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Öland

Wir hatten den Eindruck, als ob auf den deutschen Autobahnen ständiger Stau herrschen würde. So erreichten wir vier Stunden später als geplant endlich die Fähre in Puttgarden. Wir hatten uns Fensterplätze gesucht und sahen hinaus auf das bleierne Meer, das schwerfällig bewegte Gebirgszüge vor uns erstehen ließ. Der immer wiederkehrende, gleichmäßig schwappende Wellenschlag versetzte mich fast in Trance. Möwen ließen sich vom Aufwind am Himmel treiben, glitten in unser Sichtfeld und verschwanden wieder.

Wir fuhren durch Dänemark, über die Öresundbrücke nach Schweden. Die sonnenbeschienene Brücke leuchtete über der dunklen See und schien schwerelos in der Luft zu schweben. Es war surreal.

Bald wurde es Nacht. Wir bewegten uns auf einen riesigen, fast erdrückend großen, gelben Mond zu. Windräder und Mühlen, Brücken und tote Tiere am Straßenrand. Hinter den Wolkenschleiern leuchteten die Sterne am dunklen Firmament.

Über die Ölandsbron, die Ölandbrücke, erreichten wir Öland, eine Insel und Provinz vor der südöstlichen Küste Schwedens, eine Ostseeinsel also. Zu unserem Ferienhaus konnte es nicht mehr weit sein. Es sollte direkt vor einem kleinen Teich stehen. Uns fielen zuerst die rot leuchtenden Windräder auf. Davor stand das Haus, das wir gesucht hatten. S. und A. erwarteten uns bereits in der Haustüre. Sie waren vor uns angereist. Weitere, verstreut liegende Ferienhäuser schienen nicht bewohnt zu sein. Hier standen nur Holzhäuser.

Müde und erschöpft krochen wir in unsere Betten. M. und ich hatten das Durchgangszimmer bezogen, das zum Bad führte; wir teilten uns das Stockbett. Wenn M. sich oben wälzte, wackelte und ächzte das Bettgestell und mein Stift zitterte.

Heute war mir das egal. Ich war müde.

 

Rastlos wachte ich am nächsten Tag auf. A. und S. saßen schon im Gemeinschaftsraum. Wir tranken Kaffee und sahen hinaus auf den Weiher vor unserer Hütte. Die Windräder drehten sich; ein Sauna-Häuschen lag still auf dem Wasser.

Stunden später standen auch die anderen auf. Die lange Fahrt hatte alle ausgelaugt. A., S. und ich konnten es nicht mehr erwarten und fuhren nach Kapelludden am Meer, einer Landzunge an der Ostküste. Ein roter Leuchtturm ragte in den Himmel, die See glitzerte. Ruinen einer alten Kapelle standen neben einer Pferdekoppel. Vogelbeobachter liefen mit ihren großen Spektiven an uns vorbei. Außer einem Rotmilan konnte S. allerdings nichts fotografieren. Ein kleiner, mutiger Falke versuchte den Milan anzugreifen. Wie zielstrebig! Die Szene geriet aus unserem Gesichtsfeld. Die Weiden vor uns waren eingezäunt. Erst wagten wir es nicht, doch dann kletterten wir unter dem Gatter hindurch. Um die Ecke grasten Kühe. Wir sahen uns ein wenig um, aber so richtig wohl war uns bei der Sache nicht.

So fuhren wir weiter zu dem Naturschutzgebiet Petgärdetrask. Der Weg führte uns durch einen Wald, wieder an einer Weide vorbei. Drei Seeadler zogen am Himmel ihre Kreise.

Wir gelangten zu einer Vogelbeobachtungsplattform inmitten der Bäume. Wir stiegen hinauf und konnten vier Kraniche im ausgetrockneten Moor beobachten. Der Pfad zurück verlief durch einen zauberhaften Tunnel aus silbrigen Ästen. Pilze wuchsen auf dem Boden, eine verblühte Orchidee stand verloren daneben.

Wir brachen zum Strand auf. Der weiße Sand funkelte in der Sonne, das grüne Dünengras wogte sich im Wind. Das Meer war voller Qualen. Vögel, Kühe, Kälber und Pferde standen am Strand. Wie schön einsam es hier doch war.

Nachdem wir den Nachmittag zusammen mit den anderen dreien in unsere Hütte verbracht hatten, fuhren wir noch einmal nach Kappelluden. Einen Tag hatte es nur gedauert – und schon waren wir völlig ungehemmt und schwangen uns wie selbstverständlich über die Zäune, um näher ans Meer und an die Vögel zu kommen. Reglos saß ich im Sand und saugte die Bilder in mich auf. Es war schön.

Doch bald wurde es kalt. Die Sonne ging nun schon schnell unter.

 

In Beijershamn, einem ehemaligen Hafen und jetzigem Naturreservat, fanden wir Vögel, weiße Kühe und einen Strand. Neuntöter saßen im Busch, ein Adler auf einem Fels im Meer, und eine alte Hexe begegnete uns im Wald. Sie lief gebeugt und stützte sich auf einen hölzernen Stock mit Kranichkopf. Wir wichen ihr aus. Sie sagte kein Wort. Ich dachte, dass sie in Wahrheit ein verwunschener Kranich war und deswegen nicht sprechen konnte.

Wir fuhren weiter nach Möckelmossen, einem Naturschutzgebiet und Feuchtbiotop im Süden der Insel. Es lag inmitten des Stora Alvaret, eines für Landwirtschaft ungeeigneten Gebiets mit wenig Vegetation.

Es mutete wie der Wilde Westen an. Wir sahen eine karge Steppenlandschaft vor uns. In einem Tümpel badeten wunderschöne Goldregenpfeifer mit goldenen Tupfen im Gefieder, die ihnen den Namen gegeben hatten. Neben der Feldlerche sind sie mit dem Alvar verbunden wie kein anderer Vogel.

Abends kehrten wir zum weißen Sandstrand zurück. Schwäne trieben auf dem Wasser, und Quallen darin. Ein Spiel von Schwerelosigkeit.

 

Am nächsten Morgen taumelte ich aus dem Bett, um die geplante Wanderung nicht zu verpassen. Wir fuhren wieder zum großen öländischen Alvar. 300 km2 Steppenheide. Wir wollten zu einem kleinen See laufen, der in unserer Karte eingezeichnet war. Das Moor war so matschig, dass M., S. und ich unsere Schuhe auszogen und barfuß durch den Morast wateten. Wie schön warm das Wasser war!

Hinter dem See grasten Pferde.

Wir kehrten zum Parkplatz zurück und wanderten nun eine Runde in die andere Richtung. Der Wind pfiff uns um die Ohren. Tapfer kämpften wir gegen ihn an. Der Boden war karg, von bunten Flechten und kleinen, dicht gedrängten Büschen bewachsen. Blau-lila schimmernde Käfer krabbelten über Felsen. Zwei Kühe galoppierten entsetzt davon, als sie uns entdeckten.

Am späten Nachmittag ging es weiter zu den Raukar-Felsen. Die Wellen brachen sich an den skurrilen Felsformationen, Möwen trieben auf dem schaukelnden Wasser.

Langsam ging die Sonne unter. Sie leuchtete orange, und die Blaue Jungfrau, eine Insel in weiter Ferne, versank im sanften Abendlicht.

Der Wind hatte uns wieder einmal ordentlich ausgekühlt. Dankbar setzten wir uns in das warme Auto. Durch die Nacht fuhren wir zurück zu unserer gemütlichen Hütte, wo wir heißen Tranbär mit Honig tranken.

 

In diesen Ferien ließ ich mich treiben.

Ich saß hinten im Auto und beobachtete die vorüberziehende Landschaft. Heute ging es in den Süden Ölands, an Strände, wo warmer Wind wehte und Quallen wie Steine gestapelt am Ufer lagen. Der strenge Geruch von Algen hing in der Luft.

Spatzen flogen aus einem Busch. Felsen ragten aus der aufgewühlten See. Der Himmel versprach schon jetzt ungemütliches Wetter. Bedrohliche, dunkle Wolken trieben vom Horizont auf uns zu.

Beim nächsten Strand war der Sturm schon angekommen. Limikolen mit ihren langen, feinen Schnäbeln liefen am Ufer entlang und Gänse warteten darauf, dass das Meer sich wieder beruhigte.

Am südlichsten Punkt Ölands, beim Leuchtturm Langer Jan, peitschte uns der Regen derart ins Gesicht, dass es schmerzte. Der Wind zerrte an meiner Jacke, meinen Haaren, meinen Wimpern. Mit gesenktem Kopf liefen wir an der Küste entlang, vorbei an schwarzen Schafen, von denen eines ein schwarzes und ein braunes Auge hatte. Vorbei an einer Gruppe Rehe, die erschrocken davonsprangen, als sie uns sahen. Ein Reh versteckte sich hinter einem Baum und beobachtete uns. Als es sich umdrehte, sahen wir sein weißes Hinterteil, das man Spiegel nennt.

An einer Mauer entlang wanderten wir, windgeschützt, zurück ins Landesinnere.

 

Am nächsten Morgen schliefen wir lange. Nur A. und S. machten sich frühzeitig auf den Weg, um Vögel zu fotografieren. Als sie wiederkamen, brachten sie Kuchen mit, den wir gemeinsam genüsslich verspeisten. Danach sprangen A. und ich in den eiskalten See vor unserer Hütte. Das müsste man jeden Tag machen!

Wir fuhren alle zusammen ans Nordkap. Es war warm wie am Mittelmeer. Das Meer war blau, und der Lange Erich, der Leuchtturm, ragte friedlich in den bewölkten Himmel. Wir zogen unsere Schuhe aus und wateten über glitschige Steine durch das weiche Wasser. Wir spürten den Sand, der unsere Füße massierte, zwischen unseren Zehen. Schwäne schaukelten auf dem Wasser.

Anschließend suchten wir den Trollwald auf. Der Pfad durch den Wald führte an einen Strand. Wir liefen auf dem Steg, blickten aufs Wasser und die bewaldeten Ufer ringsum. Ein Hase flüchtete scheu ins Gebüsch, als er uns sah. In den Hecken trugen Schlehen blaue Beeren.

Für A., S. und M. war es der letzte Abend. Wir gingen in einem lokalen Restaurant Fisch essen. Niemand trug hier Masken – stattdessen wurde sehr genau auf Abstand geachtet.

A., S. und ich machten danach noch einen Abstecher zur Westküste. Ein wildes, dunkles Pferd galoppierte den Strand entlang. Wir sahen dem roten Sonnenuntergang zu. Es wurde kalt.

 

Letzter Tag. S., A. und M. fuhren zurück nach Deutschland – wir blieben zu dritt zurück.

Wir fuhren nach Eketorp, einer Burg in der Stora Alvaret, etwa 300 n. Chr. errichtet, ein einsamer Koloss im Sumpfgebiet. Die Mauern waren verfallen. Doch ein wenig fanden wir noch von der Zeit, als hier gelebt und geopfert wurde. Pferde, verriet eine Infotafel. Das Pferd war ein heiliges Tier, ein Gefährte der Götter des Krieges und der Fruchtbarkeit. Das Pferdefleisch wurde gemeinsam gegessen und der Kopf des Tieres aufgespießt. Zahlreiche Gebeine waren hier gefunden worden, auch von anderen Tieren. Opfergaben. Eine rote Flagge wehte im Wind. Ich stand auf der Wehrmauer und ließ meine Haare wirbeln.

Einen letzten Abstecher machten wir noch zum Schloss Kalmar. Kaninchen hatten die Burg erobert. Überall hoppelten sie aus ihren Löchern.

 

Abends sprangen wir in den eisigen See bei der Hütte. S. und ich schrien – und das tat gut.

 

 

Schweige, verbirg dich und halte

deine Gefühle und Träume geheim,

lass sie in der Tiefe deiner Seele

lautlos auf- und untergehen

wie Sterne in der Nacht;

erfreue dich an ihnen – und schweige.

 

Wie soll das Herz sich offenbaren?

Wie soll ein anderer dich verstehen?

Begreift er, wodurch du lebst?

Ein ausgesprochener Gedanke ist eine Lüge.

Wenn du die Quellen aufwühlst, trübst du sie;

zehre von ihnen – und schweige.

 

(Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew)