G. und ich stehen viel zu früh auf. Es ist noch dunkel, aber wir müssen raus in die Kälte und die S-Bahn nach Mannheim erwischen. Dort warten wir auf unseren ICE und trinken heiße Schokolade und Tee gegen das Zittern. G.s Schokolade schmeckt bitter und sauer. Die Verkäuferin will es ihr nicht glauben. Trotzdem gibt sie G. ihr Geld zurück.
Im Zug schläft G. ein. Ich auch, aber nur kurz. Dann fällt mir ein Gepäckstück von oben auf den Kopf. Sorry, sagt der Mann hinter mir, und ich stöhne. Die Reisegruppe vor uns schießt Selfies und isst mitgebrachte Brote mit Schinken. Ich stecke mir Ohrstöpsel rein und höre Black Sabbath. Besser.
G. und ich wollen nach Troyes. Ein langes Wochenende in der Champagne. Dazu fahren wir erst mehr oder weniger an Troyes vorbei. In Paris müssen wir umsteigen. Auch dort haben wir Aufenthalt. Wir flanieren vom Gare de l’Est aus durch die Stadt – zum Glück scheint die Sonne! Möwen fliegen über den Kanal und Tauben flattern vor uns auf. Wir trinken deux cafés au lait in einem kleinen Bistro und kehren dann zum Bahnhof zurück. Der Zug nach Troyes steht schon am Gleis. Die Fahrt vergeht schnell – es verspricht ein prächtiger Tag zu werden. In Troyes treiben wir mit der Menschenmenge aus dem Bahnhof heraus. Eine Frau stolpert fast über ihren Koffer.
Und da ist es: Troyes! Eine überschaubare Stadt voll schöner, schiefer Fachwerkhäuser in bunten Farben. Wir spitzen in die Église Sainte-Madeleine hinein, die hell und auch etwas schief anmutet. Irgendetwas stimmt in dieser Stadt nicht. Überall hängen Katzen an Schildern von den Häusern (so beim Café „Chez Felix“), schwarzbucklig, fauchend, oder leuchtende Brillen tragend. Wir haben Hunger. Zufällig sind wir bei der Crêperie Tourelle gelandet, wo wir einen Tisch am Fenster ergattern. Wir trinken süßen Cidre aus Tassen und essen die besten Galettes, die mir je serviert wurden! Herzhaft, gefüllt mit Kartoffeln, Käse und frischem Gemüse, und danach noch in süß, gezuckert mit gesalzener Butter beträufelt ... welch ein Geschmackserlebnis! Kann ich nicht Food-Bloggerin werden?
Die Crêperie gibt den Blick auf Saint Jean au Marche daneben frei. Auch dort drehen wir eine Runde, ehe wir weiter schlendern, durch die Sonne, zur Basilique Saint-Urbain – und schließlich stehen wir vor der Kathedrale Saint-Pierre-et-Saint Paul.
Ihr Inneres ist hell und leuchtet durch bunte Glasfenster in violetten Farben. Ich werde ganz ruhig. Ein Gefühl stiller Erhabenheit haftet dem Ort an. Ich mag die Statuen von Maria und Jesus vor blauem Fensterglas. Wie alles hier hoch nach oben strebt und sich in der Mitte trifft und vereinigt.
Hier sind wir noch lange nicht fertig. Fürs Erste gehen wir, nur, weil es Zeit ist, im Hotel einzuchecken. Das pittoreske Hotel Brit liegt direkt in der Altstadt. Unser Zimmer ist ausgesprochen hübsch. Durch die Fenster starren Tauben herein und an den Wänden hängen goldgerahmte Bilder von pummeligen Engelchen.
Wir werfen uns auf die Betten, spüren die Müdigkeit. Morgen müssen wir definitiv ausschlafen.
Den Rest des Tages machen wir also gemütlich. Wir bummeln ein wenig, holen uns Bier und schauen vom Bett aus französisches Fernsehen. Alle sind aufgeregt, weil die Queen über Nacht im Krankenhaus war. Mal sehen, ob sie morgen noch lebt.
In den Nachrichten steht nirgends etwas davon, dass die Queen tot ist. Puh!
G. und ich schlafen aus, und wie. Wir schlafen den Schlaf der Gerechten und gehen dann erst mal frühstücken. Café au Lait, ein Croissant und ein Pain au Chocolat - schon fühlen wir uns belebt. Wir gehen in den Jardin des Innocents, den ehemaligen Friedhofsgarten neben der Église de La Madeleine. Alles grünt üppig. Dornige Rosengewächse klettern die Kirchenmauer hoch. Der Himmel ist blau.
Hier beginnt unsere Detektivarbeit. G. versucht zu rekonstruieren, wo einst gebaut werden sollte oder auch nicht. Dann gehen wir in die Kirche hinein. Wie G. richtig vermutet hat, gefällt mir der filigrane Lettner besonders gut. Aber auch die noch original erhaltenen mittelalterlichen Glasfenster, für die Troyes berühmt ist. Sehr schön ist eine Bildreihe von der Erschaffung der Welt. Gott steht als König neben einer ungeformten Kugel – brachial und irgendwie abstrakt. Tiere kommen hinzu, die Sterne. Ich könnte die Bilder ewig ansehen.
Draußen ist es mittlerweile völlig warm geworden. Wir schlendern zu St. Urban und setzen uns davor in ein Café. Jetzt im Oktober hatten wir nicht mehr mit solch einer Hitze gerechnet! Ich muss die Augen beim Kaffeetrinken zusammenkneifen.
Mittags gehen wir ins Chez Carmen – ein Tipp eines Bekannten. Das Essen ist köstlich: Bulgur auf gebratener Aubergine mit orientalischem Gemüse – dazu ein Gläschen Rosé. Warum nicht! So vergeht der Tag wie im Flug. Wir schlendern mal hierhin, mal dorthin. Und natürlich auch in die Kathedrale. G. fotografiert dort Kapitelle, während ich mich setze und der Probe eines Ensembles lausche. Eine Nonne dirigiert und singt dazu. Ihre Stimme wirkt jung, sie aber scheint alt. Sie singt auf Französisch und ich blicke hoch zur Rosette im Seitenschiff, durch die rosa-bleiches Licht fällt. Wie friedlich das hier ist.
Und wenn man schon in der Champagne ist, muss selbstverständlich eines verkostet werden: Champagner! Im Geschäft unseres Vertrauens kaufen wir ein kleines Fläschchen Rosé-Champagner. Damit ziehen wir uns in unser Hotelzimmer zurück, wo die Tauben wieder hinter dem Fenster gurren. Heute läuft im Fernsehen eine französische Reportage über das Elsass und seine Küche. Das schauen wir uns an, genießen den Champagner und erinnern uns – an unsere Elsass-Tour vor nicht allzu langer Zeit.
Es ist der Tag des Templers, denn wir gehen seinen Weg. Neben Katzen finden sich in Troyes nämlich auch zahlreiche Templer-Statuen, unter anderem auch in unserem Hotel. Der Tempelorden, ursprünglich in Jerusalem entstanden, hat seine Wurzeln in der südlichen Champagne, wie Troyes selbst im Internet erklärt. Nach einem kleinen Frühstück folgen wir den goldenen Dreiecken auf der Straße, die das Symbol eines Tempelritters tragen. Im Hotel wurde uns der Weg des Templers wärmstens empfohlen, er soll schön durch die Stadt führen.
Recht hatten sie! Sogleich entdecken wir eine weitere gotische Kirche, schmutzig weiß und reich verziert, folgen der Spur durch enge Gässchen voll krummer und schiefer Fachwerkhäuser, flanieren durch die Ruelle des Chats, wo tatsächlich auch eine Katze in einem Flecken Sonne sitzt. Die Häuser stehen hier so eng, dass Katzen angeblich von einem Dachboden auf den nächsten springen können, ohne sich zu verletzen. Nun ging es vorbei an der Synagoge Rachi – wieder zurück in die Kathedrale. G. fotografiert die Kapitelle und ich notiere für sie Bildnummer und Lageposition zur Übersichtlichkeit. Dabei komme ich mir sehr wichtig vor.
Das Licht in der Kathedrale hört nicht auf, mich zu faszinieren. Jedes Fenster erzeugt eigene Farbstimmungen: rosa, violett, blau und silbern. Über der Orgel leuchtet es golden. Grellgelbe Flecken tanzen auf dem Gemäuer.
Wir wollen beide nicht gehen. Hier an diesem Ort können wir die Zeit vergessen.
Trotzdem gehen wir. Der Weg des Templers ist noch nicht zu Ende. Er führt uns nun an einer toten Taube vorbei, aus der Eingeweide quellen, und an kuriosen hölzernen Konsolen an Fachwerkhäusern. Besonders eindrücklich: ein Männlein, das kopfüber steht, mit den Füßen quasi die Schwere des Dachs stützend, den Po frech herausgestreckt. Die Menschen hatten schon immer Humor!
Heute ist der Tag des Wartens. G. und ich checken aus dem Brit aus und gehen in der Morgenkälte zum Bahnhof. Unser Zug hat drei Stunden Verspätung. Wir beobachten die zappelnden Kinder, die mit ihren Eltern auf den Zug warten. Sehen zu, wie ein Kran ein Haus abreißt und trinken heiße Schokolade in der Sonne vor dem Bahnhof. Am Ende kommt der Zug zum Glück doch. Wir fahren nach Paris. Klug wie wir waren, hatten wir großzügig Puffer für den Anschluss nach Deutschland geplant. Genug Zeit also noch. Das französische Zugunternehmen SNCF teilt große Lunchboxen für alle Verspäteten aus, was wir lobend zur Kenntnis nehmen. Davon könnte sich die Bahn in Deutschland mal eine Scheibe abschneiden! Wir verspeisen einiges davon im Park dicht beim Bahnhof und kehren dann zurück. Immer noch Zeit. Wir gönnen uns drei Fläschchen Parfum – denn wenn wir schon in Paris sind, warum nicht?
Nun waren wir bereit für den Zug nach Mannheim. Doch das Warten nimmt kein Ende. Ein Gepäckstück unbekannter Herkunft wurde gefunden und nun fährt gar nichts mehr. Erst eine Stunde später dürfen wir in den Zug. Der Schaffner klingt, als hätte er schon einiges getrunken.
Endlich rollen wir aus dem Pariser Bahnhof.
Leicht verschwindet der Taten Spur
Von der sonnenbeleuchteten Erde,
Wie aus dem Antlitz die leichte Gebärde –
Aber nichts ist verloren und verschwunden,
Was die geheimnisvoll waltenden Stunden
In den dunkel schaffenden Schoß aufnahmen –
Die Zeit ist eine blühende Flur,
Ein großes Lebendiges ist die Natur,
Und alles ist Frucht und alles ist Samen.
(Friedrich von Schiller)