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Göttingen

L. wartet am Bahnhof in Göttingen auf mich. Ich kann ihre Freude über unser Wiedersehen sogar unter ihrer Maske erkennen. Es ist lange her, dass ich hier war. Zuletzt war ich im Winter einige Tage bei L. festgehangen - in dem vielleicht größten Schneegestöber, das ich bis dahin erlebt hatte.

Aber nun ist Herbst. L. und ich sind süchtig nach der warmen Sonne auf unserer Haut. Wir wollen sofort spazieren gehen und verlassen den Bahnhof durch den Hinterausgang, um zum Kiessee zu laufen. Wir holen uns Eiscafé in einer Bude am See und setzen uns damit auf die Wiese. Neben uns hockt ein gutaussehender junger Mann ohne Oberteil. Es fühlt sich an wie Sommer. Der Himmel ist blau, die Kronen der Bäume üppig grün. Auf dem Wasser schwimmen Schwäne. Der Kaffee ist etwas dünn, aber das Eis bestens. So sollte jeder Samstag sein. Wir reden, lachen, leicht, befreit.

Danach schließen wir die Runde um den See. Am Wegrand sind die Bäume des Jahres gekürt. 1997 war das die Eberesche, 2009 der Bergahorn, aus dessen Holz Musikinstrumente gefertigt werden. Wir kommen an der hellrindigen Hängebirke vorbei, folgen einer Frau, die mit einem verboten süßen Welpen unterwegs ist, und lassen unsere Blicke über den Kiessee schweifen. An der Leine weiden die Leineschafe. Sie sind frisch geschoren und arbeiten sich konzentriert vorwärts. Auf der Infotafel lese ich, dass Leineschafe „eine seltene und vom Aussterben bedrohte Haustierrasse, die regionaltypisch für das Leinebergland“, sind. Ich versuche, die Hübschen zu fotografieren, doch sie sind eher scheu. Ein frühes Abendlicht strahlt mittlerweile durch die Blätter und taucht alles in eine sanfte Atmosphäre. L. und ich fantasieren, wie es wäre, Schäferin zu sein. Schlecht bezahlt wahrscheinlich. Aber irgendwie auch schön. Wir staunen über die Farbpracht der Bäume. Einer leuchtet grellgelb.

Auch in Göttingens Altstadt glühen die Dächer der Fachwerkhäuser im Abendrot. Menschen schieben ihre Fahrräder vor sich her, Eltern spazieren mit ihren Kindern durch die Gassen. Wir gehen einkaufen. Kürbis – für den Herbst. Bei L. wage ich mich mit ihrem Brotmesser ans Werk. Ich schneide mir keinen Finger ab und bald schon ist der Kürbis mit Nüssen und Feta im Ofen. Wir öffnen eine Flasche Rotwein.

 

Ich schlafe tief und fest. L. ist Frühaufsteherin. Sie lässt mich länger schlafen, als wir ausgemacht hatten. Wir trinken Kaffee und essen Brötchen mit selbstgemachter Marmelade. Danach gehen wir zur Paulus-Kirche im Osten der Stadt, einer Basilika, die neobarock anmutet. Wir haben unsere Kontaktdaten schon bei L. auf einen Zettel geschrieben und hinterlassen ihn am Empfang. Die Kirche wirkt hell und freundlich. Licht fällt durch die bunten Fenster. Beim Friedensgruß umarmt L. mich. Nach dem Gottesdienst gibt es noch Kaffee vor der Kirche. Dort stehen wir glücklich mit unseren heißen Tassen und lauschen den Geschichten zur jüngsten Bombenentschärfung am Donnerstag. Auch L. musste evakuiert werden und ihre Wohnung für eine Nacht verlassen. Ich hatte davon nichts mitbekommen. Wir dürfen uns sogar noch zwei Äpfel von den Erntedankgaben mitnehmen, die eisig wie dieser Morgen sind. Bei L. angekommen, sind unsere Hände fast erfroren. Wir wärmen uns mit einer Tasse Tee auf, beschließen aber, das sonnige Wetter noch auszunutzen. Wir laufen zum Stadtwald. Die Stämme der Bäume sind schlank und hochgewachsen, ihre Schatten fallen dunkel auf den Weg vor uns. L. sammelt eine Kastanie auf. Wir kommen am Wildgehege vorbei und halten bewusst nicht an. Eichhörnchen gehören nicht in kleine Käfige, sondern auf ausladende Bäume. Bald sind wir beim Kerstlingeröder Feld, das Naturschutzgebiet ist. Die Landschaft hier ist fast mediterran. Auf einem Schild lese ich, dass hier Kalk- und Orchideen-Buchenwälder sind. Vom Anstieg ist uns warm geworden. Die Sonne scheint auf uns. Wir wandern weiter zur alten Gutsruine. Dornen sind um das Gemäuer gewachsen und ich muss sofort an Dornröschen denken. In den Ruinen sitzen Wanderer und halten Brotzeit. Wir haben auch Stullen dabei und setzen uns damit auf eine Bank unter einem Nussbaum. Zwei Reiterinnen passieren uns, eine Mutter auf einem schönen Braunen und ihre kleine Tochter auf einem Pony derselben Farbe. Wir sehen ihnen lange hinterher, bis sie im Wald verschwinden.

Ich glaube, wir fürchten uns beide ein bisschen davor, dass es bald kälter werden könnte. Aber jetzt nicht. Jetzt scheint die Sonne und der Himmel ist blau.

Auf dem Rückweg testet L. sogar mal meine Sonnenbrille, obwohl sie sowas nie trägt.

Am späten Nachmittag nehme ich den Zug zurück nach Kassel. Nach Göttingen und zurück in zwei Stunden – Sonne getankt für ein ganzes Jahr.

 

 

Nun kommen die letzten klaren Tage

Einer müderen Sonne.

Bunttaumelnde Pracht.

Blatt bei Blatt.

So heimisch raschelt

Der Fuß durchs Laub.

O du liebes, weitstilles Farbenlied!

Du zarte, umrißreine Wonne!

Komm!

Ein letztes Sonnenblickchen

Wärmt unser Heim.

Da wollen wir sitzen.

Still im Stillen.

Und in die müden Abendfarben sehn.

Da wollen wir beieinander sitzen

In Herbstmonddämmer hinein

Und leise

Verlorene Worte plaudern.

 

(Johannes Schlaf)