Mein Zug fährt im Bahnhof Dresden ein und Nick wartet schon am Gleis auf mich.
„Einen Sturm später“, lache ich und umarme ihn. Wir freuen uns über das Wiedersehen und irren eine Weile im Bahnhofsgebäude umher, auf der Suche nach den Schließfächern. Nachdem ich endlich
meinen großen Rucksack weggesperrt habe, kann es losgehen. Dresden, die Stadt, aus welcher der Dresdner Christstollen stammt und wo im Übrigen auch der BH seinen Ursprung hat. 1899 meldete
Christine Hardt ein derartiges Patent an. Nun aber ist weder die Zeit, einen Stollen zu essen, noch über BHs zu philosophieren. Es ist Ende März und das Wetter ist nicht gut. Es nieselt, als wir
in die Stadt gehen, der Himmel ist grau. Wir laufen an Plattenbauten vorbei, an einem Primark, suchen vergeblich auf einer Karte, wo wir sind – und plötzlich sind wir doch da: in der Altstadt.
Wir spazieren gemächlich unter Nicks halb zerrupftem Regenschirm zum Neumarkt, in der Hoffnung dort ein Mittagsmahl zu finden. Der Neumarkt ist wirklich ein schöner Anblick! Prachtbauten in
pastellgrün, rosa und hellblau reihen sich aneinander – und daneben steht die berühmte Frauenkirche. Ein schwarzes Denkmal von Friedrich August II., König von Sachsen, ist auf der anderen Seite
des Platzes. Ganz in der Nähe finden wir ein hübsches Lokal: Umaii, eine Ramenbar. Ich bestelle mir die Mock Duck Ramen, mariniertes Seitan, dessen Geschmack, so verspricht die Karte, schwer von
Ente zu unterscheiden sein soll. Die Suppe ist gut, aber wie Ente schmeckt das Seitan nicht. Dazu trinken wir beide einen Becher Ocha, einfachen grünen Tee.
Danach, aufgewärmt und gestärkt, sehen wir uns die Frauenkirche von innen an. Das barocke Ambiente wirkt freundlich auf mich, hell. Der Altarraum leuchtet golden, darüber thronen silberne
Orgelpfeifen. Die Kirchenkuppel ist gigantisch. Wir sehen uns die sogenannte Unterkirche an, wo das Grabmal des Baumeisters George Bähr (1666–1738) steht. Dresden, das im zweiten Weltkrieg
schrecklich zerstört wurde, ist gut renoviert worden – und manches hat sich gänzlich gehalten. Wieder draußen im Regen flanieren Nick und ich so zum Fürstenzug, einem Bild eines Reiterzugs auf
23.000 Fliesen aus Meißner Porzellan. Es gilt als das größte Porzellanwandbild der Welt, ist 102 Meter lang und zeigt die Ahnengalerie der Markgrafen, Herzöge, Kurfürsten und Könige aus dem
Geschlecht des Fürstenhauses Wettin, angefangen bei Konrad dem Großen (1127–1156) und endend bei Georg (1902–1904). Der Zug beginnt mit den Worten:
EIN
FÜRSTENSTAMM,
DESS HELDENLAUF
REICHT BIS
ZU UNSERN TAGEN,
IN GRAUER VORZEIT
GING ER AUF
MIT UNSRES VOLKES
SAGEN.
Dahinter reiten stolz einher Friedrich der Gebissene, Friedrich der Ernsthafte, Friedrich der Strenge, Friedrich der Streitbare, Ernst, Friedrich der Sanftmütige, Albrecht der Beherzte, Friedrich
der Weise, Johann der Beständige, Johann Friedrich der Großmütige, Georg der Bärtige und Heinrich der Fromme, um nur ein paar zu nennen. Zu guter Letzt steht:
DU ALTER STAMM,
SEI STETS ERNEUT
IN EDLER FÜRSTEN
REIHE;
WIE ALLE ZEIT
DEIN VOLK DIR
WEIHT
DIE ALTE DEUTSCHE
TREUE.
Der Regen wird immer stärker und ich bereue, weder meinen eigenen Regenschirm dabei zu haben, noch so etwas wie Mütze oder Handschuhe. Gestern noch hatten wir in Kassel blendend sonniges
Frühlingswetter genossen – und nun das! Doch Nick und ich genießen unseren Ausflug nichtsdestoweniger. Wir laufen zur Elbe, überqueren die Brücke und spazieren am Fluss entlang, vorbei an vom
Regen schweren Kirschblütenbäumen. Im Emils trinken wir einen Kaffee und stöbern etwas in meiner Broschüre, die ich mir vorhin bei der Touristeninformation geholt habe. Bekannt ist Dresden auch
für die Staatlichen Kunstsammlungen im Dresdner Residenzschloss, das auf dem kleinen Foto ganz fabelhaft aussieht. Dann aber stoßen wir auf etwas viel Interessanteres: Kaffeekultur – dor
gemiedliche Gaffeesaggse. Der gemütliche Kaffeesachse stand wohl schon im Wörterbuch der Gebrüder Grimm, da die Kaffeekultur in Sachsen großgeschrieben wird. „Interessant“, bemerke ich zu Nick,
„ich weiß nicht wieso, aber ich hatte auch dauernd das Gefühl, dass Kaffee und Dresden zusammengehören.“
Direkt neben dem Eintrag zur Kaffeekultur springt uns das verlockende Wörtchen Leckereien an. Nick liest vor: „Schokolade als Dresdner Original? Obwohl die Schweizer die Erfindung der
Milchschokolade im Jahr 1875 für sich beanspruchen, ist zweifelsfrei erwiesen: Bereits 1839 wurde in Dresden die erste Milchschokolade hergestellt. Mitglieder des Dresdner Wissenschafts-Vereins
WIMAD fanden das ursprüngliche Rezept. Eine Milchschokolade mit Eselsmilch aus dem Hause des Dresdner Unternehmens „Jordan & Timaeus“. Ganz unter uns: Die Eselsmilch, nur wenig Zucker und
grob gemahlener Kakao ergaben eine äußerst herbe Schokolade. Die damalige Mischung wäre für heutige Gaumen kein Schmaus gewesen.“ Wir blättern einige Seiten weiter, wo nun die Leckereien Dresdens
gelistet werden, zum Beispiel die Dresdner Eierschecke. Ich verliere das Interesse und sehe dem Regentreiben draußen zu, doch Nick entdeckt etwas: Camondas Schokoladenwelt. Beim Altmarkt muss
sich dort ein Schokoladen-Kontor, eine Kakaostube und ein Schokoladenmuseum befinden – alles unter einem Dach.
Wir machen uns sofort auf den Weg. Beim Eintritt springt uns sofort das reiche Angebot von Schokoladen jeder Sorte ins Auge. Wir sehen uns alles an und entschließen dann, ins Museum zu gehen. Wir
erhalten drei Schokoladenproben zum Verkosten – und los geht’s. Wir lernen über Anton Reiche, der 1870 in Dresden eine Schokoladenformen- und Blechemballagenfabrik gründete und sich schnell zum
wichtigsten Vertreiber in Europa entwickelte. Wir sehen uns die mannigfaltigen Blechformen an, Möpse und riesige Hasen, die eher wie Foltergeräte aussehen. Dresden gilt als einstige
Schokoladen-Hauptstadt Deutschlands. Dann kommen wir zu einem Bildschirm, der uns das Schokoladenmädchen zeigt. Ich bin begeistert. Die Pastellmalerei von Jean-Étienne Liotard von 1744 zeigt ein
Wiener Stubenmädchen, das Trinkschokolade serviert. Sie trägt eine rosa Haube, ein orangenes Kleid und auf ihrem Tablett steht eine Tasse Kakao und daneben ein Glas Wasser. Außerdem erfahren wir
vom Verband deutscher Schokoladenfabrikanten. Früh schon wurde Schokolade mit allerlei Zusatzstoffen verunreinigt, damals unter anderem auch durch Sägespäne. Der Verband setzte sich für ein
Reinheitsgebot bei der Schokoladenproduktion ein. Die einzigen drei erlaubten Zutaten waren Kakaobohnen, Zucker und Kakaobutter. Auch die Geschichte der Schokolade kommt nicht zu kurz. So lesen
wir, dass schon 1150 v. Chr. erste Kakaospuren an einem Tongefäß der Olmeken in Mexiko nachweisbar waren.
Vier Hauptkakaosorten gibt es übrigens: Criollo ist der Edelkakao und gilt als bester Kakao der Welt. Ihm folgt Trinitatrio, der kräftig und leicht säuerlich schmeckt. Auch zum Edelkakao zählt
Nacional, der nur in Ecuador wächst und milde, blumige Aromen hat. Forastero dagegen ist der sogenannte Konsumkakao, der oft etwas bitter mundet. 90 Prozent des weltweit vertriebenen Kakaos ist
jener Forastero. Nacional ist mit immerhin 5 Prozent vertreten, Trinitario mit 4. Der Königskakao, Criollo kommt gerade mal auf ein Prozent.
Kakaobäume wachsen gerne im Schatten. Die Kakaofrüchte können nur per Hand geerntet werden. Mein Respekt vor Schokolade wächst und wächst.
Im letzten Raum geht es um die vielfältigen Arten von Schokolade, die wir mittlerweile genießen können und welche Zutaten zur Verfeinerung gerne genutzt werden – Matcha beispielsweise. Da ich
letzthin erst einen Matcha-Teekurs absolviert habe, bin ich ganz Feuer und Flamme, eine Matcha-Schokolade zu probieren. Nick dagegen interessiert sich sehr für Whiskey als Schokoladenzutat.
Aber zuerst geht es noch in den Verköstigungsraum. Nick und ich setzen uns an einen Tisch und packen unsere Probierproben aus. Wir starten mit einem Milka-Vollmilchplättchen. In fünf Schritten
sollen wir nun die Schokolade beurteilen.
1. Sehen: Das Milka-Täfelchen ist hellbraun und irgendwie fettig.
2. Hören: Wir brechen die Schokolade und hören eigentlich nichts dabei.
3. Fühlen: Die Tafel klebt etwas an den Fingern.
4. Riechen: Süß, wenig Kakao im Geruch.
5. Schmecken: Zu süß, finde ich. Trotzdem: Schokolade ist und bleibt Schokolade und ich finde es gar nicht mal schlecht.
Die zweite Schokoladenprobe ist von Cluizel aus Paris. Die Sorte nennt sich Kayambe, mit einem 45-prozentigem Milchanteil. Sie glänzt tiefbraun, und diesmal hören wir es auch knacken beim
Brechen. Sie fühlt sich geschmeidiger an und duftet definitiv mehr nach Kakao als Milka. Vor allem schmeckt sie auch nach Kakao – und lange. Sie ist weniger süß, viel intensiver in ihren Aromen.
Toll.
Zuletzt gibt es noch einen weißen Kontor Trüffel von Camondas selbst. Der ist auch lecker, aber mir hat die Grand Lait von Cluizel noch besser geschmeckt.
Es bleibt nur: das Shopping im Schokoladenladen, nach dem Museumsbesuch sogar mit Rabatt. Nick kauft eine Single Malt Whiskey Schokolade von Schell, eine Blanco von Simón Coll und eine
Milchschokolade von Blanxart. Und ich werde auch fündig: Die im Museum empfohlene Matcha-Schokolade.
Zuhause bei Nick hatte Nick noch gesagt: „Die Frage ist nur, wann der richtige Zeitpunkt ist, diese edle Schokolade zu essen.“
Ich weiß es: jetzt.
1. Sehen: Die Marke ist ungarisch – Rózsavölgyi Csokoládé. Das Papier ist weiß und golden. Als Zutaten stehen hinten Zucker, Kakaobutter, Milchpulver, Vanille, Estragon, Pfefferminze, Matcha,
Zitronenöl und Walnussöl. Die Schokolade liegt kühl in meiner Hand. Ich mache die Verpackung auf. Wow. Die Schokolade ist grün! Sie zeigt verschnörkelte Muster.
2. Hören: Ich breche mir eine Ecke ab. Knack. So laut!
3. Fühlen: Kühl und glatt ist die Schokolade.
4. Riechen: Ich rieche das Matchapulver, die Kakaobutter.
5. Schmecken. Ohne Worte.
Ein frohes, heiteres Gemüt ist die Quelle alles Edlen und Guten;
das Größte und Schönste, was je geschah, floß aus einer solchen Stimmung.
Kleine, düstere Seelen, die nur die Vergangenheit betrauern
und die Zukunft fürchten,
sind nicht fähig, die heiligsten Momente des Lebens zu fassen,
zu genießen und zu wirken, wie sie sollten.
Erinnerung scheint ihnen nicht süße und Zukunft nicht tröstend.
(Friedrich von Schiller)