Unser Hotelzimmer in Canmore war enorm luxuriös. Die Fernseher wurden immer größer. Wir ruhten uns etwas aus und zogen in der Abendlichtstimmung los, um die Three Sisters zu fotografieren, drei
Berge nahe Canmore. Anschließend fuhren wir zum Minnewanka Lake, einem Gletschersee. Der See ist 21 Kilometer lang und 142 Meter tief. Dahinter ragten die Berge auf. Und hier am Minnewanka Lake,
ging in Erfüllung, wovon ich letzte Nacht geträumt hatte. Wir sahen die Dickhornschafe. Mit ihren kräftigen Hörnern stießen sie sich andauernd gegenseitig.
Wir waren wieder ganz in der Nähe von Banff, dem Start unserer Reise, und beschlossen, zum Abschluss zum Two-Jack-Lake zurückzukehren, wo wir zu Beginn den Kojoten im Wald gesehen hatten. S. war
mit dem Fotografieren beschäftigt. Ich stand still und lauschte dem Heulen der Kojoten in den umliegenden Wäldern. Es war wie Gesang. N. und ich waren ganz gebannt.
Wir schliefen gut und lange in unseren weichen Betten in Canmore. Ausgeruht hofften wir, den Tag so etwas wacher angehen zu können. Im Hotelrestaurant gab es ein reichhaltiges Frühstück. Das
konnten wir gut gebrauchen, denn wir hatten eine anstrengende Wanderung geplant. Wir wollten zum Cascade Amphitheatre, und das hieß 15 Kilometer den Berg hoch. Am Wegesrand erwarteten uns eine
blumige Überraschung: die Calypso. Ich weiß nicht genau, was jede*r von uns in Kanada suchte, aber S. hatte definitiv eine große Sehnsucht nach der Calypso, und immer, wenn sie uns wie hier
erschien, ging die Sonne auf.
Auf dem Rückweg folgten uns zahlreiche Columbian Ground Squirrels, die Columbia-Ziesel, und S. konnte das bisher beste Foto dieser Hörnchen machen: Die ganze Familie saß zusammen im Gras; die
Mutter mit zwei Jungen, Männchen machend. Es war zum Zerreißen süß.
Unsere letzte Tour an unserem vorletzten Tag in Kanada ging um die Vermillion Lakes. Sie verlief mitten durch den Wald und wieder hörten wir die Kojoten singen. Dazu plapperten wir laut, um die
wilden Tiere fernzuhalten. Plötzlich bemerkte ich links neben mir drei riesige Wapitis im Gras. Sie lagen da so gut getarnt, dass niemand von uns sie gesehen hatte. Nun waren wir etwas
erschrocken, weil sie so groß und wir so dicht an sie herangekommen waren. Wapitibullen können sehr angriffslustig sein – heute erst hatten wir ein schönes Foto von einem Bullen gesehen, der
Geweih voraus auf ein Auto zugestürmt war.
Langsam stellte sich ein wehes Abschiedsgefühl ein. Morgen sollte schon der letzte Tag sein und ich wollte am liebsten gar nicht zurück. Ich fantasierte darüber, mein Studium abzubrechen und hier
Ranger zu werden. Den ganzen Tag würde ich dann Grizzlies, Schwarzbären und Wölfe im Wald suchen und dabei meine Freude haben, bis mich einer fressen würde.
Gestern hatten wir uns über Bärenangriffe informiert und gelernt, dass die meisten Unfälle nicht von Müttern ausgehen, die ihre Junge beschützen, sondern von herumstreunenden Männchen. Da gibt es
wohl ein Prozent Bären, die einen starken Jagdtrieb haben und einfach allem, was sich bewegt, nachgehen. Ganz anders als die Bären, die wir gesehen hatten, die entweder im Dreck wandern waren
oder wie Kühe gegrast hatten.
Insgesamt ist jedenfalls die Wahrscheinlichkeit größer, vom Blitz erschlagen zu werden als einem Bären zum Opfer zu fallen.
Und damit brach unser letzter Tag an. Wir schöpften ihn aus. Nach einem kanadischen Frühstücksmuffin mit Ei und Käse und dem wundervollen Brühkaffee fuhren wir zur Sunshine Village und nahmen von
dort den Bus hoch zu den Sunshine Meadows, eine echte Schleuderfahrt – sehr abenteuerlich!
Oben erwarteten uns Wiesen voller Hundszahnlilien und Küchenschellen. Unsere Wanderung führte uns an drei Seen vorbei: Rock-Isle Lake, Grizzly Lake und Laryx-Lake, wo wir einen Eistaucher, einen
seltenen Wasservogel, beobachten konnten. Überall sprangen Erdhörnchen und Chipmunks umher.
Auf der Rückfahrt von Sunshine Village zum Lake Minnewanka begegneten uns wieder Dickhornschafe, diesmal Mütter mit ihren verspielten Jungen.
Abschließend fuhren wir zu den Grassi Lakes. Dort war für heute explizite Grizzly- und Schwarzbärenwarnung ausgegeben, doch mit Bärenspray und Bärenglöckchen gewappnet wagten wir uns in den
Wald.
Kein Bär fraß uns, und so packten wir am nächsten Tag früh unsere Sachen, fuhren nach Calgary, gaben den Mietwagen ab und traten unseren Rückflug an.
Ich höre noch heute die Kojoten heulen.
Es ist etwas in mir
wie ein vages Erinnern an Weitentlegenes,
das vor langer, langer Zeit gewesen,
vielleicht nur Träume,
die ich einst geträumt und vergessen habe.
(Hedwig Dohm)