Im Sommer fuhr ich mit G. nach Straßburg. Im Sommer, da waren die Zahlen noch in Ordnung.
Kaum, dass wir mit unserem Auto die Grenze zu Frankreich passiert hatten, erschien uns der Verkehr weniger stressig. Was war nur mit den Deutschen los? Macht euch mal locker, dachte ich mir ärgerlich.
Wir hörten Crooked Still. Genossen den weiten, blauen Himmel vor uns und näherten uns Stück für Stück unserer ersten Etappe, Haguenau. Einer Gemeinde mit 35 tausend Einwohnern im historischen Unterelsass. Wir parkten am Fluss, der Moder und liefen bei herrlichem Sonnenschein in die Stadt zur Kirche Saint-Georges. G. fotografierte die Kapitelle der vielen Säulen. Wir betraten den dunklen Kirchenbau und wanderten auf den Spuren der Romanik und der Gotik. Ich, die ich mich als Laiin bezeichne, lernte von G., dass es sich um eine romanische Kirche mit gotischen Ostteilen handelt. Ich lernte Wörter zuzuordnen, wie: Gargouille, den Wasserspeier. Bewunderte Figuren, die von den Steinen hingen und auf uns herabsahen. Wir gönnten uns ein Eis und ich lernte weiter: Pampelmuse – dass das nichts anderes als die Grapefruit ist. Ich war froh, mein Französisch mal wieder aufzufrischen, froh, weg zu sein, froh, für kurze Zeit alles hinter mir zu lassen.
Wir besuchten danach Saint-Nicolas. G. war entzückt von den Steinmetz-Zeichen an den Toren. Ich setzte mich in eine Kirchenbank und lauschte der Stille. In meinem Kopf sang Johnny Flynn Queen Bee – mir kamen fast die Tränen.
Als wir die Kirche verließen, regnete es in Strömen. Wir rannten zum Auto zurück und fuhren weiter nach Straßburg, das sich selbst Hauptstadt Europas rühmt. Unser Hotel, das Première Classe, roch nach dem alten Schweiß der letzten Gäste. Handtücher gab es keine. So fuhren wir eilends mit der Straßenbahn in die Innenstadt, wo wir zur Kathedrale Notre-Dame wollten, die nur einen Turm hat.
Wieso bauen sie nicht einen zweiten, fragte ich G.
G. wusste es auch nicht.
Wir sahen uns vor der Kirche um. Offensichtlich sollte hier irgendein großes Spektakel stattfinden.
Security-Männer ließen niemanden mehr durch die Absperrung. G. und ich aber waren klein und konnten, wenn wir wollten, unsichtbar sein. Unbemerkt schlüpften wir an ihnen vorbei und ergatterten einen Platz in einem Café mit Blick auf Notre-Dame. Wir tranken Wein, Rosé, während ein kleiner Junge neben uns die Spannung kaum mehr ertrug. Eine Uhr zählte die Sekunden bis zum Spektakel herunter und der Junge zählte aufgeregt mit. Seine Mutter fotografierte ihn heimlich.
Dann ging es los. Klassische Musik erklang. Lichter in verschiedenen Farben und Formen wurden auf das Münster geworfen. Mal grell, mal mystisch. Die berühmte Rose erschien mal als Wald, der grün leuchtete, mal als drohend rotes Auge. Dann funkelte der Sternenhimmel auf dem Münster, dann flogen dort Vögel. Es war zauberhaft.
Beglückt kehrten G. und ich in unsere müffelnde Unterkunft erster Klasse zurück, wo uns schnell der Schlaf übermannte.
Bienen summten um uns herum, als G. und ich am nächsten Tag vor einem Karussell saßen und unseren morgendlichen Kaffee tranken.
Bevor wir das Münster besichtigen durften, mussten wir unsere Taschen zeigen und die Hände desinfizieren. Danach, frisch gesäubert, traten wir ein. Wie viel Licht durch die bunten Fenster in die riesigen Hallen fiel! Wie groß und fein Menschen so früh schon bauen konnten. Und wie viele wohl beim Bau ihr Leben ließen? Ich folgte G., die alles fotografierte und andere Besucher ebenfalls dazu anstiftete. Sie eiferten ihr begeistert nach, fotografierten dieselben Motive, ahnungslos, aber glücklich.
Im Museum nebenan war ich überwältigt von der Fülle an Skulpturen und Fragmenten des Münsters. Im Obergeschoss lagen die Pläne zum Bau der Kathedrale. Weiter unten standen Ecclesia und Synagoge, eine mit verbundenen Augen, beide anmutig und Symbol für Christentum und Judentum. In einem kleinen Garten waren gregorianische Gesänge zu hören.
Durch die Altstadt liefen wir schließlich zur Kirche St. Pierre le Jeune, die mir die Schönste von allen schien. Alte Gemälde zierten die Wände, die Kombination der Farben der Säulen und Kapitelle dunkel, doch kräftig: blau und rot, golden und blau. Eine Tür führte uns zu einem Kreuzgang. Plötzlich regnete und donnerte, blitzte und polterte es. Am Himmel zeichnete sich ein düsteres Schauspiel ab. Wir harrten geduldig aus, an uralten Gräbern sitzend. Wir blickten auf den Brunnen in der Mitte des grünen, stillen Innenhofs, den der Kreuzgang umrundete.
Als der Regen abgeebbt war, schlenderten wir zu St. Pierre le Vieux. Vor der Kirche stand eine kleine Kaffeebude, aus der uns ein köstlicher Kaffee serviert wurde. Mit einer Note dunkler Schokolade und Zucker.
Höchst zufrieden besichtigten wir die Kirche. Hier waren Bilder ausgestellt: Fotos von abstrakt wirkenden Kreisformen.
Wohl begeistert darüber, dass wir vor den Bildern stehen geblieben waren, kam der Künstler auf uns zu. Ob uns seine Kunst denn gefallen hätte?
Ich nickte nur erschrocken und überließ G. das Reden. Schnell weiter!
Wir spazierten durch Petite France, zurück zum Münster und gönnten uns eine Auswahl an Macarons. Köstlich! Zum Abschluss tranken wir Muskateller mit Blick auf die vom Abendlicht beschienene Westfassade der Kathedrale.
Vor dem Première Classe lungerten alte Männer, die stolz ihre nackten Bierbäuche präsentierten. Wir schlichen uns lachend von der anderen Seite in unser Kämmerlein.
Nachts gewitterte es.
Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen
Und haben sich, eh man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemeßnen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
(Johann Wolfgang von Goethe)