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Tübingen

Tübingen – was hat sich geändert?

Ich rolle mit dem Zug im Hauptbahnhof ein, schaue aus dem Fenster. Es ist Jahre her, dass ich hier war, doch als ich hier war, war es eine lange Zeit. Drei Jahre Studium, und nun die Rückkehr. Es fühlt sich gut an. Erst bin ich mir gar nicht sicher, ob ich wirklich in Tübingen bin. Der Bahnhof kommt mir nicht mehr bekannt vor. Doch auf dem Schild steht Tübingen, klar und deutlich. Ich steige aus. Treppe hinunter, Gang entlang, und dann – das erste Wiedererkennen. Der Treppenaufgang zum Bahnhofsgebäude. Eine Treppe führt nach links, eine nach rechts. Es ist völlig egal, welche man hochsteigt, doch nie konnte ich mich entscheiden. Wieder stehe ich hier und zögere. Grinse. Nichts hat sich geändert! Ich gehe links. Aber als ich aus dem Bahnhof hinaus ins Freie trete, erkenne ich den Platz nicht wieder. Hier fahren die Busse. Früher war alles enger. Nun haben sie etwas geändert – nur kann ich nicht sagen, was. Schön finde ich es jedenfalls nicht.

Mein Ziel ist der Marktplatz mitten in der Altstadt. Dort bin ich mit Freunden zum Essen verabredet. Auf meinem Weg schaue ich, welche Geschäfte und Cafés sich gehalten haben, welche nicht. Doch lange komme ich nicht zum Schauen – denn gleich vor der Neckarbrücke (von der ich im Nachhinein auf Google Maps lese, dass sie eigentlich Eberhardsbrücke heißt), sitzen D. und C. und trinken Saft. So ein Zufall! Ich setze mich gleich dazu. Am Anfang bin ich etwas befangen. Seit Corona weiß man nicht mehr, ob man Menschen noch guten Gewissens umarmen darf, egal, wie oft man schon geimpft ist oder nicht. Das Ludwigs, vor dem wir sitzen, war früher ein beliebter Ort zum Frühstücken unter den Studierenden. Ob das heute noch so ist? Lange bleiben wir jedenfalls nicht. C. zahlt und wir ziehen los. H. stößt aus dem Hotel Krone nebenan zu uns. Wir müssen eine lustige Truppe abgeben, wie wir so über die Neckarbrücke ziehen. C., die wegen eines gebrochenen Beins im Rollstuhl sitzt, wird von D. geschoben. Ich habe mal wieder ausufernd viel Gepäck bei mir und H. beschwert C.s Rollstuhl zusätzlich noch mit einem meiner Rucksäcke. Die Neckarbrücke. Hier wurde ich mal fast von einem Bus überfahren! Der Neckar ist schön wie eh und je, der Blick auf die Platanenallee nur zu vertraut. Weiter oben die Neckarmauer, wo man saß, Eis schleckte und mit Gleichgesinnten die Beine überm Wasser baumeln ließ. 

Wir biegen links in die pittoreske Neckargasse ein, laufen bis zum Holzmarkt, vorbei an der Stiftskirche, am Georgsbrunnen, durch die Kirchgasse bis hin zum Marktplatz. Straßenmusiker spielen dort. Der Neptunbrunnen plätschert vor sich hin. Vorm Ranitzky treffen wir den Rest. Meine Güte, A. ist erwachsen geworden und I. eine junge Schönheit. Ich weiß nicht, wohin die Zeit verflogen ist.

Wenig später essen wir, trinken Bier (J. empfiehlt das preisgekrönte Kristallweizen, das herrlich im Mund perlt), ich erfahre, was mit C.s Bein passiert ist (einfach hingefallen), und so geht der Abend dahin. Als wir das Ranitzky verlassen, ist es schon dunkel. Die anderen gehen noch spazieren. Ich aber verabschiede mich und laufe zum Bahnhof zurück. Hinter den Gleisen holt J. mich ab. Es ist Jahre her, dass ich ihn gesehen habe. Wie es der Zufall will, wohnt er nun in Weilheim, ein Dorf neben Kilchberg, wo ich ein Jahr gelebt habe. Der Weg dorthin ist wie eine kleine Zeitreise.

In so kurzer Zeit kann man unmöglich die Lücken vergangener Jahre aufholen, aber über einer Flasche Wein versucht man es. Dementsprechend schlafe ich tief und fest auf J.s Couch ein.

 

Am nächsten Tag klingelt der Wecker viel zu früh. Ich bin zum Frühstücken in der Stadt verabredet und muss den Bus erwischen. J. will noch schlafen. Durch die frische Morgenluft spaziere ich zur Haltestelle Weilheim Rathaus und warte auf den Bus. Er kommt pünktlich, wie das in Schwaben zu erwarten ist. Selbstbewusst verlange ich beim Fahrer ein Ticket, doch er verweist mich an den Automaten.

Oh, kann ich nur sagen, und trotte gehorsam dorthin. Dinge ändern sich also doch! Fahrkartenautomaten in den Bussen, seit wann gibt es das denn in Tübingen?

Wegen einer Baustelle fahren wir nun auch noch durch Kilchberg, vorbei am Keltengrab. Dort steigen Studierende zu. Grüne Hügelketten rahmen die Kulisse. Noch immer steht auf einer Erhebung die kleine Kapelle.

 

Bei P. frühstücke ich, mit Blick auf die alte Stadtmauer. Danach flaniere ich Richtung Universitätsbibliothek und weiter zum Brechtbau. Eigentlich hatte ich gehofft, mich hier zu einer Tagung zum Thema Popliteratur dazusetzen zu können, doch die Corona-Maßnahmen erlauben das wohl nicht. Nicht mal in die Universitätsbibliothek finde ich Einlass. Ohne Studierendenkarte ist hier kein Eintritt mehr möglich.

Allmählich etwas gefrustet ziehe ich mich noch bis zur Neckarbrücke, wo ich mich bei der Platanenallee auf einer Bank niederlasse, mit Blick auf den malerischen Hölderlinturm und die bunte Häuserfassade längs des Neckarufers. Ich lese ein wenig – und habe plötzlich eine Idee. Eigentlich sollte mein Zug erst heute Abend fahren. Doch J. fährt zufällig auch heute in meine Richtung. Ich rufe ihn an. Sage, dass ich doch schon fertig bin und lieber mit ihm einen Roadtrip machen würde, als hier auf den Hölderlinturm zu starren. Er holt mich wieder beim Bahnhof ab. Dort warte ich im Schatten eines Baumes auf ihn. Es ist heiß heute in Tübingen. Der Lärm der vorbeirauschenden Autos macht mich unruhig. Als J. endlich angefahren kommt, bin ich richtig froh.

Tübingen, das waren drei gute Jahre, die jetzt aber vorbei sind.

Ich steige zu J. ins Auto und wir fahren los.

 

 

Nacht ohne Dach. – Nacht mit Lichtern. –

Café-Garten am Rande der Stadt, -

Wo jeder Gegenstand die Seele von Dichtern

Oder versöhnende Hilflosigkeit hat.

 

Und Menschen kommen und gehen.

Und es lügt ein Getu und Getön.

Aber Tischtücherzipfel wehen,

Und das ist schön!

 

Und dann ist auch schön: ein Paar

Verliebter Jugend. –

Nacht ohne Dach …

 

Erinnerung, rufe nicht wach,

Wie schlimm eine Nacht ohne Dach

Einst für mich war.

 

 

(Joachim Ringelnatz)