin und schlendern umher, bis wir ein hübsches türkisches Restaurant gefunden haben. Wir
essen und stoßen mit fruchtigem Rotwein auf die gelungene Tagung an.
Alleine zu verreisen, das hat etwas. Leute vor Ort zu finden – das hat mehr.
Prost!
Allein in einer fremden Stadt herumwandeln –
verlassen von allen Angehörigen, Freunden und Bekannten –
ach, wenn ich das nur könnte!
(Otto Weiß)