Jetzt, wo es regnet, komme ich zum Schreiben. Jetzt, an Tag fünf, strömt der Regen vom Himmel.
Doch an Tag eins war es heiß. M. und ich kamen durchgeschwitzt in einem Auto ohne Klimaanlage in Altstädten bei Sonthofen im Allgäu an. In diesem kleinen, beschaulichen Dörfchen mit Blick ins Allgäuer Bergland lag unsere Ferienwohnung. Geräumig war sie, mit Balkon, von dem aus man weit schauen konnte. Wie gesagt, es war heiß, und während ich noch herum räumte, hatte M. schon online das Naturfreibad ausfindig gemacht. Wir gingen also schwimmen. Niemand außer uns war im Wasser. M. glitt lautlos hinein, ich mit einigem Zögern.
Ich würde gerne im Wasser leben, sagte M. später, als wir auf den heißen Steinen saßen und uns trockneten.
Tag zwei war ein Sonntag. Dafür, dass für die sieben Tage, die wir hatten, überwiegend Regen gemeldet war, sah es bisher prächtig aus. Sonne am Sonntag. Wir waren bereit, wir wollten los, ab in die Berge, laufen, bis wir unsere Beine nicht mehr spürten – aber für den Anfang vielleicht nicht gleich die größte Tour. Erstmal reinkommen, dachten wir. Doch die Sonne musste genutzt werden. Wir nahmen uns den Gaisalpsee vor. Mit dem Auto war es nicht zu weit zum Wanderparkplatz, von dem aus der Weg nach oben führte. M. ging voran und ich fand, dass sie ganz schön schnell war und ich weniger fit, als ich gedacht hatte. Mit uns gingen leider auch Scharen anderer Wanderer. Wir versuchten trotzdem, eisern unser eigenes Tempo zu halten. Das Wandern wurde hier fast zum Wettbewerb. Während viele den Berg hochstürzten, wollten wir eigentlich auch Zeit haben, um die Dinge in uns aufzunehmen. Den steinigen Weg unter uns, die grün bewaldeten Hänge, das Geröll dazwischen, die grauen Wolkenfetzen über der Bergkette dort am Horizont. Die Kühe am Wegrand, dazwischen vereinzelt Esel. Wieder kamen wir gut ins Schwitzen, obwohl der Weg schön schattig war. Immer mal ging es über kleine Quellbäche.
Oben angekommen, konnten wir uns nicht mehr vor der Sonne verstecken. Doch das war uns völlig egal, denn wir hatten es geschafft: Der untere Gaisalpsee lag himmlisch türkis vor uns. M. hatte mir vorab schon angekündigt, dass sie in die kalten Gebirgsseen gehen würde. Deswegen hatte ich auch meine Schwimmsachen eingepackt. Verkniffen sah ich M. zu, wie sie in den See marschierte. Die Sonne warf gleißend helle Flecken auf die Wasseroberfläche. Um M. herum bildeten sich Kreise.
Als M. wieder ans Ufer kam, war ich auch umgezogen. Das kalte Wasser war Balsam für die Füße. Seit einiger Zeit war ich oft zum Kneipen – doch das hier war eine neue Dimension der Gefäßstärkung. Bis zur Hüfte war alles in Ordnung. Danach blieb nur der Sprung ins kalte Wasser.
Es tat gut. Ich war wach, am Leben und verstand plötzlich, was M. damit gemeint hatte, dass das eine Sucht sei. Baden in kalten Gebirgsseen.
Danach kletterten wir auf den Hügel, von dem aus man auf den See blicken konnte und auf der anderen Seite hinab ins Tal. Die Wolken schwebten wie Watte in der Ferne.
Wir stiegen wieder ab. Auf dem Rückweg kamen wir an einem Hof vorbei, wo einige Wanderer bereits eingekehrt waren. Alpe hieß das hier. Ein Stück weiter oben befand sich jedoch eine weitere dieser Alpen, und dort gingen wir nach einigem Überlegen hin, weil die Aussicht vielversprechender wirkte. Das Lokal war nahezu überfüllt mit Gästen. Doch nun waren wir schon mal da und wollten nicht mehr umkehren. Überall auf den Bänken saßen Wanderer wie wir, viele mit Kindern und Hunden. Die Bedienung wies uns einen Platz zu und bekam gleich schlechte Laune, als wir darum baten, im Schatten sitzen zu dürfen. Wir bestellten Kaffee und Kuchen und als die Leute neben uns den Platz räumten, sprühte die Kellnerin M. noch eine Ladung Desinfektionsspray ins Gesicht. Wir waren nicht begeistert.
Tag drei, der Montag, hatte wieder blendendes Wanderwetter für uns auf Lager. Und ehe es uns hier einregnen würde, wollten wir das eine, große Ziel ansteuern, vor dem uns Menschen von allen Seiten gewarnt hatten. „Der Schrecksee, das ist aber eine weite Tour!“ Oder: „Was? Ihr wollt zum Schrecksee?“
Nun kannten wir beide aber Menschen, die es durchaus schon geschafft hatten, und waren davon überzeugt, dass auch wir die kleine Tour packen würden. Die große Runde wagten wir nicht einmal anzudenken.
Wir stellten unseren Wecker auf sechs Uhr und fuhren zum Parkplatz. Man musste zeitig dort sein, damit man sein Auto abstellen konnte. Alles lief wie am Schnürchen. Wir hatten uns am vorhergehenden Tag mühselig Kleingeld wechseln lassen, um das teure Parkticket zu lösen, und erwischten pünktlich den Bus, der uns von hier zum Startpunkt des Aufstiegs bringen sollte. Die Tour war wesentlich angenehmer als die zum Gaisalpsee. Wenn auch einige Leute mit uns ausstiegen, so verteilten sie sich doch sehr schnell und wir wanderten in Ruhe allein. Es war schön kühl, außerdem führte der Weg durch den Wald. Früher als erwartet, hatten wir die erste Etappe geschafft. Am Ufer eines kleinen Stausees nahmen wir unser Frühstück vom Bäcker ein. Dann weiter. Weiter. Steil war es schon. Geröll und Wurzeln erschwerten das Laufen. Aber bald hatten wir auch die zweite Etappe geschafft. Nun folgte ein Stück auf eher ebener Fläche, über sattes Gras und einen kleinen Bach. In einiger Entfernung ästen Gämsen – falls es Gämsen waren. Hörner hatten sie jedenfalls.
Dann kam der letzte Anstieg. Von dort hatten wir einen weiten Blick auf die Wegstrecke, die wir schon zurückgelegt hatten. Der größte Teil des Gebiets lag noch im Schatten, jedoch dahinter lauerte die Sonne, hell und gleißend.
Und schließlich waren wir oben. Das Läuten der Kuhglocken war fast schon ohrenbetäubend. Nichts spendete uns mehr Schatten. Wir cremten uns ein, setzten unsere Hüte und Sonnenbrillen auf und zogen über die Bilderbuch-Alm los, bis wir ihn sahen: den Schrecksee. Es war fast niemand außer uns da. M. und ich sahen uns an. So lange hatte die Tour ja gar nicht gedauert und wir waren auch nicht völlig am Ende. Ganz im Gegenteil. Wir stiegen auf den Hügel, wo zwei, drei, andere Wanderer saßen und den See fotografierten. Welch ein Anblick. Umrahmt von pastellgrünen Bergen lag der Schrecksee ruhig und klar vor uns und spiegelte seine Umgebung, grün und blau. In seiner Mitte eine Insel. Ich konnte nicht glauben, dass ich noch in Deutschland war. Das Panorama war wie aus einer anderen Welt, aus einem Film, einer Fantasie.
Niemand war im Wasser. M. war die Erste. Und ich folgte ihr treu.
Ich war nichts im Vergleich zu der Kälte des Wassers des Schrecksees und löste mich glücklich darin auf. M. schwamm zuerst zu der Insel, ich wenig später. Es war gar nicht schwer, ans Ufer zu klettern, den Blick schweifen zu lassen. Das wohlige Prickeln auf der Haut. Mein Atem ging schnell, mein Herz schlug aufgeregt.
Die Sucht hatte mich schon am zweiten Tag gepackt. M. und ich gingen sogar mehrmals ins Wasser, denn mit jedem Mal wurde es leichter. Zwei Enten gesellten sich zu uns. Zwischen meinen Zehen sah ich die Fische schwimmen.
Nach einer ausgedehnten Pause packten wir unsere nassen Sachen zusammen und kehrten dem Schrecksee schweren Herzens den Rücken. Nun lag der Abstieg vor uns. Wir hatten ja eigentlich noch den ganzen Tag Zeit. Es war gerade mal 12 Uhr. Sollten wir es doch wagen und die größere Runde machen, die länger dauerte, dafür aber auch weniger steil sein sollte? Eine fitte Wanderin passierte uns und wir fragten sie, ob sie sich hier oben auskenne und uns einen Rat geben könne. Das konnte sie. Sie erklärte, dass wir entweder über das Rauhhorn absteigen konnten (kürzer, aber sehr alpin) oder über die Willersalpe, der lange, aber weniger abenteuerliche Weg. Wir sahen ihr hinterher, wie sie den nächsten Berg hochstieg – und entschieden uns. Wir würden über die Willersalpe absteigen. Jawohl. Der Weg, den wir gingen, führte hoch hinaus. Von dort oben erschien uns der Schrecksee noch schöner. Wir kamen aus dem Fotografieren gar nicht mehr heraus. Mittlerweile brannte uns die Sonne ordentlich auf die Köpfe und wir schwitzten ganz schön. Es besteht durchaus ein Unterschied zwischen dem Wandern im kühlen Schatten und Wandern in der prallen Mittagshitze.
Um nichts in der Welt hätten wir die Tour missen wollen, die wir nun gingen. Die Aussicht von hoch oben war alle körperlichen Mühen wert. An den Bergkämmen grasten wollig flauschige Schafe. Eines davon lag mitten auf dem Wanderweg herum. Man kam nur daran vorbei, wenn man es nett streichelte. Es gab auch Schafe, die gefleckt wie kleine Indianerpferde waren. Vor uns lag das felsige Rauhhorn, und auf der anderen Seite breitete sich unter uns der Vilsalpsee in prächtigen Farben aus. Nun ging es bergab. Wir freuten uns schon, doch leider zu früh. Alles, was wir bergab stiegen, mussten wir wenig später wieder in der schlimmsten Hitze hochsteigen, ein trockenes, weißes Geröllfeld entlang. Wir umrundeten das Rauhhorn.
Nie hatte uns eine Apfelschorle besser geschmeckt als die bei der Willersalpe. Wir stürzten die Getränke regelrecht hinunter und merkten da erst, wie groß unser Durst war, obwohl wir mehr als genug Wasser eingepackt hatten.
Als wir wieder beim Auto ankamen, waren gute zehn Stunden vergangen. Wir waren müde, aber glücklich. Der Parkplatz war mittlerweile fast leer. Wir hatten es geschafft.
Man schläft am besten nach einer zehnstündigen Wanderung durch die heiße Septembersonne. Nun hatten wir eigentlich das gesehen, was wir unbedingt hatten sehen wollen und waren schon restlos zufrieden. Noch zufriedener waren wir aber, als auch Tag vier, der Dienstag wieder mit Sonne lockte. Was für ein Glück hatten wir eigentlich? Wir wollten jedoch definitiv eine ruhigere Kugel als gestern schieben. Unser erster Stopp war in Sonthofen, wo es ein Wander-Outlet gab. Die Sohlen meiner Wanderschuhe hatten sich gestern endgültig verabschiedet und es war Zeit für ein neues Paar. Irgendwie war ich froh, dass ich mit den alten Schuhen noch zum Schrecksee und zurückgekommen war. Wohin würden mich die neuen tragen?
Jedenfalls wurde ich fündig und mit meinem Paar nagelneuer Wanderschuhe starteten M. und ich vom Parkplatz Säge auf eine wesentlich ruhigere und flachere Tour durchs Allgäu. Unser Ziel war die Bio-Alpe Mitterhaus. Dort wurden wir mit zwei köstlichen Stücken Kuchen, einer Tasse Kaffee und einer wirklich fruchtigen Schorle belohnt. Von all den Kuchenstücken, die ich im Allgäu verspeiste, waren diese die mit Abstand besten! Wir sprachen über das etwas aufgeheizte Thema Bio-Zertifizierung, fanden beide, dass wir nicht so viel Gift essen wollen, und beglückwünschten uns zu der schönen Tour und ich zu meinen neuen Schuhen, die mir noch keine einzige Blase beschert hatten.
Tag fünf, der Mittwoch, brachte wieder unverhofft Sonne. Wir waren wahrhaftig Glückspilze! Heute ließen wir das Auto stehen und gingen direkt in Altstädten los. Im Touristenbüro hatten wir eine Alpengenuss-Karte bekommen, auf der alle Höfe in näherer Umgebung erfasst waren. Auch die Wanderung zum Mitterhaus hatten wir so gefunden. Nun wollten wir zum Sonthofener Hof. Der Weg führte am Freibad vorbei, durch den Wald, an einem Wasserfall entlang. Es folgte ein Stück Straße, die wir uns mit Mountainbikern und Autofahrern teilen mussten. Auf den Weiden grasten wieder Kühe, Esel und Ziegen. Beim Sonthofener Hof fing es an zu regnen. Gerade rechtzeitig waren wir dort angekommen und konnten uns nun auf die überdachte Terrasse setzen, mit Blick ins weite, blaue Tal. Ich trank ein Bier – und weil der Regen nicht aufhörte, teilten wir uns eine mächtige Portion Spinatknödel. Wie bestellt, kam nach dem Essen die Sonne zurück und wir machten uns wieder auf den Weg. Die Strecke wurde wieder einsamer. Wir waren ziemlich angetan von dieser unverhofft schönen Tour. Irgendwann wurde der Weg von einer Herde schwarzer Kühe blockiert. Wir zögerten nur kurz und marschierten dann hindurch. Die Kühe versuchten, uns abzuschlecken. Wir passierten kleine, hölzerne Hütten, sicher ohne Strom, einen Bachlauf mit Becken zum Kneipen, wo wir Beine und Arme eintauchten, streichelten die Esel am Wegrand und fütterten die Ziegen mit den besten Blättern Löwenzahn, die wir finden konnten. Gierig glotzten sie uns an.
Und so brach schon unser letzter voller Tag im Allgäu an. Nun erwischte uns doch noch der so lange fälschlich angekündigte Regen. Wir warteten eine kurze Trockenphase ab und wanderten dann schnell ins nahe Sonthofen und zurück. Wir waren unendlich müde, und erst zwei Tassen Kaffee, bei dem von uns unverhältnismäßig oft frequentierten Bäcker in Altstädten, konnten uns wieder beleben. Lange noch saßen wir dort im Café vor dem Schindelhaus und resümierten und träumten vom Schrecksee. M. hatte dabei Tränen in den Augen.
Ich glaube, der Schrecksee war der schönste Ort, an dem ich je war. Und um nichts in der Welt hätten wir die große Tour danach missen wollen. Doch es war auch Zeit, heimzukehren. Der September ist mein rastloser Monat. Und er ist noch nicht vorbei.
Wir beluden M.s Auto mit unserem Kram, verabschiedeten uns von dem Ehepaar, das die Wohnung vermietet hatte, und fuhren aus Altstädten hinaus gen Norden.
Das ist nicht Sommer mehr, das ist September … Herbst:
diese großen weichen Wolken am Himmel,
diese feinen weißen Spinnwebschleier in der Ferne
und hinter den Gärten mit den Sonnenblumen
der ringelnde Rauch aufglimmender Krautfeuer …
und diese süße weiche Müdigkeit und diese
frohe ruhige Stille überall und trotzdem wieder
diese frische, satte, erntefreudige, herbe Kraft …
das ist nicht Sommer … das ist Herbst.
(Cäsar Otto Hugo Flaischlen)