Der Zug rollt in Leipzigs Hauptbahnhof ein. Vor mir steigen eine Handvoll junge Leute aus, die große Schuhe und skurrile Jacken tragen. Ich habe M. gesagt, dass ich den Weg zu ihr selbst finde. Man muss ja gar nichts in der Realität finden. Google Maps genügt völlig.
Draußen ist es schon dunkel und ich freue mich darüber, allein durch die Stadt zu laufen. In einem kleinen Park neben dem Bahnhof tummeln sich Jugendliche mit lauter Musik. Ich stolpere in der Dunkelheit. Der Weg zu M. ist nicht schwer zu finden. Er führt an Leipzigs schöner Universität vorbei, an Wahlplakaten, die überall hängen. Die AfD plakatiert hier besonders geschmacklos („Neue Deutsche – machen wir selber“). Heute ist Donnerstag. Ich plane bis Sonntag zu bleiben. Am Sonntag – da ist Wahl.
Doch daran will ich jetzt nicht denken. Heute werde ich mit M. bis Mitternacht wach bleiben und auf ihren Geburtstag anstoßen. Oder so ähnlich.
Sie wohnt in einem Altbau ganz oben. Die Treppen knarzen unter meinem Gewicht. M.s Wohnung hat sich stark verändert. Das letzte Mal, als ich hier war, gab es noch keine Möbel. Jetzt stehen und hängen überall Pflanzen und Teelichter – es ist richtig gemütlich. Von M.s Wohnung aus, so hoch oben, sieht man über die Dächer der Stadt. Wenn wir die Fenster öffnen, weht ein kühler Wind. Wir schieben uns eine vegane Pizza in den Ofen und öffnen eine Flasche Met. Die Zeit bis Mitternacht vergeht wie im Flug. Ich falle M. um den Hals und dann betätigen wir einen Konfetti-Party-Popper. Bunte Blätter fliegen durch die Küche und landen auf M.s und meinen Haaren.
Der nächste Tag ist voller Highlights. Wir starten mit einer Gesichtsmaske und machen alberne Selfies von unseren weißen Gesichtern. Danach gehen wir noch mehr Party-Krempel besorgen. Unter anderem finden wir eine Happy-Birthday-Girlande mit Einhörnern, die wir vors Fenster hängen. Wir backen Kekse. Dann laufe ich zum Bahnhof, um S. abzuholen. M. will unbedingt noch putzen. Das ist ihre große Leidenschaft. Den Weg zum Bahnhof finde ich nun schon ganz ohne Google Maps. Fast fühle ich mich heimisch hier. Ich treffe S. am Gleis und umarme sie freudig. M.s Party startet erst um 18 Uhr – und wir wollen davor auf die Fridays-for-Future Demo, die bereits vor dem Bahnhof mit Musik und Reden gestartet hat. An der Polizei vorbei stoßen wir zu den Demonstrierenden dazu. Es sind viele: Schüler*innen, Studierende, junge Familien mit kleinen Kindern und Ältere. Alle Gesellschaftsschichten scheinen vertreten zu sein. Die Menschen haben Plakate dabei, die Dinge verkünden wie: „Das Klima ist so kaputt wie mein Plakat“ oder „Armin lass et“. Wir bedauern, nichts dabei zu haben. Aber immerhin sind wir hier und zeigen Präsenz und Stimme. HeXer rappt über den Klimawandel und dann setzt der Zug sich in Bewegung. Wir sind 10.000. Die Leute singen und rufen immer wieder im Chor zu Klimagerechtigkeit jetzt auf. Was wir verstehen, schreien wir mit. What do we want? Climate Justice! When do we want it? Now!
Wir sind relativ weit vorne im Zug. Passanten gaffen und die Presse ist am Fotografieren. Aus Versehen landen wir mitten zwischen der Antifa, die besonders laut nach Klimagerechtigkeit verlangt. Immer wieder rennen sie zu den CDU-Plakaten und reißen sie ab. Später fallen wir weiter zurück, hinter eine Gruppe Menschen, die ihre Fahrräder mitgebracht haben und laut klingeln. Es fühlt sich gut an, hier zu sein. Zu zeigen, dass nichts an dieser Politik okay ist und wir einen Wandel brauchen.
Als wir zu M.s Party stoßen, sind wir doch recht erschöpft vom Laufen und Rufen und all den Menschen. Ein paar Gäste sind schon da. J. hat Kuchen gebacken, den wir ausgehungert probieren. Er ist vegan und sogar ganz ohne Aromen, extra für mich. Als alle da sind, sind wir insgesamt zu zwölft. Die Runde ist ein netter Haufen. Einer ist Bestatter, eine andere arbeitet als Erschreckerin. In der Küche sitzen wir und reden und lachen, im Wohnzimmer tanzen wir. Überall liegt Konfetti, es glitzert und blitzt, auch M.s goldener Pailletten-Rück, wenn sie sich dreht und zum Rhythmus der sphärischen Musik bewegt. Es gibt Partyhüte und Geburtstagströten, mit denen wir versuchen, einen Dreiklang zu erzeugen. Vergeblich. S. und ich spannen eine Schnur durchs Wohnzimmer und tanzen Limbo. Ich bin viel besser als S.. Sonst interessiert sich leider niemand für die Schnur, so dass wir sie wieder abnehmen.
Bis tief in die Nacht feiern wir. Und als alle gegangen sind, schlafen wir den Schlaf der Gerechten.
Wir wachen spät am nächsten Morgen auf. Nach Kaffee räumen wir auf. Das Konfetti verbirgt sich in den verrücktesten Stellen. Am Nachmittag holen wir Essen beim Japaner um die Ecke. Danach kommt J., die Erschreckerin, noch auf einen Kaffee vorbei. Abends machen wir Salat. Der Tag – wo ist er hin? Wir kriechen in unsere Betten.
S. und ich gehen früh zum Bäcker Kuchenhimmel & Brotfein. M. schwört, dass es der beste Bäcker ist. Das verspricht auch die lange Schlange davor. Als wir endlich dran sind, ist das Sortiment wirklich überwältigend. Bei M. frühstücken wir und dann muss S. auch schon los, ihren Bus erwischen. M. geht danach wählen (ich habe natürlich schon lange Briefwahl gemacht). Ich sitze in der Sonne und höre Musik. M. will wieder putzen, aber mich zieht es hinaus. In der Nähe ist der Liselotte-Hermann-Park. Dort will ich mich auf eine Bank setzen und schreiben. Ich merke, wie gut mir die Luft tut, das bisschen Grün. Vielleicht bin ich einfach nicht für die Stadt gemacht oder werde langsam alt. Beschwingt steuere ich auf eine schön einsame Bank im Schatten zu, als die Welt sich plötzlich dreht und leider auch mein Fuß. Ich bin in ein Loch gefallen! Peinlich berührt sehe ich mich am Boden liegend um. Niemand hat mich beobachtet, zum Glück! Und was macht dieses große Loch mitten im Park? Auf einem Bein hüpfe ich zur Bank und lache mich selbst aus. Neuerdings übe ich, mich weniger über alles zu ärgern. Es klappt ganz gut. Ich höre Elton John und lasse die Tage in Leipzig in meinem Kopf Revue passieren. Danach humple ich zurück zu M.. Sie findet immer noch überall in der Wohnung Glitzer und Konfetti.
Eigentlich wollte ich zum Bahnhof laufen. Das lasse ich nun. Ich nehme die Tram und bewege mich langsam wie eine Schnecke zu meinem Gleis. Zwei Soldaten der Bundeswehr überholen mich links und rechts. Ein wenig Zeit habe ich noch, bis der Zug kommt. Ich setze mich in die letzten Reste Sonne. Schließe die Augen.
Der ICE ist erstaunlicherweise pünktlich. Die Hälfte der Waggons fehlt zwar, doch ich bekomme trotzdem einen Platz. Ich packe mein Buch aus und freue mich auf eine entspannte Fahrt nach Kassel. Zuhause ist es auch schön.
Der Zug setzt sich in Bewegung.
Zupf dir ein Wölkchen aus dem Wolkenweiß,
Das durch den sonnigen Himmel schreitet.
Und schmücke den Hut, der dich begleitet,
Mit einem grünen Reis.
Verstecke dich faul in der Fülle der Gräser.
Weil´s wohltut, weil´s frommt.
Und bist du ein Mundharmonikabläser
Und hast eine bei dir, dann spiel, was dir kommt.
Und lass deine Melodien lenken
Von dem freigegebenen Wolkenzupf,
Vergiss dich. Es soll dein Denken
Nicht weiter reichen als ein Grashüpferhupf.
(Joachim Ringelnatz)