Am 22. Januar um sechs Uhr abends kam ich schließlich in Bayreuth an. Man wird vielleicht neugierig auf meinen Einzug sein. Hier ist er: …Der Markgraf und die beiden Prinzessinnen, seine Töchter, empfingen mich zusammen mit dem Hofstaat am Fuß der Treppe. Er geleitete mich unverzüglich in mein Gemach. …Ich wurde durch einen langen Gang hineingeführt, der mit Spinnweben tapeziert und derart dreckig war, dass einem schlecht wurde. …Das anschließende Kabinett war mit schmutzfarbenem Brokatell ausstaffiert; daneben gab es ein weiteres, dessen Ausstattung mit grünem löchrigem Damast einen erstaunlichen Eindruck machte; ich sagte löchrig, da er in Fetzen hing und das Gewebe überall durchschien. …Mein Bett war so schön und neu, dass es nach vierzehn Tagen keine Vorhänge mehr hatte, weil sie, kaum dass man sie berührte, zerrissen. Diese Pracht, die ich nicht gewöhnt war, versetzte mich in höchstes Erstaunen.
(Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth, „Memoiren einer preußischen Königstochter“)
Ich steige aus dem Zug in den Sommer. Warme Luft umfängt mich. Bayreuth. Hier muss ich wohl vor vielen Jahren geboren worden sein – und doch, eigentlich kenne ich diese Stadt nicht. Das soll sich ändern.
S. wohnt und studiert in Bayreuth. Ich finde sie vor dem Bahnhofsgebäude, in Rock, Sandalen, die Sonnenbrille auf der Nase. Wir umarmen uns, freudig: Das lange, erholsame Sommerwochenende kann beginnen. Eigentlich wollte ich heute noch arbeiten, aber da ich ein wichtiges Programm für meinen Laptop vergessen habe, geht das nun leider nicht. S.‘ WG liegt nahe am Bahnhof. Wir versuchen uns unbemerkt ins Haus zu schleichen, denn S. fürchtet das Gezeter einer gewissen betagten Frau S., die eifrig den Boden geputzt hatte, als sie gegangen war. Als wir kommen, ist sie gerade hinter der Ecke und putzt die blauen Mülltonnen. Sie sieht und hört uns nicht. Geschafft!
Zuerst einmal wird gefrühstückt. S. war beim Bäcker. Wir kochen Kaffee, plaudern kurz mit den drei Französinnen, die in der Küche sitzen, und überlegen, wie wir den Tag gestalten wollen. Wir beschließen, heute vor allem den Hofgarten zu erkunden, in dem S. auch gerne sitzt und für die Uni lernt oder Enten und Gänse beobachtet. Ich bin schockiert, dass ich wirklich nichts in Bayreuth kenne. Wir durchstöbern einen Bücherschrank, der auf dem Weg liegt, passieren das Iwalewa-Haus, früher Sitz der Forstdirektion Oberfranken, nun ein Gebäude der Universität, das außereuropäische Kunst mit dem Schwerpunkt Afrika ausstellt, und gelangen zum Sternplatz. Links um die Ecke in die Richard-Wagner-Straße. Der Hofgarten ist nicht weit entfernt. Die Sonne brennt uns auf die Köpfe und ich denke, dass sich das heute wie Italien anfühlt.
Der Hofgarten ist ein verwunschener Ort. Neben einem Art Vor- oder Nebengarten steht ein verglaster Bau, der zur Stadtgärtnerei gehört. Durch die Fenster sehen wir Statuen von römischen Göttern. Sie starren uns an, Tritone, die Meeresgötter aus dem Gefolge des Poseidon, Athena, und ganz hinten ein gigantischer Pferdekopf ohne Körper. Wir selbst spiegeln uns im Glas und sind auf den Fotos mit verewigt, die ich mit dem Smartphone schieße. Ein paar Männer trinken Kaffee in einem Café, das sich nicht an die Öffentlichkeit zu richten scheint, und wir eilen an ihnen vorbei hin zum eigentlichen Park. Die Bäume blühen grün und spiegeln sich in den Wasserbahnen wider. Die Welt hier ist grün. Nackte steinerne Frauengestalten sitzen im Wasser, umgeben von etwas miesepetrig dreinschauenden Knaben, und blicken aufs Neue Schloss, einen Rokoko-Palast. Abgüsse der Figuren, die wir eben durch das Fenster gesehen hatten, begegnen uns hier wieder. Einer der Steinknaben reckt seinen Hintern in die Höhe und scheint ins Wasser zu stürzen. Weiter innen in der Parkanlage schwimmen kleine Inseln im Wasser. Auf einer sitzt ein Engel. Ich meine die Flügel aus der Ferne zu erkennen. Ich fotografiere S. in Szene gesetzt in einem weiß-goldenen Pavillon, einem Monopteros, der zu Ehren der verehrten preußischen Königin Luise erbaut wurde. Wir lassen uns treiben. Im hohen Gras verschwindet ein Taubenpärchen, ein Hund jagt den dicken Fischen nach, Leute spazieren entspannt oder auch geistig verwirrt an uns vorbei. Schließlich stehen wir vor der Großen Insel, die nun wirklich nicht so sehr groß ist, aber schön durchaus. Eine pittoreske Brücke führt dorthin. Auf der Insel ist ein riesiger, entsetzt blickender Pferdekopf. Absurder geht es nicht, finde ich. Wo kommen all die halben Pferde her? Aber natürlich gibt es eine Erklärung für diese Mysterien: All diese Fragmente sollten Bestandteil einer Neptungruppe werden, die nach dem Tod von Markgräfin Wilhelmine nie fertiggestellt, verkauft und im gesamten Stadtgebiet verstreut wurden. Schade!
Wir schlendern, gemächlich der Hitze entsprechend, zurück in die Stadt. Am Weg gibt es immer wieder brisante Informationen zu Wagner. Eine Tafel stellt uns einige seiner ersten Geliebten vor. Wagner war mir schon immer unsympathisch, der Text verstärkt das nur. Leah („Es war meine erste Liebe“), Jenny („Sie war meiner Liebe nicht wert“), Jessie („als das jugendliche Weib mir vielgeprüften, lebensunfrohen Manne entgegenleuchtete“), Marie („erste Flamme“). Wie viele erste Flammen kann man denn haben?
Die Hitze zwingt uns, uns in einem Eiscafé niederzulassen. Die Bank ist mit samtenen Kissen gepolstert, die Stühle filigran, wie man sich das in Cafés in Paris vorstellt. So schnell sind wir von Italien nach Frankreich gekommen.
Irgendwann wollen wir auch wieder nach Hause. Auf dem Weg sind diesmal Wagner Gönnerinnen. Julie. Mimi. Pauline. Wer weiß, ob sie auch Flammen waren. Wundern würde es mich nicht. Die Schar von Frauen um Wagner herum irritiert mich.
Wir treffen zeitgleich mit zwei Paketboten von Amazon Prime bei der WG ein. Einer der beiden fällt versehentlich in die frisch geputzte blaue Tonne hinein und befreit sich eilig daraus.
So vergeht ein heißer, schöner Tag in Bayreuth. Abends machen wir uns mit einem Bier auf in tropische Regionen. Zumindest wirkt der braune Flusslauf des Mains so, umsäumt vom hohen, satten Gras, den Schlammspuren daneben. Enten schwimmen neben uns her. Wir steuern die Wilhelminenaue an, setzen uns ins Gras, schauen den Gänsen bei ihrem unaufgeregten Treiben zu. Einige Schüler haben Musik angemacht, trinken, machen Fotos, und sehen alle gleich angezogen aus. Weiße Turnschuhe und lange weiße Socken. Die Sonne geht in sanften Pastellfarben unter. Es dauert lange, bis die Wärme weicht. Ein einsamer Baum ragt vor dem Teich auf.
Dann machen wir uns auf den Nachhauseweg.
Als wir am nächsten Morgen aus der Wohnung treten, weht uns ein warmer Sommerwind entgegen, was wir der tropischen Hitze von gestern vorziehen. Wir spazieren zielstrebig zum Markgräflichen Opernhaus, das Weltkulturerbe ist und ganz oben auf unserem Sightseeing-Programm für heute steht. Wir dürfen dort unsere Kontaktdaten hinterlassen und uns für die nächste Führung in einer halben Stunde eintragen. Mehr oder weniger gegenüber vom Opernhaus ist ein Café, das wir schon gestern erspäht hatten und nun besuchen wollen: 1897, Kaffeehaus & Genussort. Wir setzen uns an die hohen hölzernen Tische und S. holt uns einen Eiskaffee im ganz klassischen Sinne. Ein Espresso als Grundlage, Hafermilch und Eiswürfel obendrauf. Ich bin begeistert, wie aromatisch der Kaffee schmeckt. Das Café glänzt mit seiner eigenen Kaffeerösterei.
Wir haben die kurze Wartepause genau richtig gefüllt und treten schließlich wenig später mit einer kleinen Gruppe von Leuten ins Opernhaus ein. Es ist dunkel im Innern und das Gold im Opernsaal leuchtet uns von überall entgegen. Die Logen sind beleuchtet und der komplette Bau besteht aus Holz. Errichtet von 1746 bis 1750 im Auftrag von Markgraf Friedrich von Bayreuth und Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth ist das Opernhaus eines der wenigen Theaterbauten des 18. Jahrhunderts, die heute noch so gut erhalten sind, weshalb es auch zum Weltkulturerbe ernannt wurde. Die barocke Pracht hat ihren Charme. Unsere Führerin bittet uns, Platz zu nehmen. Ein kleiner Film erwartet uns. Spannender jedoch ist die Vorstellung einiger Bühnenmaschinen danach. Die Donnermaschine ist leider außer Betrieb, aber die Wind- und die Regenmaschine funktionieren einwandfrei.
S. und ich sind sehr erfreut, dass wir uns die Zeit für das Opernhaus genommen haben. Vermutlich haben wir alle während Corona an so etwas wie Kulturentzug gelitten. Ganz in diesem Sinne machen wir uns danach auf zum Neuen Schloss beim Hofgarten. Dessen Nähe muss wohl auch Anreiz zum Bau um 1753 gewesen sein, nachdem ein Feuer die alte Residenz (heute das Alte Schloss) von Friedrich und Wilhelmine zerstört hatte.
Von den Decken hängen prächtige Kronleuchter, aus den großen Fenstern blickt man zur einen Seite direkt in den grünen Garten. Gold und blau an den Wänden, der Boden knarzt leise unter unseren Füßen. Wir drehen einige Runden durch das Schloss, und am schönsten befand ich die erste, nämlich die durch den Damenflügel. Aus goldgerahmten Bildern sehen uns zahlreiche Augenpaare des barocken Adels an, Kartenspiele sind auf kleinen Tischchen ausgebreitet, die erste noble Polstergarnitur ist silbrig-weiß. Teppiche hängen an den Wänden, reich bemalt, unter anderem auch mit lustigen, kleinen Drachenbabys. Schließlich kommen wir ins Spiegelscherbenkabinett. An der Decke prangen Scherben von Spiegeln, in abstrakten Formen, und mittig ist eine Chinesin gezeichnet, die Tee trinkt. Danach gelangen wir in den Salon mit der Golddecke. Die Stuckdecke ist dem Ozean nachempfunden, zahlreiche Muschelabbildungen hängen über uns. Das Japanische Zimmer, das sich anschließt, ist wesentlich heller gestaltet, die Polstergarnitur hellblau, die Wände weiß und golden. Die Infotafel verrät uns, dass der Raum „zu den schönsten Garten- und Spalierzimmern des Bayreuther Rokoko“ zählt. Der Saal ist in jedem Fall exotisch. Wilhelmine soll hier geschlafen haben, unter den Flügeln der exotischen Vögel, die das Zimmer zieren.
Natürlich kommen wir auch zum Musikzimmer, wo ein Cembalo steht und andere Instrumente der Zeit ausgestellt sind. Markgräfin Wilhelmine spielte vier Instrumente und komponierte selbst. Auch der Herrenflügel ist prächtig wie alles hier. Besonders das Palmenzimmer bleibt mir im Gedächtnis. Manche halten es für den schönsten Raum des Schlosses, ich finde ihn weniger kreativ als die fein ersonnenen Zimmer des Damenflügels. Doch nichtsdestotrotz: das helle Gold, die geschnitzten Palmenstämme mit ihren herrschaftlichen Kronen, Vögel, Fische, Schlangen und Drachen. Hier hätte ich die Einladung zu einem Bankett selbstverständlich nicht ausgeschlagen.
Wir verlassen die Wohnräume und besichtigen noch die Miniaturen-Ausstellung, die uns durchaus überzeugt. Kleinste Malereien in goldverzierten Amuletten und dergleichen zeigen Szenen von Liebe, Leidenschaft und Lust. Ich bin wahrlich erstaunt, was so früh schon alles bildlich dargestellt wurde. Sogar eine feine Dame, die sich selbst beglückt, findet sich unter den Bildern, Mönche, die nichts von Enthaltsamkeit halten, und selbstverständlich bekannte Motive aus der Literatur wie die Bedrängung der Lucretia.
Zu guter Letzt streifen wir durchs Museum, das uns Wilhelmine als Person, als Gönnerin der Kunst und als Künstlerin selbst näherbringt.
Danach sind wir recht erschöpft. Wir trinken Eistee im Ponte und beschließen, den Rest des Tages gemütlich zu machen. Morgen schließlich steht noch einiges auf dem Programm.
Wir gehen schon am Vormittag in die Eremitage, eine ab 1715 angelegte Parkanlage. Wir laufen zu Beginn durch den geometrischen, barocken Garten, am Wasserlauf entlang. Eine junge Frau lässt sich von ihrem Freund vor dem Meer von Seerosen fotografieren, die im runden Tümpel schwimmen. Die Hecken gliedern Wege und manche bilden Tunnel, durch die man gehen kann. Ein kleines Labyrinth. Schließlich gelangen wir zum Neuen Schloss der Eremitage, wo auch der Sonnentempel steht. Das im Morgenlicht schimmernde Mosaik, das vor allen Dingen den Sonnentempel ziert, besteht aus farbigen Kristall- und Glasflusssteinchen, die aus Italien stammen. Kleine, weiße Wölkchen treiben am blauen Himmel. Das Wasserbecken vor dem Schloss, die Obere Grotte, spiegelt die grünen Bäume auf der anderen Seite. Weiße Statuen von halb entblößten Menschen ragen in die Höhe. Wir verlieren uns gerne in dem etwas freieren Teil des Parks. Weiter unten können wir Wasserspiele beobachten, die das Becken umgebende Gebäude sind von Efeu überwuchert. Immer wieder stehen vereinzelt Pavillons in dunklen Ecken. In einem davon steht ein royaler Spitz mit buschigem Fell. Nicht weit davon proben Schauspieler*innen im Freien. Hier sind schöne, natürliche Bühnen gegeben und ich hätte gut Lust, sofort ein Stück zu sehen. Aber das muss wohl noch warten. Markgräfin Wilhelmine hatte hier 1743 zusammen mit Voltaire in einem Stück des französischen Dramatikers Racine gespielt.
Wir flanieren also zurück, diesmal durch einen der Pflanzentunnel. Nur ein dünner Strahl der Sonne dringt durch das Geflecht.
Am Abend erst machen wir uns auf zum Festspielhaus. Während wir vom Bahnhof dorthin gehen, werden die Villen prächtiger, die Balkone der Häuser größer. Alles hier wirkt sehr friedlich. Wir befinden uns in der Gartenstadt. Das Festspielhaus ist durchaus ansehnlich, als wir davorstehen, aber auch nicht so beeindruckend wie vielleicht erwartet. Von der Bayreuther Bevölkerung wird das Haus als Scheune bezeichnet. Orangener Stein, alles sieht neu aus. Man sieht ihm die jahrelange Renovierung an. Davor ein ordentliches Blumenbeet. Immerhin ist um die Ecke auch die Geschichte der Bayreuther Festspiele erläutert, die schon 1889 begann. Richard Wagners Traum vom Gesamtkunstwerk klingt dort an, auch seine antisemitischen Äußerungen werden nicht ausgelassen. Ich bin erleichtert, hatte ich doch fast befürchtet, das wolle man verdrängen. Doch Bayreuth scheint seine verhängnisvolle Verbindung mit dem Nationalsozialismus aufzuarbeiten, die auch mit dem Werk Richard Wagners und der Nähe der Familie Wagner zu Hitler zusammenhängt. Nichtsdestotrotz: Der Wagner-Kult in Bayreuth bereitet mir immer etwas Bauchschmerzen. Obwohl Bayreuth ohne Wagner wohl weltweit unbekannt geblieben wäre.
Da das Festspielhaus so spät am Abend nicht mehr geöffnet hat, können wir das wirklich Beeindruckende des Hauses, nämlich die Akustik, der sich alles andere unterordnet, nicht erleben. Wir laufen ein Stück weiter hoch, wo sich eine große Wiese auftut. Auf den Bänken davor sitzen junge und alte Menschen, essen gemeinsam oder trinken etwas oder schauen allein auf das Feld und die Wälder dahinter, über denen die große Sonne hängt. Die Ahnung eines Regenbogens schwingt sich darüber. Auch wir haben ein Bier und stoßen an.
So geht die Erkundung meiner Geburtsstadt zu Ende. Der nächste Tag ist von Arbeit geprägt, denn irgendwo muss das Geld ja herkommen. Immerhin am späten Nachmittag schlendern S. und ich noch einmal durch die Stadt und trinken einen Eiskaffee im Kraftraum. Er kommt mit einer roten Erdbeere dekoriert, die nach Sommer schmeckt. Danach bringt S. mich zum Zug und ich sage, dass es wie Urlaub für mich war. Bayreuth, dieses Wochenende hat es sich ein wenig wie Italien angefühlt, vielleicht auch mit einem dezenten Pariser-Flair. Ich habe mein Fernweh in der Heimat ein wenig gestillt und kann nun wieder nach Hause fahren.
Du gehst dein Leben lang
auf tausend Straßen;
du siehst auf deinem Gang,
die dich vergaßen.
Ein Auge winkt,
die Seele klingt;
du hast´s gefunden,
nur für Sekunden …
Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick,
die Braue, Pupillen, die Lider;
Was war das? Kein Mensch dreht die Zeit zurück …
Vorbei, verweht, nie wieder.
(Kurt Tucholsky)