Der Zug, aus dem ich steige, war gerappelt voll. Ich lasse mich mit dem Strom der Reisenden Richtung Bahnhofsausgang treiben. München in acht Stunden – ist das möglich? Wohl kaum, aber man kann es versuchen.
Ich warte an einem der vielen Ausgänge auf M., die noch einen Gottesdienst besucht und mich jetzt hier treffen wird. Ich beobachte die Menschen. Draußen unter einem eisgrauen Himmel laufen sie vorbei, eine dicke Frau in bayerischer Tracht, ein älterer Herr in einer gefilzten Jacke, daneben junge Leute mit sportlichen Rädern. Und dann gibt es diese seltsamen Personen, die besonders dicht an einem vorbeilaufen und mich unterschwellig aggressiv machen. Zum Glück kommt bald M. Wir umarmen uns herzlich. Nächsten Samstag wird sie heiraten – und irgendwie finde ich es schön, dass wir uns heute noch ein paar gemeinsame Stunden gönnen, bevor der große Tag für sie kommt.
Zuallererst brauchen wir ein gutes Café, in dem wir essen, trinken und reden können. Ich weiß nicht, wann wir uns das letzte Mal gesehen haben. Es ist lange her. Auch heute bin ich nur auf der Durchreise, und M. ist im Vorbereitungsstress. Doch sie sagt, dass ihr die Pause guttut, und mir tut die Pause auch gut. Wir nehmen eine volle S-Bahn zum Viktualienmarkt, wo normalerweise Obst und Gemüse feilgeboten werden und die Luft voller unterschiedlicher Düfte ist – das zumindest erzählt M. Heute ist Sonntag und wir finden nichts als gähnend leere Stände, aber dafür kommen wir leichter vorwärts. Das Café, das M. für uns auserkoren hat, ist besser, als ich es mir vorstellen konnte. Es heißt Café Fräulein und schon im Fensterkasten liegen kunstvolle Zimtschnecken aus. Die müssen wir probieren, sagt M. und ich stimme ihr zu. Wir setzen uns im Café auf wacklige Barhocker, weil es heute leicht nieselt, und bestellen uns mit Blick zur Wand zwei Zimtschnecken mit Vanillesoße und Blaubeeren. Das Gebäck ist himmlisch! Der Teig zart, süß, und schmeckt doch leicht; die Blaubeeren knackig und saftig – und dazu Vanille ... Was will man mehr? Unsere Gespräche kreisen natürlich um die bevorstehende Hochzeit, das Kleid, über das M. mir nichts Genaueres verraten will, Probleme bei der Urlaubsplanung und Stress auf der Arbeit. Während wir die beste Zeit haben (auch die Café Creme ist hervorragend!), lauern draußen schon zwei ältere Damen auf die heißbegehrten Plätze innen. Immer wieder spähen sie zu uns herüber. Die Bedienung kommt, räumt unsere leergeputzten Teller weg und fragt, ob wir noch was wollen. Wir verneinen unsicher und sie beteuert, dass wir ruhig noch sitzen bleiben können. Wir tun das noch eine Weile, wollen dann aber sowieso weiter und noch etwas besichtigen. Während M. zur Toilette geht, zahle ich. Die Bedienung wirkt enttäuscht. „Schade. Den Triumph gönne ich den Damen da draußen ja nicht.“ Ich muss lachen, gebe gutes Trinkgeld und versichere, dass wir wirklich aus freien Stücken weiterziehen und betone, wie lecker die Zimtschnecken waren. Das Café Fräulein in München nahe am Viktualienmarkt erhält von mir fünf von fünf Sternen.
Durch den Regen laufen wir über den Marienplatz zum Rathaus und von dort zur Frauenkirche. Vor dem Neuen Rathaus haben sich Menschentrauben gebildet, die auf das Glockenspiel im Turm warten. Zeit mit M. zu verbringen macht einfach Spaß. Alles ist locker und leicht. Für die Kirche möchte ich informative Flyer, um noch etwas zu lernen, doch die große Auswahl von sehr speziellen Themen überfordert uns. Das, was mich reizt, gibt es immer nur in Spanisch. M. organisiert für mich den Flyer zum Thema „200 Jahre Kathedrale“, der mir wie eine Einführung scheint, also genau, was ich will, und damit ziehen wir los. Wir haben vier verschiedene Flyer, in allen sind unterschiedliche Punkte der Kirche vermerkt und erläutert. Wir laufen von einer Statue des ersten Erzbischofs von München vor bis zum Chorgestühl, das noch die alten Figuren von Propheten, Aposteln und Heiligen trägt, die um 1500 geschnitzt wurden. Wir fachsimpeln ungenau und falsch über die alten Gemälde, erforschen die mufflige Krypta und bewundern die Glasfenster, die berühmte Münchner Gnadenmadonna und darüber das Scharfzandtfenster aus dem 15. Jahrhundert, so nach seinem Stifter Wilhelm Scharfzandt benannt. Auch das Chorkreuz betrachten wir näher. An Drähten hängt ein mächtiges Kreuz von der Decke. Ich habe Angst, dass es herunterfallen könnte. Im Flyer lesen wir, dass das Kreuz durch seine Gegensätze beeindruckt: „Es schwebt, trotz offenkundiger Schwere, über dem Altarraum. Der leidlose Gekreuzigte blickt – bei aller Wucht der Erscheinung – nach innen.“ Ich finde das wirklich kunstvoll auf den Punkt gebracht. Die Jesus-Figur hat auf ergreifende Art die Augen geschlossen.
Wieder haben wir Glück. Wir haben gerade rechtzeitig alles gesehen, ehe wir rausgeschmissen werden, weil ein Gottesdienst beginnt, zu dem keine Gäste zugelassen sind. Alles wird gefilmt und so übertragen. Und die Glückssträhne reißt nicht ab. Wir wollen auf den Alten Peter, die Peterskirche, deren Turmspitze eine Aussichtsplattform bietet, von der aus man München wunderbar überblicken kann. Wegen Covid werden immer nur 25 Leute pro halbe Stunde hochgelassen – wir erwischen die letzten beiden Plätze.
Der Aufstieg die hölzernen Treppen hinauf ist beschwerlich, da wir durch die Masken nicht gerade gut atmen können. Ich trage zusätzlich meinen eher schweren Reiserucksack und bin bemüht, nicht nach hinten hinunterzupurzeln. Oben angekommen staunen wir über die Aussicht und gehen dann aus Versehen in falscher Gehrichtung den Rundgang entlang. Keiner pöbelt uns an, bis wir unseren Irrtum bemerken. Nun ist es aber auch schon zu spät. Ich möchte gerne ein Foto von hier oben machen, mit Blick auf die Frauenkirche und das Rathaus. Aber traue ich mich? Wenn mir hier oben mein Smartphone herunterfällt, ärgere ich mich zu Tode. Ich wage es trotzdem, das Handy stählern umklammernd, und das Projekt gelingt. „Der größte Kick des Tages“, sage ich zu M. und ein Herr neben uns lacht laut. Ein lautes Piepsen wie von einer Alarmanlage weist uns auf das Ende unserer Besuchszeit hin. Wir steigen wieder hinunter. Runter ist wesentlich leichter als hoch.
Und nun?
Wir fahren zum Königsplatz, wo wir die Alte Pinakothek besichtigen wollen. Leider endet ab hier unsere Glückssträhne. Die Tickets sind restlos ausgebucht. Uns war nicht klar, wie begehrt die Plätze sind. Für heute leider Pech gehabt, doch das macht uns nicht viel aus. M. muss sich nun sowieso bald verabschieden. Sie muss noch mit dem Hotel telefonieren und derartige Dinge. Schön war es! Der Abschied fällt nicht schwer, weil ich sie mit etwas Glück (negativer Schnelltest selbstverständlich erforderlich für größere Feiern) in wenigen Tagen wiedersehen werde. Gerade fühle ich mich jedenfalls nicht krank.
M. empfiehlt mir für meine verbleibende Zeit das Parkcafé im Alten Botanischen Garten, den ich schnell erreicht habe. Ich drehe eine Runde durch die vom Regen feuchtschwere Grünfläche und suche mir dann ein Plätzchen im Café, gleich neben einer kleinen Buchecke. Die Titel klingen eigentlich ganz gut. Ich bestelle mir die Detox-Gurke, ein kühles Getränk mit Gurke, frischem Ingwer, Zitrone und vielen kalten Eiswürfeln, die ich glücklich mit den Zähnen zerbeiße. Dabei knirscht es immer so schön. Außerdem ist es Zeit für einen Snack, bevor ich vier Stunden mit dem Zug zurück nach Kassel fahre. Ich wähle Süßkartoffelpommes mit Grana Padano und Trüffelmayonnaise, alles sogar vegan. Das Café ist gemütlich, ein echter Tipp, wenn man längere Zeit auf einen Zug zu warten hat. Von hier sind es nur acht Minuten zu Fuß zum Hauptbahnhof. Über meiner Detox-Gurke schreibe ich eine Karte für die Hochzeit von M. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, oder? Ich freue mich für die beiden. Zu zweit ist man weniger allein. Aber allein hier im Café ist netter als erwartet. Wie schnell die Zeit verfliegt. Ich zahle und mache mich auf zu den Gleisen. Die vielen Menschen auf den Straßen nerven mich. Ein Mädchen tippt mich plötzlich von hinten an und hält mir einen leeren Briefumschlag hin. Ob ich den verloren habe. Ich sehe mir den weißen Umschlag an und verneine. Sie lächelt freundlich, zuckt mit den Schultern, lässt den Umschlag fallen und geht weiter. Ich auch.
Am Gleis warte ich auf den Zug und beobachte wieder die Menschen. Mir gegenüber am anderen Gleis sitzt ein Soldat der Bundeswehr. Er ist unruhig, steht immer wieder auf, tigert hin und her. Ab und an schaut er zu mir. Ich tue so, als bemerke ich es nicht.
Dann kommt mein Zug. Schön warm ist es drinnen. Wer weiß, wann ich München das nächste Mal wiedersehen werde. Ach ja, nächsten Samstag, wenn alles gut läuft.
Acht Stunden reichen jedenfalls nicht für diese Stadt – aber ein Anfang ist gemacht.
Wenn du zur Arbeit gehst
am frühen Morgen,
wenn du am Bahnhof stehst
mit deinen Sorgen;
da zeigt die Stadt
dir asphaltglatt
im Menschentrichter
Millionen Gesichter:
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lieder –
Was war das? Vielleicht dein Lebensglück …
Vorbei, verweht, nie wieder.
(Kurt Tucholsky)