In Toul stand eine schöne Kathedrale ziemlich alleine im Nirgendwo. Ein Garten blühte daneben, die Sonne schien auf die Szene. Alles war hell und friedlich.
Doch wir suchten fast verzweifelt nach einer Möglichkeit zu frühstücken.
Toul wirkte wie ausgestorben. Wir irrten durch leere Gassen. Menschen begegneten uns kaum, Läden waren nicht zu sehen. Endlich gelangten wir in eine belebtere Gegend und fanden eine Brasserie, wo
jeder von uns ein knuspriges Pain au Chocolat verspeiste. Da wir nun schon ganz in der Nähe waren, besuchten wir als erste die Kirche St. Gengoult. St. Gengoult, der Schutzpatron von Eheleuten in
Schwierigkeiten und der Jäger. So viel zu Gengoult selbst: Von seiner Ehefrau betrogen flüchtete er konfliktscheu aufs Land, nur um wenig später vom Liebhaber seiner Ehefrau ermordet zu werden –
so zumindest ist die Überlieferung im französischen Sprachraum. Vielleicht gehen ja deswegen so viele Ehen in die Brüche!
St. Gengoult hatte den schönsten spätgotischen Kreuzgang bisher. Ich wäre gerne geblieben, doch natürlich rief noch die Kathedrale. Also auf, auf!
Einsam liefen wir durch die weiten Hallen, die Stille nur gestört von einem laut babbelnden Baby im Kinderwagen. Süß!
Der Kreuzgang hier erforderte G.s volle Konzentration. Sie fotografierte Kapitell um Kapitell und ich saß im Innenhof, sah die Wasserspeier an (manche davon waren Schweine) und ärgerte mich über
die hässliche moderne Kunst in der Mitte, die stark Mülleimern ähnelte.
Zufrieden verließen wir Toul und fuhren nach Épinal, wo die Hitze bereits wieder so unerträglich war, dass ich G. wie ein Zombie hinterher schlich. St. Maurice – Langhaus im spätromanischen Stil.
Erstaunlich, wie G. ihre Konzentration aufrechterhalten konnte. Ich sah nur noch Steine, Fenster und Kapitelle.
Auf Épinal folgte Saint-Dié-des-Vosges. Es wurde wieder bergig. Kleine Dörfchen säumten die kurvigen Straßen, Pferde und Kühe grasten auf den Weiden. Die Kathedrale Saint-Dié war größer als
erwartet und von rotem Stein. In der Kirche spielte ein Organist. Auch hier wieder ein Kreuzgang und eine alte ausgelagerte Kapelle.
Schließlich war es so weit: Auch G. war erschöpft. Müde von der Hitze fuhren wir zu unserem neuen Hotel in Houssen bei Colmar. Endlich erwartete uns ein sauberes, kleines Zimmer mit genügend
Handtüchern und frischer Seife! Wenn es nur nicht so heiß gewesen wäre!
Meine Gebete wurden erhört. Ein kühler Tag brach an, nachdem es nachts abgeregnet hatte. Angenehm erfrischt machten wir uns auf den Weg nach Thann. Dort stand eine Stiftskirche mit bunt
schillerndem Dach. Am Eingangsportal war ein Georg zu bewundern, der beherzt einen Drachen tötete. Ich dachte sofort an Graoully!
Wir holten uns in einer Bäckerei einen kleinen „Kugelhopf“, den wir am Bach verspeisten, ehe uns eine Wespe vertrieb.
Thann war hübsch, doch auch etwas zu touristisch für unseren Geschmack.
In Soultz war zum Glück weniger los. Nach dem Besuch der gotischen Kirche setzten wir uns in eine Chocolaterie mit Blick auf die Altstadt, um zwei Café zu trinken und uns ein Éclair zu teilen.
Kein Mensch war unterwegs – herrlich!
Die Dominikanerkirche aus dem frühen 14. Jahrhundert in Gebweiler war leider verschlossen. Wir flanierten stattdessen zur romanischen Kirche in der Centre Ville. Überall in der Stadt erklang
Musik. Kleine Lautsprecher hingen an den Häusern und ließen erst Chorisches ertönen, dann Jazz.
Unsere Route führte uns in immer abgelegenere Gebiete. Murbach war kaum mehr als ein Weiler. Nur eine große, rote romanische Kirche ragte mitten in der bergig waldigen Landschaft vor uns auf,
umgeben von ein paar wenigen Häuschen und blühenden Gärten. Durch den Wald plätscherte ein Bach und über eine Mauer spazierte ein gefleckter Kater. Er ließ sich bereitwillig von uns sein weiches
Fell streicheln, zufrieden schnurrend.
Doch es war Zeit, unsere Runde zu schließen. Wir fuhren zurück und machten einen letzten Halt in Rouffach. Dort wartete noch ein wahrer Schatz auf uns: die Liebfrauenkirche Notre-Dame. Eine
Hochzeitsgesellschaft zog gerade aus. Wir stahlen uns an dem strahlenden Brautpaar vorbei ins Innere der Kirche. Die Kapitelle waren so ausdrucksstark geschmückt, wie ich sie noch nicht gesehen
hatte. Die Gesichter der Engel und Fabelwesen waren fast karikativ, ihre Körpersprache so plastisch.
Diese Kirche würde mir in Erinnerung bleiben.
Draußen auf dem Dach saß ein Klapperstorch, klapperte und rupfte sich eine große, schwarze Feder aus. Wir wollten sie fangen, konnten sie aber nicht mehr finden.
Unser letzter Abend in Frankreich war angebrochen. Wir gönnten uns einen Restaurant-Besuch in Houssen, im Aux Deux Lions. Es gab Flammkuchen mit Ziegenkäse, dazu eine Flasche Muskateller aus dem
Elsass – besser konnte es nicht sein.
Nach einem Frühstück im Fast Hotel checkten wir aus und fuhren nach Colmar. Zuerst besuchten wir das Musée Unterlinden, wo uns ein schöner Kreuzgang erwartete – und Kunst. Der berühmte
Isenheimer-Altar von Matthias Grünewald steht dort. Ich saß davor und sah mir die famosen Monster und den grünen Engel an, vielleicht Luzifer? Auch den Werken Schongauers werden Worte kaum
gerecht: so schillernd in ihrer Farbgebung, die Figuren plastisch, ihre Mimik ausdrucksstark.
Schongauers Madonna im Rosenhag fanden wir in der Dominikanerkirche ausgestellt. Ich war nicht so enorm angetan von ihr, worüber G. lachte.
Die letzte Etappe unserer Reise war Séléstat. Die Altstadt gefiel uns auf Anhieb gut. Bei sonnig milden Temperaturen ließen wir uns durch die Gässchen treiben, zwischen den Fachwerkhäusern
hindurch.
Diffus fiel das Licht durch die bunten Glasfenster der Georgs-Kirche. Neben dem Chorraum befanden sich links und rechts zwei polygonale Seitenabsiden, deren Wände mit mittelalterlich anmutender
Ornamentik in kräftig dunklen Farben bemalt wurden. Goldene Linien verliefen auf blauem Grund, dazwischen leuchtete es blutrot. Im Altarraum erstrahlte das Licht noch heller. Hohe Fenster an den
Seiten liefen auf das frontale Maßwerkfenster mit dem Okulus zu.
St. Georges in Séléstat würde ich nicht vergessen. Es war die vielleicht schönste Kirche, die ich je gesehen habe.
Doch eine Kirche gab es noch zu entdecken: die romanische Kirche Ste-Foy – die Kirche der heiligen Fides. Ein roter Koloss mit anmutigen Rundbogenportalen. Melancholisch schlenderten wir danach
noch zum Maison du Pain, wo wir ein hervorragendes Speiseeis bekamen, mit selbstgebackener Waffel. Wir schleckten an unserem Eis und lauschten zwei französischen Musikern, die von der schönen
Region zwischen Vogesen und Schwarzwald sangen, auf Französisch und Elsässisch.
Es war Zeit, heimzufahren.
Bald schon hatten wir den mächtigen Rhein überquert. Wir waren zurück. Vermissten Frankreich schon jetzt, die gotischen Kirchen, den Wein, die Quiche, die Macarons.
Aber sicher würden wir wiederkehren.
Ich bin ein Pilger, der sein Ziel nicht kennt;
der Feuer sieht und weiß nicht, wo es brennt;
vor dem die Welt in fremde Sonnen rennt.
Ich bin ein Träumer, den ein Lichtschein narrt;
der in dem Sonnenstrahl nach Golde scharrt;
der das Erwachen flieht, auf das er harrt.
Ich bin ein Wasser, das nie mündend fließt;
das tauentströmt in Wolken sich ergießt;
das küßt und fortschwemmt – weint und froh genießt.
Wo ist, der meines Wesens Namen nennt?
Der meine Welt von meiner Sehnsucht trennt?
Ich bin ein Pilger, der sein Ziel nicht kennt.
(Erich Mühsam)