Jetzt sitze ich wieder hier an meinem Schreibtisch. Frage mich, wann diese Endlos-Schleifen ein Ende nehmen werden oder ob nie. Manchmal fühlt sich Routine unerträglich an. Aber ohne sie fürchte
ich zu zerfallen. Wie lange wird das noch gehen? Den Januar, den Februar, einen Winter?
Unvorstellbar, dass ich letztes Jahr im Sommer mit G. in Frankreich war. Eine kurze Auszeit, in der ich fast vergessen hatte, dass es eine Pandemie gab. Wie gut das war: unterwegs mit dem roten
Auto, nur wir zwei auf den Straßen. Das Première Classe in Straßburg erscheint mir jetzt als eine gelungene Geschichte, die man immer mal gut erzählen kann: Ausland, ranziges Hotel, bierbäuchige
Gäste. Trotzdem waren wir froh, dort auszuchecken. Wir warfen unsere sieben Sachen ins Auto und verließen die Stadt. Niederhaslach war unser nächstes Ziel, ein pittoreskes Dörfchen, in dem ein
Schmuckstück von einer gotischen Kirche, die ehemalige Stiftskirche St. Florentius auf uns wartete. Der Himmel war blau und vor der Kirche verkaufte eine Frau Zwetschgen und Mirabellen. Wann
hatte ich zuletzt Mirabellen gegessen?
Wie süß sie im Mund zergingen.
In der Kirche war eine Skulpturengruppe am Heiligen Grab aus dem 14. Jahrhundert zu sehen: Die Wächter schliefen, die drei Frauen wachend über dem Toten. Zwei Engel, die ihn beschützten.
Eine modernere Statue zeigte Maria, die ihren gestorbenen Sohn in den Armen hielt. Ich stand da und sah sie mir an. Ich stellte mir vor, wie schlimm es sein musste, ein Kind zu verlieren.
Wir verließen die Kirche.
Unser Weg führte uns zur Burg Nideck. In Serpentinen ging es in den Wald hinein. Ein Wanderpfad führte, an einem Wasserfall vorbei, zur Burgruine hoch. Die Burg ragte weit über den Wald hinaus.
Die Sonne brannte uns unerbittlich auf die Köpfe. Eine alte Sage erzählt, dass hier eine Riesin einen Menschen in Händen gehalten habe.
Nach dem Abstieg aßen wir original elsässischen Flammkuchen in einem Gasthaus im Wald. Wir fuhren weiter und weiter in die Berge hinauf. Die Kurven und Serpentinen nahmen kein Ende. Bei
Obersteigen hielten wir an. Auch hier war ein Geheimtipp für Architekturliebhaber versteckt. Vor einem alten Friedhof schlummerte eine rote Kirche. Dahinter die bewaldeten Berge. Die kleine
Klosterkapelle, spätromanisch oder frühgotisch, wie G. erläuterte, hatte einen altertümlichen Charme, als wäre sie von Zwergen gebaut worden, noch ehe es Menschen gab. Kelchknospenkapitelle waren
im Inneren, Rundbogenfenster in den alten Mauern zu sehen.
Danach rollten wir den Berg wieder herunter, bis wir in Sarrebourg angekommen waren. Die Stadt machte einen heruntergekommenen Eindruck, doch in den Resten der alten Franziskanerkirche
erstrahlten Glasfenster von Marc Chagall, die den Baum des Lebens zeigten, der rote Blüten trug. Die Welt dahinter war blau. Zwei Liebende hielten sich mittig umschlungen.
Die Hitze hatte uns ausgelaugt.
Durchgeschwitzt erreichten wir Stunden später Pont-à-Mousson in Lothringen. In unserem Hotelzimmer gab es diesmal Handtücher, dafür tropfte der Wasserhahn und in der Ecke saß eine dicke Spinne,
als wenn sie auf uns gewartet hätte. Wir ließen sie zurück und erkundeten zu Fuß die Stadt. G. lief zielstrebig zur Antoniter-Kirche. Welch ein düsteres Bild! Der Stein war dunkelgrau, fast
schwarz. Tauben saßen überall und musterten uns aus undurchschaubaren Augen. St. Martin war mir unheimlich. Die Wasserspeier waren mit Tüchern verhangen, die Tore zugesperrt. Die umliegenden
Häuser waren so gut wie verfallen. Von den Wänden bröckelte der Putz; in einer einsamen Gasse saß eine schwarze Katze.
Wir ließen die Geisterstadt hinter uns, überquerten die Mosel. Auf der anderen Seite des Flusses sah es freundlicher aus. Am Marktplatz tranken wir Wein, und der Wein machte uns mutig genug, über
St. Martin zu witzeln. Ich schlug vor, die Kirche in St. Voldemort umzubenennen.
Wieder versprach es ein heißer Tag zu werden. 35° erwarteten uns, mit den besten Grüßen vom Klimawandel. Früh verließen wir unser Hotel, nachdem wir noch eine Mail von Booking.com erhalten
hatten, dass unsere Buchung storniert worden sei. Es handelte sich um ein Missverständnis, das wir an der Rezeption aufklären konnten. In der noch frischen Morgenluft liefen wir über die
Moselbrücke hinüber zum Bahnhof, wo wir den Zug nach Metz nahmen. Wie entspannend! Das Auto mal stehen zu lassen, der Umwelt und uns etwas Gutes zu tun.
In Metz gingen wir zielstrebig zur Kathedrale Saint-Étienne, die goldgelb vor uns aus dem Boden wuchs. In der Patisserie Jean nebenan holten wir uns zwei Pain au Chocolat. Zufrieden verspeisten
wir diese und sahen uns dabei die Kathedrale von außen an.
Dann gingen wir natürlich hinein.
Sie schien mir dunkler als das Münster in Straßburg. Doch wie schön die Kapitelle! Hasen und Lämmer versteckten sich zwischen den Blättern, Gesichter wurden fast verschlungen vom Blattwerk.
Anmutig und verstörend zugleich.
In der Krypta hing ein Drache von der Decke: Graoully. Eine rote Zunge hing ihm weit aus dem Maul, die Krallen waren ausgefahren, bereit, uns jederzeit zu packen.
Als wir schließlich die kühle Kathedrale durch das Portal verließen, prallten wir förmlich gegen eine Hitzemauer. Wir schlichen von Schatten zu Schatten, von Kirche zu Kirche. Manche waren
verschlossen, von hohen Zäunen umgeben, andere nur noch Ruinen von Efeu überwuchert.
Zur Mittagszeit fanden wir wieder zurück zum Platz vor der Kathedrale. Bei der Patisserie Jean holten wir uns ein Stück der originalen Quiche Lorraine und als Nachtisch ein dekadentes
Macaron-Törtchen, gefüllt mit Himbeeren und einer Vanille-Bananen-Creme. Die Passanten sahen uns gierig auf die Finger, während wir glücklich die Kostbarkeiten verspeisten.
Metz war schön. Und sehr alt. Nicht so touristisch wie Straßburg. Auch das Deutsche war hier endgültig verschwunden. Und das freute mich.
Wir liefen zu St. Ségolène, danach zu St. Martin. G. fotografierte fleißig, während ich nur noch erschöpft in eine Bank fiel, die Kühle der Kirche genoss und die Augen schloss. Ich war langsam
wieder bereit für den Herbst.
Mit letzter Kraft schleppten wir uns zurück zum Bahnhof und fuhren noch einmal nach Pont-à-Mousson. Wieder versuchten wir unser Glück bei der düsteren Martinskirche – und tatsächlich war sie
heute geöffnet.
Innen war sie weiß wie Schnee. Nur eine dunkle Orgel thronte über allem. G. mutmaßte, der Feinstaub hätte die Kirche von außen so geschwärzt.
Vollkommen erschöpft erreichten wir wieder unser Hotel, wo wir in ein komatöses Mittagsschläfchen verfielen. Mit neuer Lebensenergie erkundeten wir ausgeruht noch Mousson – ein kleines Örtchen,
dessen Aussichtsplattform wir vom Fenster unseres Hotels aus sehen konnten. Der Blick über das Land von hoch oben war fantastisch. Reste einer alten Burg umgaben uns. Eine Katze, die sich für uns
nicht interessierte, saß im Schatten einer Mauer.
Wir ließen den Tag im Restaurant du Port ausklingen, mit einem Chardonnay, dessen Reben nur zehn Kilometer von hier gewachsen waren. Eine Empfehlung des Hauses. Die Sterne leuchteten über uns und
der Fluss bewegte sich sanft wie von unsichtbarer Hand.
Nach einer durchwachsenen Nacht checkten wir aus dem Enzo aus – froh, diese etwas ranzige Unterkunft hinter uns zu lassen. Wir tranken noch einen Café au Lait, dann fuhren wir los.
Blühend sein und doch nicht leben sollen,
Mit der Sehnsucht noch, der heißen, tollen,
Vor der fest verschlossnen Türe stehn –
Durstig sein, und doch nicht trinken, trinken,
Wenn die goldnen Freudenbecher winken,
Jeder Wonne scheu vorübergehn –
Lechzen, ach, nach seligem Genießen,
Und die trunknen Augen doch zu schließen,
Weil des Schicksals harter Spruch es will –
Darben, darben, wenn sich Andre küssen,
Elend sein, und dennoch lachen müssen,
Immer lachen …
Still, mein Herz, o still!
(Anna Ritter)