Wir fieberten Kanada entgegen, weil wir vor allen Dingen eines zu sehen erhofften: Bären. S. saß wie immer am Steuer – und N. und ich drückten unsere Nasen ans Fenster, um Ausschau nach Tieren zu
halten. Besonders neugierig waren wir auf Grizzlybären. Als Erstes begegnete uns ein kleiner Bär. Wir waren hell aufgeregt. Ein Schwarzbär! Er war wirklich eher klein, vermutlich ein Jungbär. Er
tapste am Straßenrand entlang und verschwand dann wieder in die Büsche. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen Bären in freier Wildbahn gesehen.
Nach einem ausgedehnten Frühstück in Banff (bestehend aus Muffins, Bananenbrot, Eiern und Croissants) verließen wir unser Quartier und fuhren bei Regen zum Johnston Canyon. Ein durchdringend
blauer Fluss mündete in einem Wasserfall, der eine steile Schlucht hinabstürzte. Der Ort war so von Touristen überlaufen, dass wir schnell wieder umkehrten. Wir machten uns auf Orchideenjagd!
Tatsächlich fanden wir im Straßengraben den Bergfrauenschuh (Cypripedium Montanum) und konnten schöne Bilder machen.
Auf unserer Route lagen auch die sogenannten Paint Pots: ocker-farbene Pfützen, Seen, seltsam bunte Bäche ... Die Farbe besteht aus Eisenverbindungen und war in früherer Zeit sehr begehrt. Es ist
die Farbe der Höhlenmalereien unserer Vorfahren in der Steinzeit. Mit den Fingern fuhr ich durch die Farbpfützen und malte mir zwei Streifen auf die Wangen. Ich dachte, ich könne es danach leicht
wieder wegwischen, aber die Farbe wurde erstaunlich hart und ging nur schwer ab. Kein Wunder, dass die Höhlenmalereien über Jahrtausende erhalten blieben!
Nachmittags erreichten wir Lake Louise und checkten in der Mountaineer-Lodge ein. Das Zimmer war doch sehr viel komfortabler als unser rustikales Kämmerchen in Banff. In der Ortschaft kauften wir
ein Bear-Spray – S. war nun offizieller Waffenbesitzer!
Abends fuhren wir zum Moraine Lake. Das Wasser des Sees war so blau, dass es wie gemalt aussah. Die Berge dahinter schneebedeckt. Mitten im Juni waren wir dort – und es fing an zu schneien. Wir
waren nicht gerade passend angezogen für diese Überraschung, trotzdem fand ich es wunderbar. Schnee im Sommer! Eigentlich fand ich alles hier wunderschön: Jeden Tag sahen wir neue Tiere, neue
Orchideen, neue Landschaften. Ich erinnere mich, wie ich frierend am Moraine Lake stand, mitten in diesem unerwarteten Schneegestöber und in meinem Kopf die Melodie von Rain and Snow sang: Rain
and snow, rain and snow, she ran me out in the cold rain and snow ...
Am nächsten Tag war der Winter vollends zurückgekehrt. Schnee lag auf den Nadeln der Bäume, als wir wieder zum Moraine Lake fuhren, um zu fotografieren. Es war kalt, doch wir hatten dazu gelernt
und waren diesmal besser ausgerüstet. Danach besuchten wir den Bow Lake, der mir riesig erschien, und schließlich den Peyto Lake, der die intensivste Farbe von allen hatte. Der
Touristenaussichtspunkt war völlig überlaufen – also stiegen wir weiter hoch, wo es einsam wurde, und die Aussicht noch grandioser. Das Wasser leuchtete türkis. Außerdem trafen wir dort oben die
Golden Ground Squirrels, die Goldmantelziesel – eine weitere Spezies der niedlichen, kleinen Hörnchen.
Von dort fuhren wir Richtung Yoho National Park. Wieder sahen wir einen Schwarzbären! Diesmal stand er auf den Zuggleisen herum und wir hofften sehr, dass er seinen Weg verlassen würde, ehe ein
Zug herangerollt kam.
Natürlich stöberten wir auch weitere Orchideen auf, unter anderen eine besondere Farbform der Ammerorchis. Es fehlte nur noch die Calypso, aber S. zweifelte, ob wir sie noch blühend sehen würden.
Bisher hatten wir nur verblühte entdeckt. Außerdem zwei Platantheren. S. fand sie hässlich.
Schließlich landeten wir beim Emerald Lake, der seinem Namen alle Ehre machte. Seine Wasserfläche grün wie ein Smaragd. Wir kauften eine Broschüre über die Tiere in den Rockies und informierten
uns über die verschiedenen Arten.
Am nächsten Tag zogen wir mit Bärenspray und Bärenglöckchen bewaffnet ins Paradise Valley. In diesem Gebiet sollte es viele Grizzlys geben, und deswegen waren wir, wie empfohlen besonders laut.
Wir klingelten brav mit dem Glöckchen und unterhielten uns lauthals. Natürlich sahen wir keine Grizzlys, aber etwas unheimlich war es doch.
Insgesamt bewältigten wir etwa 400 Höhenmeter und liefen ca. 20 Kilometer, erst hinauf zum Lake Annette und dann weiter zu den Giants Steps, großen, roten Steinstufen, über die sich der Fluss
ergoss und in einem Wasserfall mündete. Auf dem Rückweg fanden wir wie durch ein Wunder die Calypso! Ein einziges, kleines Exemplar, das der Frost nicht zerknickt hatte! Jetzt fehlte uns nur noch
ein Busch von Calypso!
Vom Herbert Lake vertrieben uns die Moskitos – anfangs ging es noch, aber im Sumpfgebiet war es wirklich nicht mehr auszuhalten.
Lieber aßen wir Burger in Lake Louise – Alberta war schließlich so stolz auf sein Rindfleisch.
Am folgenden Morgen fuhren wir wieder zum Moraine Lake und machten uns an den Aufstieg zum Larch Valley. Die Landschaft war mit dünnem Schnee bezuckert. Und dann begann unsere Glückssträhne: Vor
uns auf dem Weg spazierten uns zwei Dusky Grouse entgegen – Felsengebirgshühner. Noch dazu Männchen und Weibchen! Die waren recht selten, und vermutlich unterwegs zu ihrem Liebesnest. S. zückte
sofort sein Teleobjektiv und konnte hervorragende Fotos schießen. Vor allem der Hahn ließ sich lange bewundern. Dann huschte er seiner Frau in die Büsche hinterher und wir zogen weiter.
Das Larch Valley war ebenfalls von einer zarten Schneeschicht überzogen, es leuchtete hell um uns. Überall waren die süßen Ground Squirrels, die Erdhörnchen. Unser Ziel war der Lake Minnestimma
ein Stückchen weiter oben. Dort war endgültig alles eingeschneit. Auch der See war zugefroren und von einem weißen Mantel bedeckt. Wir genossen die weiße Winterlandschaft, fotografierten und
wollten dann den Abstieg angehen, als das nächste Tierchen auftauchte: das Hoary Marmot, das eisgraue Murmeltier! Ein kleines, dickes Geschöpf, das sehr geschäftig nach Gras im Schnee suchte. S.
legte sich auf den Boden, um gute Bilder zu machen.
Nach dieser erfolgreichen Tour tranken wir erst einmal Kaffee in der Lodge. Wir entschieden uns, zum Mistaya Canyon zu fahren, was zwar ein ganzes Stück Fahrt bedeutete, doch vielleicht würden
wir auf dem Weg ja noch weitere Tiere sehen. Also fuhren wir los und tatsächlich! Am Wegrand lief ein Grizzly-Bär entlang. Es standen schon viele Autos da, Touristen machten Selfies von sich mit
dem Bären im Hintergrund und S. sprang aus unserem Jeep, das Tele in der Hand. Verwunderlich, wie entspannt der Grizzly trotz des Trubels blieb. Ein Satz hätte ja genügt, wenn ihm irgendwer zu
nahe gekommen wäre ... So jedenfalls wirkte er sehr nett, flauschig. Wahrscheinlich war er eher jung, denn er war vergleichsweise klein. Und wie nah er uns war! Er marschierte gemütlich durch die
Büsche im Straßengraben und schrubbte seinen Rücken dann an einem Baum.
Beim Canyon erwartete uns ein überwältigendes Wasserschauspiel. Massen türkisblauen Wassers stürzten durch die Schlucht, klatschten gegen den Stein.
Und auf dem Rückweg: zwei Calypsos nebeneinander ... Eigentlich waren wir da schon restlos zufrieden, aber sicherheitshalber hatten wir die Kamera mit dem Tele griffbereit auf der Rückbank
liegen; alle Einstellungen bereits gespeichert. Vielleicht, dachten wir, sehen wir den Bären ja noch einmal!
Und so war es dann auch. Diesmal kamen wir ihm noch näher. N. entdeckte ihn am Straßenrand, S. bremste, ich gab ihm das Tele, er sprang aus dem Auto und lichtete das Tier in voller Pracht ab. Ich
machte noch einen kleinen Film. Wir waren die Ersten, die ihn gesehen hatten. Als weitere Autos hielten, war er schon auf dem Weg ins Gebüsch.
Zur Belohnung gönnten wir uns Pasta und eine sehr scharfe Chorizo-Suppe. S. und N. schworen auf das Black-Smith Bier der Region. Ich trank Cranberry-Saft. Es war noch Zeit bis zur Dämmerung. So
fuhren wir wieder zum Moraine Lake. Im Geröll wuselte ein Pika herum, ein Pfeifhase. Es sah aus wie eine große Maus. Gleich danach tauchte ein Chipmunk, ein Streifenhörnchen, auf, und dann ein
Golden Ground Squirrel, das Männchen machte und dabei nach vorne hüpfte, die Ärmchen in der Luft.
Nun waren wir wirklich, wirklich glücklich. Wir stiegen ins Auto, fuhren los und mussten gleich wieder bremsen, weil ein Baumstachler vor uns auf der Straße saß. Ein Verwandter unseres
Meerschweinchens und dem Stachelschwein ähnlich. Die ganze Zeit wollten wir so einen schon sehen! Das Tele war zwar bereit, wir waren jedoch nicht schnell genug – der Baumstachler hatte es eilig.
Panisch flüchtete er den Berg hinauf. Aber wie sagt man doch gleich? Ein schöner Rücken kann auch entzücken, oder in diesem Fall ein stachliger Hintern.
Wer harte Herzen erschließen,
Widerspenstige zähmen,
Menschen, Tiere und die ganze Natur überwinden will,
Muß alles Berechnende, Überstiegene, Gewalttätige ablegen
Und mit einem wahren Kinderherzen
Voll Vertrauen, voll Freude und Herzlichkeit,
Voll unverwüstlichem, unverbitterlichem Frohsinn
Seine Straße gehen.
(Heinrich Lhotzky)