Frankfurt, das ist: graue, hohe Türme vor einem trüben Himmel. Ein Novembertag wie aus dem Bilderbuch, während mein ICE in den Hauptbahnhof einrollt. Mein Waggon befindet sich weit hinten am Gleis. Es dauert Minuten, bis ich mit den Menschenscharen in der Haupthalle angekommen bin. Im Zug war ich noch ganz entspannt, nun steigt der Stresspegel. So viele Leute, und wie langsam sie alle sind! Und ich: ein Teil der Masse. Erst laufe ich zum falschen Ausgang, dann finde ich den richtigen, der, der in die „City“ führt. Google Maps lotst mich zum Fluss. G. ist schon seit zwei Stunden hier und hat sich im Städel Museum die Zeit vertrieben. An den Masten der Brücke hängt ein riesiges Plakat zur aktuellen Rembrandt-Ausstellung und einem dazugehörigen Podcast: Blinded by Rembrandt. Ich gucke nur auf den Main. Lächle intuitiv, bemerke, dass ich lächle. Ein ruhiges Wasser, wie das beruhigt. Als ich nach vorne sehe, läuft mir schon G. entgegen. Sie lächelt auch. Wie schön, dass wir uns hier treffen, genau in der Mitte zwischen Kassel und Heidelberg, um einfach ein wenig Zeit miteinander zu verbringen. Beim Bäcker holen wir uns zuerst einen kleinen Snack, um uns zu stärken. Für den „Muji“ nämlich brauchen wir Zeit und Energie.
„Muji“ – dieser Laden ist der Grund (neben Rembrandt selbstverständlich), wieso G. nach Frankfurt wollte. Muji vertreibt meines Wissens vor allem Schreibutensilien. G. hatte mir vor Zeiten ein paar Gelstifte von Muji geschenkt, die – und ich übertreibe nicht – die schönsten Schreibgeräte waren, die ich je hatte. Jetzt sind sie natürlich alle leer und vor Ort kann man auch die Minen nachkaufen. Als wir den Laden betreten, bin ich sofort entzückt, obwohl so viel los ist. Muji hat ja nicht nur Schreibwaren, sondern auch Kleidung und eigentlich ein bisschen von allem. Muji ist eine japanische Marke und pflegt einen eleganten, neutralen Stil. Trotz meiner Begeisterung kann ich mich beherrschen und hole mir nur ein Set von Gelstiften in allen Farben. Das Bummeln durch den Shop macht Spaß. Die japanische Kultur fasziniert mich sehr, wieso weiß ich eigentlich auch nicht.
Danach wollen wir ein Heißgetränk. Weil wir nicht ewig das perfekte Café suchen wollen, setzen wir uns einfach in eine Kette, die Coffee Fellows. Wir holen uns Matcha Latte und ein Stück Karottenkuchen, der nicht zu verachten ist. Sitzen am Fenster und G. betastet die Blätter der Pflanze neben sich. Mich würde es nicht wundern, wenn sie sogleich eine kleine Gießkanne aus ihrer Tasche zaubern würde, um das Bäumchen zu gießen. Wir sprechen über: Corona, wie sich nun alles entwickeln wird, die Lage in Hessen, den viel besprochenen Keil in der Gesellschaft – und es tut gut darüber zu reden. Die Zeit vergeht wie im Flug. Wir machen uns auf, schließlich wollen wir auch noch etwas von Frankfurt sehen.
Im Zentrum begann man den Weihnachtsmarkt aufzubauen. Einige Buden hatten schon geöffnet. G. will in die Nikolaikirche. Zwei Idioten sitzen dort schon ohne Maske, weshalb wir schnell den Rückzug antreten. Schade, denn das Innere der Kirche hätte mir gefallen. Draußen bewundern wir die Fassaden der Häuser. Ich möchte ein schönes Foto machen, doch immer ist eine hässliche Bude im Weg. Wir bahnen uns einen Weg Richtung Dom. Kommen am Struwwelpeter-Museum vorbei und ich lerne, dass der Struwwelpeter, dieses furchtbare Kinderbuch 1844 der Frankfurter Arzt Heinrich Hoffmann für seine Kinder geschrieben hatte. Da wollen wir jedenfalls nicht rein. Mein Interesse weckt dagegen das Friedrich-Stoltze-Museum. Das allerdings ist bis auf weiteres geschlossen. War ja klar! Friedrich Stoltze (1816-1891) war Dichter und Herausgeber einer satirischen Zeitschrift, der „Frankfurter Latern“. An den Museumsfenstern prangen Karikaturen aus der Zeitschrift, und Text:
„Und wer im Dunkeln wird erwischt
Ob Armer oder Reicher,
Und wer jetzt noch im Trüben fischt
Die Mucker und die Schleicher;
Wo Heuchelei des Pudels Kern,
Und die im Dunkeln munkeln gern, –
Kurzum wer Schlechtes nur bezweckt,
Dem wird ein Lichtlein aufgesteckt.
Und was da kriecht und speichelleckt,
Vermummelt und verduckelt;
Und was sich hinter Andre steckt
Und feige katzebuckelt; –
Was sich mit fremden Federn schmückt,
Was sich vor falschen Götzen bückt,
Und doch ein Ehrenmann sich deucht,
Dem wird gehörig heimgeleucht’t.
Und wer noch träget stolz sein Haupt,
Wenn er ein Bettler wäre –
Und noch an Menschenwürde glaubt
Und noch an Mannesehre;
Wer Freiheit noch im Schilde führt,
Wen Schönheit noch und Unschuld rührt,
Der strahlt als Vorbild und als Stern,
Als grösstes Licht in der Latern.“
Friedrich Stoltze begegnet uns sogar im roten Dom wieder, der mir außerordentlich gut gefällt. G. erklärt mir, dass es nur rote Farbe ist. Neu?, frage ich. Die Orgel finde ich auch toll. Sie hat etwas Abenteuerliches an sich, wie ihre Reihen von Pfeifen hierhin- und dorthin ragen, wie ein Schiff, irgendwie muss ich an ein Schiff denken. Ein aufgelaufenes. Nur hoch oben. Es gibt sogar einen Weihwasserspender – raffiniert. Ich erzähle G. von einem Bild im Internet, auf welchem ein Junge zu sehen ist, der einen Senfspender mit einem Desinfektionsmittelspender verwechselt.
Und Stoltze, ja, Stoltze dichtet wie immer. 1867 brennt der Dom, in der Nacht, bevor ein neuer, ungeliebter Machthaber – Wilhelm – nach Frankfurt kommen soll. Stoltze schreibt:
„Alles, was uns lieb und theuer,
Was uns heilig, hoch und werth,
unsere Tempel fraß das Feuer,
unsere Freiheit fraß das Schwert."
Wir verlassen den Dom, der heute nicht brennt. Wir trinken noch einen Tee und eilen dann zurück zum Bahnhof, um unsere Züge nicht zu verpassen. Wir geben uns eine hastige Umarmung, ehe jede in eine andere Richtung zu einem anderen Gleis rennt. Mit etwas Verspätung trudelt mein Zug ein. Ich steige ein und bald schon rollen wir los.
Es is kaa Stadt uff dere weite Welt,
die so merr wie mei Frankfort gefällt,
un es will merr net in mein Kopp enei,
wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei!
(Friedrich Stoltze)