Es war im Februar 2017 – da bereiste ich mit S. Kreta, die größte griechische Insel im Mittelmeer.
Wir starteten in Franken. Bereits um fünf Uhr früh fuhren wir zum Flughafen München und nahmen dort den Flieger nach Athen. Von oben konnten wir die schneebedeckten Alpen sehen.
In Athen stiegen wir um. Wir flogen weiter nach Heraklion, übers Meer, vorbei an kleinen Inselchen.
In Heraklion dann endlich frische Luft! Und wie herrlich warm es war! Recht schnell fanden wir unseren Mietwagen und dachten: Jetzt kann es losgehen! Doch dann funktionierte das Navigationsgerät
nicht. Dabei hatten wir es extra aus Deutschland mitgebracht. Eine gute, alte Karte musste herhalten. Und ausgerechnet ich sollte navigieren!
Heraklion war verkehrstechnisch ein großes Chaos. Was war ich froh, nicht fahren zu müssen! Es grenzte an ein Wunder, dass wir es ohne Unfall aus der Stadt heraus schafften. Wir hielten uns
Richtung Zaros. Rechts musste eine Abzweigung nach Keramos führen, wo unser Hotel sein sollte.
Die Wege waren kurvenreich, die Straße voller Schlaglöcher. Auf den Wiesen grasten Ziegen und Schafe. In der Ferne sahen wir das Meer schimmern, während allmählich die Sonne unterging.
Das Problem war, dass es Keramos einfach nicht gab. Bei Zaros bogen wir rechts ab, nur um nichts zu finden. Hatten wir eine alte Karte erwischt? Wir beschlossen, in Zaros selbst nach dem Hotel zu
suchen. Und tatsächlich! Da war es! Vielleicht war Keramos ein Stadtteil von Zaros. Bis heute wissen wir es nicht sicher.
Wir parkten vor der Eingangstür und traten erwartungsvoll ein. Niemand war da. Unschlüssig standen wir herum. Doch da erschien ein kleines Mütterchen, alt wie die Zeit selbst! Ich befürchtete
schon, dass die Dame kein Wort Englisch konnte, aber da wir sonst niemanden sahen, mussten wir uns wohl an sie wenden. Und natürlich war es nicht anders als erwartet: Die Dame sprach nur
Griechisch und wir leider gar nicht. Sie bugsierte uns zu einem Tisch und verschwand durch eine Türe. Wir saßen ratlos da und warteten. Ewigkeiten später kam sie wieder und brachte uns Tee und
Kekse. Ein wohlig prasselndes Kaminfeuer wurde entfacht und Gemütlichkeit stellte sich ein. Aber wie sollten wir an unsere Zimmer kommen?
Ich aß noch ein paar Kekse und wagte einen weiteren Anlauf, um unserem Quartier näher zu kommen: Ich zeigte ihr unsere Buchungsbestätigung.
„Aaah, reservation!“
Sie wackelte davon und wir freuten uns schon auf einen klirrenden Schlüsselbund, doch als sie wieder um die Ecke bog, trug sie nur noch mehr Kekse herbei.
Da betraten weitere, wie wir hörten, einheimische Gäste das Hotel. Zum Glück konnten sie etwas Englisch. Ihnen erklärten wir, dass wir reserviert hatten, und sie übersetzten es der alten
Dame.
So klappte es schließlich doch noch.
Unser Zimmer war schön und hatte einen kleinen Balkon. Mittlerweile war es spät geworden. Alle Restaurants und Läden hatten schon geschlossen. Also aßen wir im Hotel.
Natürlich kochte die alte Dame höchstpersönlich. Ein Mann, vermutlich ihr Sohn, tischte uns lachend immer mehr Speisen auf: Risotto, Lamm, Tomaten, Oliven, Kartoffeln und Wein. Zum Nachtisch
einen Apfel.
Vollgestopft schleppten wir uns danach in unser Zimmer und fielen in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen ging es genauso weiter. Das Frühstück bestand aus selbstgemachten Pasteten, die mit allerlei gefüllt waren: Schokolade, Kürbis, Joghurt, Käse und Pilzen. Gestärkt brachen wir
nach Festos auf. S. meinte, dort müsse es Orchideen geben.
Das Wetter war herrlich mild. Es war noch Februar, doch die Sonne schien, ich lief im T-Shirt herum und musste einen Sonnenbrand befürchten. Wir machten uns auf die Suche nach Orchideen. Das
Glück war uns hold und so fanden wir das Hügel-Knabenkraut, das stolz in die Höhe wuchs und an seinem langen Stängel mehrere rosa Blüten trug. Schließlich entdeckten wir auch die
Regenbogen-Ragwurz. Orchideen sehen für mich immer aus, als hätten sie Gesichter. Die Blüte der Regenbogen-Ragwurz war dunkelviolett und samtig. S. legte sich ins Gras, um die beiden zu
fotografieren. Ich sonnte mich.
Wir fuhren weiter nach Saktouria an der Südküste, einem weiteren GPS-Punkt folgend. Mit unserem Opel Corsa rumpelten wir über einen holprigen Matschweg, nur um am Ende vor allem Gestrüpp und
Dornen zu finden. Mir gefiel das – ich ließ mich gerne treiben, überraschen, von abenteuerlichen Wegen und Sackgassen. Man konnte nie wissen, was einen als Nächstes erwartete.
In Agia Galini, einem Küstenort, tranken wir Cappuccino und sahen dabei auf das glitzernde Meer.
Wir waren nicht nur auf der Suche nach Orchideen, sondern auch nach Vögeln. Ein Schwarzkehlchen ließ sich von S. possierlich auf einem dünnen Ast fotografieren – und selbst ein Turmfalke hielt
still.
Abends ging wieder die Völlerei los. Im Hotel gab es Pommes, dazu Fischsuppe mit Reis und Salat. Wir gaben unser Bestes.
Das Hotel Keramos faszinierte mich. Ich fing an, beim Frühstück die Teller zu zählen, die vor uns hingestellt wurden. Siebzehn waren es einmal. Siebzehn, und das hieß nicht, dass auf jedem Teller
nur eine Pastete lag, sondern drei bis vier. Vielleicht machten wir ja etwas falsch und es war unhöflich, alles aufzuessen.
Am nächsten Tag brachen wir sehr früh nach Antiskari auf. Dort fanden wir immerhin eine Ophrys Mesaritica, die sich zwischen Dornen versteckte. Schwer ließ sie ihren großen Kopf hängen. Um uns
herum blökten Schafe.
Wir hatten einige GPS-Punkte, die wir aufsuchen wollten, aber viele Straßen, die wir auf der Karte eingezeichnet fanden, gab es in echt nicht oder sie waren unbefahrbar. Wir improvisierten und
folgten mehr und mehr unserem Gefühl und unserer Intuition. Dabei entdeckten wir unser eigenes schönes Biotop, wo dicke Basilissa zwischen längst verbrannten Sträuchern wuchsen. Die Blüten sahen
aus wie kleine Boxhandschuhe.
Am Nachmittag fuhren wir nach Matala, einem Dorf an der Südküste. Dem Mythos nach war es hier, wo Zeus in Stiergestalt mit der entführten Prinzessin Europa an Land ging. Er verwandelte sich in
einen Adler – und dann ging die Reise mit ihr weiter.
Tief sog ich die Meeresluft ein. Besonders faszinierend waren die berühmten Löcher im Fels, in denen Menschen bereits in der Steinzeit gewohnt haben sollen. Zur Zeit der römischen Besatzung
wurden diese Wohnhöhlen dann als Grabstätten von den ersten Christen genutzt. In den 1960er Jahren zogen Hippies dort ein, unter anderem Joni Mitchell. Ihr Song Carey beschreibt ihre Zeit
dort.
Es war fast menschenleer hier. Einige wenige Leute ließen Drachen steigen und wir sahen ihnen dabei zu.
Abends wurden wir wieder im Hotel beköstigt. Miss Katharina, so hieß unsere Gastgeberin, tischte groß auf: Spaghetti mit Fleisch, Kartoffelsalat mit Ei und Tomaten, Weißbrot, Mangold – und zum
Nachtisch griechischer Käse mit Honig.
Am nächsten Tag folgten wir dem Ruf eines GPS-Standorts nach Pirgos. Tatsächlich fanden wir an den Hängen viele Fuscen – die braune Ragwurz – und wenigstens eine blühende Barlia, das sogenannte
Riesenknabenkraut. So sah es auch aus. Den grünen Stängel krönte ein länglicher Hut aus violetten Blüten.
Wir stapften durch den Wald, scheuchten ein Kaninchen auf, das vor mir aus einem Busch sprang und mich ganz schön erschreckte.
Bei Juchtas, einem Höhenzug im Norden Kretas, wuchs die Ophrys Herae, Heras Ragwurz – ein kleiner brauner Drache zum Abflug bereit. Wir fuhren einen Schotterweg, der den Berg hinaufführte. Oben
ließen wir den Blick übers Land schweifen. Wir wussten, dass es hier Geier gab, doch ob wir sie sehen würden, war ungewiss.
Dann aber kamen sie, riesige Vögel mit großen Schwingen. Sie kreisten so nah über uns, dass wir die Farben ihres zerrupften Gefieders sehen konnten. Ein bisschen Angst hatten wir auch. Die Geier
jagen unter anderem, indem sie Bergziegen die Klippen hinabstürzen. Wir waren sehr darauf bedacht, uns nicht zu sehr dem Abgrund zu nähern.
Unser letztes Ziel war Grigoria im Westen Kretas. Zwei Sicula fanden wir dort, die Gelbe Ragwurz. Auf dem Rückweg nach Zaros ging die Sonne unter – und davor sahen wir die Silhouetten grasender
Schafe.
Ich freute mich an jeder Blüte, die wir fanden, und malte mir Geschichten dazu aus, staunte über die kleinen Schönheiten. S. hatte jedoch mehr erwartet. Viele Pflanzen blühten noch nicht, immer
wieder standen wir vor verschlossenen Knospen.
Trotzdem ging es uns gut. Wir genossen das warme Klima, die Sonne, den Wind auf unseren Gesichtern.
Der Frühling brach an, der Monat März. Wir suchten Standorte von Orchideen im Süden Kretas – den ganzen Vormittag erkletterten wir Hänge, fuhren auf kleinen, kurvigen Sträßchen und fanden Wege,
von denen wir dachten, dass es sie nur auf der Karte gab. In Lendas am Meer tranken wir unseren mitgebrachten kalten Kaffee und machten Brotzeit mit Blick auf den blauen Ozean.
Auf dem Weg durch die Berge begegneten wir einer Haubenlerche.
In Festos konnte S. einen Bussard im Flug fotografieren. Er wurde gerade von einer aufmüpfigen Nebelkrähe attackiert.
Und im Gestrüpp fanden wir eine große Basilissa, die Königinnenragwurz.
Wir fuhren weiter nach Harafaki, wo wir vier neue Orchideenarten fanden. Es gab Wespenragwurz en masse, außerdem die Drohnenragwurz und ein milchweißes Knabenkraut. Die größte Überraschung aber
war die Spruners Ragwurz, ein einziges Exemplar, aber stattlich, in rötlich-braunem Kleid mit einem feinen, silbrig schimmernden Muster auf dem Körper. Die lange Fahrt hatte sich gelohnt.
Ein Schwarm Nebelkrähen saß in einem Baum.
Hinter Panagia, dem toten Dorf, wo nur zwei Häuser noch bewohnt schienen, machten wir Fotos im Abendlicht. Wir wollten irgendwas festhalten.
Unser letzter Tag auf Kreta war angebrochen. Als Erstes regelten wir gleich mal das mit der Bezahlung, weil wir uns schon dachten, dass es kompliziert werden könnte. Miss Katharina wusste auch
nicht wirklich, was ein Zimmer so pro Nacht auf booking.com kostet. Darüber hatten wir ja eigentlich gebucht. Sie wusste auch nicht mehr, wann wir gekommen waren. Zu allem Überfluss war das
Kartenzahlgerät auch noch defekt.
Am Ende klappte dann doch alles und wir fuhren ein letztes Mal nach Festos. Die Sonne brannte uns auf den Kopf, während wir einen Hang hinaufkletterten. Wir fanden Schmetterlingsknabenkraut,
Fuscen und Basilissa. Schließlich wollten wir auf der anderen Seite absteigen und landeten dabei zufällig in dem Biotop, das wir hier zuallererst entdeckt hatten. S. erzählte mir, wie er hier vor
Jahren seine erste Ariadne gefunden hatte – und kaum, dass er das gesagt hatte, sah ich etwas Kleines im Busch.
Da war sie! Ein Traum von einer Orchidee. Am letzten Tag.
Ich bin keine Botanikerin, aber ich kann wohl Schönheit in allen Dingen erkennen. Zumindest suche ich danach. Die Ariadne zog mich magisch an. War sie schwarz, violett? Irgendwo dazwischen. Ihr
Mal war verzweigt – und sie schien mich anzusehen.
S. musste diese Schönheit natürlich ablichten. Ich assistierte ihm dabei und die Sonne verbrannte mir meinen Nacken.
Schließlich fuhren wir in den Westen, guckten hier und dort ins Gestrüpp, tranken in Agia Galini einen Frappé und machten in Kalamaki Fotos am Meer. Hinter dem Mittelmeer ragten die weißen Berge
auf.
Im Keramos gab es am Abend unser letztes Mahl auf Kreta: Kaninchen, dazu Schnecken.
Wenn ich heute an Kreta zurückdenke, dann zuallererst an das steinerne Hotel Keramos und Miss Katharina – aber schließlich erinnere ich mich an die Orchideen, das Meer, grüne Hänge voller
violetter, weißer und rosa Blumen, die Bergketten, schneebedeckt am Horizont, und eine Zeit, in der die Welt gefühlt stillstand.
Ich liebe meines Wesens Dunkelstunden,
in welchen meine Sinne sich vertiefen;
in ihnen hab ich, wie in alten Briefen,
mein täglich Leben schon gelebt gefunden
und wie Legende weit und überwunden.
Aus ihnen kommt mir Wissen, daß ich Raum
zu einem zweiten zeitlos breiten Leben habe.
Und manchmal bin ich wie der Baum,
der, reif und rauschend, über einem Grabe
den Traum erfüllt, den der vergangne Knabe
(um den sich seine warmen Wurzeln drängen)
verlor in Traurigkeiten und Gesängen.
(Rainer Maria Rilke)