· 

Reischach

Während der Rückreise nach Kassel fällt mir ein, dass Lea heute Geburtstag hat. Ich stehe am Gleis, warte auf den Anschlusszug. Ich fusele mein Handy aus der Jackentasche, wünsche Lea alles erdenklich Gute. Sie schreibt mir gleich zurück. Bedankt sich. Auf meine Frage, ob es ihr denn gut geht, schreibt sie nur, den Umständen entsprechend, der Krieg liegt uns allen schwer im Magen.
Mein Herz setzt einen Schlag aus. Sofort gehe ich in Google. Russland. Natürlich. Es ist passiert. Den Abend davor hatte ich noch mit Ole darüber gesprochen. Wir hatten beide gedacht, dass es nicht passiert. Doch wir Menschen sind, wie wir sind. Raubtiere, Mörder, Tyrannen und Egoisten. Nicht alle. Aber zu viele. Und immer die mit Einfluss.
Mein idyllischer Kurzurlaub im Süden Bayerns ist wie weggefegt. Wo ist er hin?

Am Dienstag war ich mit dem Zug in Neumarkt St. Veit angekommen. Ole hatte mich mit dem Auto abgeholt. Zusammen sind wir nach Reischach gefahren. Hier, kurz vor Österreich, konnte man bei klarem Himmel die Bergketten am Horizont sehen. Ein befreiender Anblick.
Astrid wartete mit dem Kleinen zu Hause. Sie hatte ihn auf dem Arm, Finn heißt er. Stand mit dem Jungen in der Tür und winkte mir zu, während wir die Treppen hinaufstiegen.
Anfangs war er noch schüchtern. Aber bald schon taute er auf. Stolz zeigte er mir jeden Zentimeter der Wohnung, der Fokus lag auf dem Boden. Immer wies er auf ein unsichtbares Etwas, entweder auf dem Teppich, oder auf dem Parkett. Ich sah es mir höflich an und fragte mich, was es dort eigentlich zu sehen gab.
Ole kochte währenddessen für uns. Ich fühlte mich gut aufgehoben. In der Wohnung war es warm, nach dem Essen gab es Kaffee. Obwohl erst Ende Februar, fühlte es sich schon frühlingshaft an. Astrid und ich packten Finn in seine Jacke und setzten ihn in den Kinderwagen. Zu dritt zogen wir los, einen kleinen Berg hinauf; hinein in den Wald. Finn ist jetzt bald zwei Jahre. Wir hoben ihn aus dem Kinderwagen und zufrieden stiefelte er alleine los. Wir natürlich immer hinterher, jede zu einer Seite. Finn war im Wald ganz selbstvergessen. Er sammelte Stöcke verschiedener Größen auf und klopfte damit sachte gegen die Baumstämme. Unterschiedliche Klänge resonierten. Er wurde dieses Spiels nicht müde. Das Laub lag dick auf dem Pfad. Astrid und ich warfen Haufen davon in die Höhe und ließen sie auf den lachenden Finn fallen. Am anderen Ende des kleinen Waldes fanden wir eine freie Fläche, hügelig, grün. Finn wollte gerne weiter. Ich rief: „Finn, guck mal!“, und schlug ein Rad für ihn. Er war begeistert, Astrid auch.
Und ich dachte mir, dass all das viele Sitzen und Denken wirklich nicht gut war für mich.
Bald kehrten wir um. Es wurde dunkler, manche der Bäume ächzten noch gefährlich. Die letzten Stürme waren stark und zahlreich gewesen. Wir wollten nicht von einem Baum erschlagen werden.
Zuhause brachten wir Finn ins Bett und öffneten dann einen Wein für uns. Dazu holten wir den Laptop und sahen uns die Hochzeitsfotos von vor zwei Jahren an. Wie lange das her war. Menschen, die sich umarmen, ohne Maske, ohne Abstand, eine andere Welt.
Der Wein machte uns alle müde. Im Wohnzimmer, wo ich gleich neben dem Ofen schlief, war ich sofort weggedöst.

Um sechs Uhr morgens standen Astrid und Finn in der Tür. Sie krochen zu mir ins Bett und zu dritt kuschelten wir unter der Ecke. Ich war noch verschlafen, doch Kinder fordern immer alle Liebe, die sie haben können. Und Finn war schrecklich süß. Er ließ sich kitzeln, knuddeln, lachte und quietschte entzückt. Er hatte große, braune Augen und lange, dichte Wimpern. Kleine Hände, kleine Füße. Und wir hatten großen Kaffeedurst.
Ole schlief noch. Ein großer Kaffeetrinker war er sowieso nicht. Finn auf dem Arm setzte ich Kaffee für uns auf, der Junge dabei äußerst hilfsbereit. Wasser in die Maschine, alten Kaffeesatz in den Müll, Filter holen, Kaffee rein, Knopf drücken. Ich war fasziniert davon, wie fasziniert Finn von einfach allem war. Und wie zutraulich.
Immer wieder zeigte er mit dem Finger aus dem Fenster.
Am Nachmittag fuhren wir zu einem Naturschutzgebiet. Wasser, wie ein Sumpf, in dem sich die goldenen Halme spiegelten, und dahinter der Wald, bergig, von Felsklippen durchzogen. Der Weg war mit einem Band abgesperrt – wir gingen trotzdem weiter. Ole trug Finn auf dem Arm, der quengelte, weil er selbst laufen wollte. Doch das brauchte leider noch sehr viel Zeit. Wir trugen ihn bis zum Bachlauf. Dort setzten wir ihn ab. Sofort patschte er ins Wasser, mit den zu großen Gummistiefeln. Seine Finger suchten Steine im Wasser und ließen sie aus einer Höhe wieder hineinplumpsen. Er ließ Stöckchen die Strömung hinabtreiben, und Laub. Der Wald um uns war vom Sturm geschädigt. Bäume waren gefallen, die Wurzeln ausgerissen worden von der Kraft der Natur. Wir folgten dem Bachlauf, bis Finn sich mit dem Po ins Wasser setzte und wir den Ausflug abbrechen mussten.
Zuhause buk ich. Ole hatte sich einen Manhattan Cheesecake gewünscht. Ich zerkrümelte die Vollkornkekse für den Boden und verrührte Eier und Frischkäse für die Füllung. Die Vanille duftete mir entgegen. Warm noch stellten wir den Kuchen auf den Balkon, wo er ausdampfen konnte. Später aßen wir ihn mit Blaubeeren.
Nachdem Finn schlafen gegangen war, machten wir es uns auf dem Sofa gemütlich, mit Wein und Snacks. „Wollen wir Stolz und Vorurteil gucken?“, fragte Astrid, und ich erwiderte: „Ich gucke sowieso nur noch Filme, die im 19. Jahrhundert spielen, groovt mich für die Doktorarbeit ein.“
Also sahen wir den Bennetts beim Tanzen und Spazieren zu, beim Bänderkaufen und beim durch den Regen rennen. „Warum gibt es heute keine Bälle mehr?“, fragte ich, und darüber wurden wir alle sehr betrübt.

Am nächsten Morgen ließ Finn uns eine gnädige Stunde länger schlafen. Ole machte Frühstück und Finn wollte alles, was wir aßen. Heute Nachmittag fuhr mein Zug zurück nach Kassel. Der Morgen war wieder sonnig, obwohl es über Nacht gefroren hatte. Wir packten den Kleinen ins Auto und fuhren nach Burghausen zur größten Burganlage Europas. Alle anderen Eltern hatten ihre Kinder im Kinderwagen. Finn aber durfte alles selbst gehen, und dazu hatte er auch große Lust. Stetig wackelte er vorwärts und holte sich zwischendurch Tee, Cracker und eine kleine vegane Wurst bei Astrid ab. Von der Burg aus sahen wir auf den Inn. Dahinter war Österreich schon. Am Ende der Anlage stiegen Ole und ich verbotenerweise auf die Zinnen und sahen uns das Land unter uns an. Astrid hatte Finn mittlerweile auf dem Arm. Es war ein langer Weg gewesen. Sie und Ole wechselten sich mit dem Tragen ab. Zurück im Auto waren wir alle ganz müde.
Nach dem Essen fuhren Astrid, Finn und ich zum Bahnhof. Finn war anhänglich. Er wusste genau, dass ich fahren würde. Er führte mich an der Hand durch die Sonne und sah den vorbeifahrenden Autos hinterher. Als mein Zug kam, stieg ich ein und winkte den beiden. Finn winkte zurück. Astrid auch. Melancholie in ihren Augen. Diese Entfernungen zwischen uns – wann würden wir uns das nächste Mal sehen?
Im Zug las ich mein Buch zu Ende und war begeistert. Die Kraft der Geschichten, dazu ein paar Tage unter Freunden auf dem Land. Was gab es Besseres?

Der Krieg liegt uns allen schwer im Magen. Wie wahr. Er hat mir meine gerade gewonnene Leichtigkeit wieder genommen und nun muss ich sehen, wie ich sie wiederfinde.
Der Himmel ist blutrot.


Ich höre vieler Menschen Schritte tasten –
verirrte Menschen, einsam, müd und arm –
und keiner weiß, wie wohl ihm wär und warm,
wenn wir einander bei den Händen faßten.

(Erich Mühsam)