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Hamburg

Als mein Zug langsam in Hamburg einfährt, ist es draußen schon dunkel. Die Tage werden so kurz im Dezember. Ich habe es satt, zu sitzen, und stelle mich schon früh mit meinem Gepäck vor die Tür und sehe aus dem Fenster. Ein großer, dunkler Fluss schimmert leicht.
S. und A. holen mich netterweise ab. Mit der S-Bahn sind es nur wenige Haltestellen zu der Wohnung, die uns für dieses Wochenende zur Verfügung steht. Sie liegt direkt bei der Reeperbahn. Weder S. noch A. wohnen dort wirklich. S. hat die Wohnung für einige Tage, um auf einen Kater aufzupassen.
Der Kater heißt Pörli. Er ist schon 16 Jahre alt, groß und stattlich und trägt einen Smoking. Ihm scheint es zu gefallen, dass sich dieses Wochenende so viele um ihn kümmern. L. ist auch hier. Sie ist schon wenige Stunden vor mir angekommen. S. erzählt, dass sie einen kleinen Kulturschock hatte, weil sie in der S-Bahn erstmal von einer Gruppe alter Männer dumm angemacht wurden. Die charmanten Begegnungen, die Großstädte so mit sich bringen.
Aber nun sind wir hier, glücklich vereint, mit Pörli. Die Wohnung ist toll. Alles ist im Retro-Stil eingerichtet, groß und geräumig, und L. und ich haben unser eigenes Zimmer mit einem hübschen, alten Spiegel. Pörli will gerne gestreichelt werden, doch er hat durchaus Charakter. Seine Anhänglichkeit ist mit Vorsicht zu genießen. Er weiß, dass er der Chef ist. Er liegt am liebsten auf einer weißen Matte neben einem Kratzbaum, den er nur noch selten erklimmt, und spielt mit einem Fisch. Sein Bauch ist rasiert. Pörli hatte ein Problem, das hier nicht näher erörtert werden muss. Wir wollen ihn gesund pflegen. Es uns gut gehen lassen. Wir bestellen Pizza und A. Hähnchen. Pörli sitzt vor ihm und wartet vergebens auf eine Spende.
In diesem Haus wohnen viele Tiere. A. lebt in einer WG einige Stockwerke über uns. Nach dem Essen werfen wir noch einen Blick in seine Räumlichkeiten, um vor allem eines zu bewundern: Oz. Oz ist ein kleiner, schwarzer, junger Kater. Er klettert in Lichtgeschwindigkeit seinen Kratzbaum hoch und wieder herunter und hängt leger in der Mitte auf einem Ast herum. Am liebsten sitzt er bei A. auf der Schulter. Dort will er gar nicht mehr herunter. A. träumt davon, mit Oz auf der Schulter und einem langen, schwarzen Mantel über den Kiez zu laufen.
In der Wohnung nebenan, ganz oben im Gebäude, läuft eine Party. Die Tür steht offen, die Leute sitzen auf dem Boden und trinken. A. schaut vorbei, wir drei bleiben bei Oz. Als A. wiederkommt, lacht er und sagt: Ihr seid schon drei so Katzenweiber.
Stimmt.

L. ist Fotografin. Sie finanziert sich unser Wochenende mit einer Reihe Shootings, die sie geplant hat. Sie hat S. schon vorab per Post ein großes, schwarzes Designer-Kleid geschickt. S. ist Model. Am nächsten Morgen steht sie lange vor dem Spiegel und schminkt sich schwarz und golden. Sie kann das sehr gut. Dann fahren wir zum Friedhof Ohlsdorf, wo ein Fan von L. uns schon erwartet. Der Friedhof ist die perfekte Shooting-Location. Natürlich posiert niemand auf den Gräbern. Die Anlage ist sehr weitläufig und dient auch als Erholungspark. S. läuft in dem weiten, federnden Kleid zwischen einer Reihe von runden Buchsbäumen entlang, eine Treppe hinauf. Ich schieße Behind-the-Scenes-Fotos, L. fotografiert S.. A. hebt S. in ihrem gigantischen Rock auf ein Geländer, der Fan sieht zu. Zwischendurch verliere ich mich selig in den kleinen Abzweigungen, die zu prominenten Grabsteinen führen. A. weist mich auf einen besonders interessanten hin. Otto Witte, steht dort, ehem. König von Albanien, geboren 1872 und gestorben 1958. Wir googeln Otto Witte. Auf Wikipedia steht: Otto Witte war ein deutscher Jahrmarktskünstler und Hochstapler.
Unsere Laune steigt.
Wir wandeln durch den Park, S. wird hier und dort fotografiert, bis sie auf einer pittoresken Brücke landet. Auf dem Weg zurück von dort zum Auto läuft uns eine ältere Dame entgegen. Sie bleibt vor uns stehen und sagt: Da muss ich jetzt aber mal gucken.
Wir erklären, dass wir shooten, und die Frau fragt, ob wir den Film Die Braut trug schwarz kennen. Wir verneinen. Sie wünscht uns noch viel Spaß und ich finde die Hamburger*innen irgendwie nett.

Am Abend wollen wir uns so richtig etwas gönnen. Wir haben im Dining Room reserviert und treffen dort P., einen langjährigen Freund L.s. Ein bisschen fühlen wir uns wie die Landeier, weil wir nicht genau wissen, wie viele Gänge wir bestellen müssen, ohne unhöflich zu sein. Es gab sogar einen Dresscode. Business casual. Die Leute hier haben ganz offensichtlich Geld, und wir tun für einen Abend mal so, als ob das auch auf uns zutreffen würde. Wir essen Magic Mushroom Soup, Oktopus und Steak, und natürlich Dessert. Cheesecake, Blaubeersorbet und etwas, das S. nur als Vanilleeis betiteln kann, obwohl da definitiv mehr auf ihrem Teller liegt. Am Ende wollen wir separat zahlen, das scheint die Kellner jedoch in eine Krise zu stürzen, so dass wir es anders regeln. Ich frage mich, ob in so teuren Restaurants etwa immer eine Person alles zahlen muss und wieso. In dieser Welt gibt es viele Regeln, die ich nicht kenne und deren Sinn ich gerne hinterfrage.
Nach dem Essen gehen wir noch zu uns auf die Reeperbahn. Wir trinken Moscow Mule und Limonade und quatschen noch bis tief in die Nacht, während wir Pörli mit einem Spaghettiheber massieren, seinem liebsten Massagegerät. Übermütig schmust er dann seinen großen Kopf gegen uns.
Irgendwann verabschiedet P. sich. A., der alle Haustiere seiner Mitbewohnerin versorgt, muss tief in der Nacht noch mit Coda, dem Hund, Gassi gehen. Coda steht fröhlich und auch ein wenig verlassen im Flur und lässt sich schwanzwedelnd von uns streicheln, ehe A. mit ihm in die Nacht verschwindet.

L. und ich müssen früh am Morgen raus. L. hat ein Kundenshooting in den Boberger Dünen. Wir nehmen eine S-Bahn und warten dann lange auf den Bus, weil Sonntag ist. Dicke Schneeflocken fallen vom Himmel. Wir sehen dem Treiben zu. Uns gegenüber ist ein Kosmetikinstitut, eine Spielhalle und eine Bäckerei. Neben uns zelten zwei Obdachlose.
In den Dünen ist es schön. Aber wie sind sie mitten nach Hamburg gekommen? Diese Welt steckt voller Rätsel. Zwischen ihnen wachsen knorrige, weiße Birken. Zahllose Fußspuren verlaufen durch den Sand. Die Kundin zieht sich ihr selbstgenähtes Waldläuferkostüm an und posiert mal mit Schwert, mal mit Pfeil und Bogen.
Zuhause wärmen wir uns erst einmal mit Kaffee auf. Heute Abend geht schon mein Zug, aber den Nachmittag haben wir noch. Ein bisschen Touri-Programm sollte noch drin sein. Wir laufen durch die Kälte zum Hafen, vorbei an der berühmten Fischbrötchenbude Brücke 10, und sehen aufs eisgraue Wasser. Am anderen Ufer schimmert blau die Elbphilharmonie. Möwen flattern uns um die Köpfe.

Und dann heißt es, Abschied nehmen. Besonders schwer fällt das von Pörli. Werden wir uns jemals wiedersehen? Er liegt weich gebettet auf einer grauen Decke und putzt sich den Wrack. Dann schläft er ein und ich verlasse das Haus auf der Reeperbahn.


Katzen lieben Menschen viel mehr,
als sie zugeben wollen,
aber sie besitzen genug Weisheit,
es für sich zu behalten.

(Mary Eleanor Wilkins Freeman)