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Emei Shan

Es war ein langer, langer Tag im Auto. Um halb neun fuhren wir los. Durch das Min-Tal und entlang des Min-Flusses kamen wir allmählich aus den Bergen heraus. Wir passierten einen See, in dem ein versunkenes Dorf lag, was bei einem Erdbeben im Jahr 2008 untergegangen war. Je mehr wie uns dem Flachland näherten, desto heißer wurde es. Bei unserer Mittagspause zeigte das Außenthermometer unseres Autos schon 32 Grad an. An den Straßenrändern saßen Frauen dicht gedrängt und boten Kirschen aus übervollen Körben an. Unser Fahrer kaufte einige Pfund der süßen Früchte und schenkte mir welche davon. Die Fahrt ging zügiger voran als gedacht. Nur in den Tunneln staute sich der Verkehr, weil dort gebaut wurde. Bei dem riskanten Fahrstil einiger Chinesen wunderte ich mich, dass wir auf keinen Unfall gestoßen waren.

Wir schwitzten bei der Schwüle und unsere Kleidung klebte am Körper. Bei Chengdu aßen wir ein Eis, um uns wenigstens innerlich etwas abzukühlen. Gegen fünf Uhr, wir waren mittlerweile acht Stunden unterwegs, erreichten wir dann Emei, was übersetzt „Augenbraue“ heißt und den Emei Shan zum Augenbrauen-Berg machte. Das Land war flach, doch hinter Emei ragten einsame Berge auf, darunter der Emei Shan, einer der vier heiligen buddhistischen Berge Chinas.

In der Stadt herrschte hektisches Treiben. S. und ich wollten dem rasch entgehen und brachen eilig zu einem Spaziergang auf. Wir mussten uns einen Weg durch die Menschenmassen bahnen. Einige Frauen verfolgten uns hartnäckig, laut chinesisch sprechend. Wir konnten uns nicht erklären, was sie von uns wollten. Unwillkürlich liefen wir schneller, bis wir sie endlich abgeschüttelt hatten. Endlich erreichten wir den Pavillon, von dem Yong uns erzählt hatte. Ein schöner Spazierweg sollte von hier zu einem Tempel führen.

Vor dem Pavillon standen zwei Elefantenstatuen. Die Elefanten hatten jeweils sechs Stoßzähne. Elefanten gelten im Buddhismus als heilig, weil man ihnen ähnliche Eigenschaften wie Buddha zuschreibt. Auch sie haben, wie Buddha, ihren Körper völlig unter Kontrolle. Auch ihr Gang ist würdig und gemessen.

Der Dschungel umfing uns.

Es zirpte und zwitscherte überall fremdartig. Das subtropische Klima machte uns zu schaffen. Wir zwängten uns durch dichte Bambusbüsche und begegneten Statuen aus rotem Stein, die Betende oder Kung-Fu-Kämpfer zeigten. Riesige Schmetterlinge flatterten an uns vorbei, exotische Vögel begleiteten uns. Am Boden krochen fette, bunte Raupen. Große Mücken schwirrten durch die Luft. In diesem Urwald waren wir die Fremdkörper.

Wir fotografierten einen Schmetterling, der für uns die Flügel ausbreitete, und eine Echse am Wegrand, die wie ein kleiner, züngelnder Drache aussah. Auf dem Rückweg stießen wir beinahe mit einem Mönch in brauner Kutte zusammen.

Wie abenteuerlich sich diese Region anfühlte! Und heiß …

 

Am nächsten Morgen wollten wir auf den Berg. Dort sollte es sechs Frauenschuh-Arten geben. Wenn wir nur eine davon fänden, wäre S. schon sehr glücklich gewesen.

Um acht Uhr trafen wir Yong an der Rezeption. Mit ihm zusammen stiegen wir in einen Bus, der hoch zum Emei Shan fuhr. Gute zwei Stunden dauerte die Fahrt. Ein kleines, chinesisches Mädchen musste sich während der kurvenreichen Fahrt ständig übergeben. Wir waren froh, als wir endlich unser Ziel erreicht hatten.

Die Landschaft, die uns erwartete, war überwältigend: tiefe Schluchten und hohe Berge inmitten des Dschungels, Bäche und Wasserfälle. Dazu die Geräusche des Urwalds. Ein dichter Nebel hing über allem. Plötzlich schauerte es mich.

Zwei Stunden stiegen wir zum Gipfel hoch, mühsame Treppenstufen, immer nur bergauf. Mit uns waren lauter Chinesen, kein einziger Europäer, und viele Mönche unterwegs. Manche trugen braune Kutten und warfen sich vor die Stufen um zu beten, was in meinen Augen eine ordentliche sportliche Leistung darstellte, ähnlich wie Liegestützen.

Andere Mönche waren hochmodern unterwegs. Sie trugen rote Kutten und bunte Turnschuhe, in der Hand ein Smartphone und eine Sonnenbrille auf der Nase. Das waren die tibetischen Mönche, wie Yong uns erklärte.

Es war kalt und gleichzeitig schwül. Ich war schweißnass und beneidete die alten Frauen, die von jungen Männern in Sänften den heiligen Berg hochgetragen wurden.

Während ich unauffällig die Mönche zu beobachten versuchte, filmten und fotografierten die Chinesen uns hemmungslos wie seltene Attraktionen aus dem Zoo.

Auf dem Gipfel thronte in einem Meer aus Tempeln der goldene Buddha, auf seinen drei Elefanten mit den sechs Stoßzähnen sitzend. Im Tempel huldigten ihm alle, verbeugten sich und brachten Opfergaben dar: Cola, Chips, Kekse und vieles mehr. Ich vermutete, dass die reichen Gaben am Ende des Tages von den Mönchen verspeist wurden.

Wir drehten eine Runde um den Buddha, weil das Glück bringen sollte.

Yong sagte, dass er nicht an den Buddha glaube, er glaube an nichts, wie die meisten Chinesen. Nur, wenn es ihm sehr schlecht gehe, dann schon. Dabei lachte er.

Buddha, der „Erwachte“ ist allerdings keine Einzelperson, sondern ein spirituelles Symbol. Der historische Buddha wurde nicht angebetet. Die Opferungen sollen das Versprechen bekräftigen, allen fühlenden Wesen nützen zu wollen.

Ich staunte über den dicken, runden Bauch der Buddha-Figuren, die sieben Schlangenköpfe, die Buddha beschützen sollten.

Die Darstellung verkörpert chinesische Lebensideale. Der dicke Bauch ist ein Symbol für Reichtum. Das Lachen und die lockere Sitzhaltung symbolisieren Gelassenheit und Zufriedenheit mit sich und der Welt.

Siddhartha Gautama, der Begründer des Buddhismus, soll keineswegs dick gewesen sein. Das ließ seine asketische Lebensweise schon nicht zu.

Zu dritt traten wir über die hohe Schwelle einer der Tempel. Die hohen Schwellen sollen böse Geister hindern, die Räume zu betreten. Drei Buddhas waren zu sehen: der Buddha der Zukunft, der Gegenwart und der Vergangenheit. Im hinteren Bereich des Tempels war auf einem Teppich das Paradies abgebildet. Gleich daneben die Hölle, und das Fegefeuer. Wie bekannt das alles war, und doch hatten wir im Westen diesen abgemagerten Mann am Kreuz, und im Osten gab es einen dicken, dicken Bauch.

 

Der Gang um Buddha hatte uns kein Glück gebracht. Keine einzige Orchidee war zu finden, obwohl wir noch 14 Kilometer wanderten und suchten. Auch die Affen, die es am Emei Shan geben sollte, zeigten sich nicht. Morgen ist auch noch ein Tag, dachten wir uns. Allerdings unser letzter in China.

Durchgeschwitzt fuhren wir mit dem Bus in unser Hotel zurück. Dort entspannten wir uns und warteten darauf, dass das Wasser bald wieder fließen möge, denn wir wollten gerne duschen.

 

Wie ich diesen Dschungel vermisse. Das satte Türkisgrün der Wälder, die fremden Strukturen der Pflanzen, Vögel, die wie Alarmanlagen klangen. Fast schon unheimliche Geräusche.

An unserem letzten Tag stiegen wir ein zweites Mal die Treppen hoch, glatte Stufen rötlichen Steins, die sich wie ein Drache bis zum Gipfel des Berges hinauf schlängelten. Und diesmal fanden wir sie: die Affen. Oder besser: Sie hatten uns gefunden. Die Tibetmakaken waren überall. Sie hingen in den Bäumen, saßen auf dem Geländer und versuchten den Besuchern Essen zu stibitzen. Eine Mutter lauste ihr Junges, das ungemein runzelig war. Etwas abseits saß ein monströs großer Makake, der mir Angst machte. Er war halb so groß wie ich, aber massig, und trug einen stoisch grimmigen Ausdruck auf dem Gesicht. Die Affen waren in allen Größen vertreten. Wir hatten unseren Proviant und die Kameras gut verstaut, denn die Primaten versuchten alles zu stehlen, was nicht sicher verpackt war. Obwohl ich nichts von Interesse für sie hatte, versuchten sie auch bei mir ihr Glück. Gleich zwei mittelgroße Exemplare sprangen mir plötzlich auf den Rücken. Einer der Beiden rüttelte vehement an meinem fest verschlossenen Rucksack. Ein Wächter musste die Zwei schließlich mit Essbarem von mir locken.

 

Verantwortungsbewusstes Reisen ist zurzeit schwierig. Die Pandemie macht es nicht gerade leicht. Und eigentlich möchte ich auch wegen des Klimawandels nicht mehr fliegen. Aber wenn ich an China zurückdenke, ergreift mich schon die Sehnsucht.

Mit Yong schreibe ich noch heute E-Mails. Es ist schön, dass sich aus diesen zwei Wochen eine Freundschaft entwickelt hat. Und wer weiß. Vielleicht kehre ich doch eines Tages zurück – auf welchem Weg auch immer …

 

 

Lass deinen Geist still werden

wie einen Teich im Wald.

Er soll klar werden wie Wasser,

das von den Bergen fließt.

Lass trübes Wasser zur Ruhe kommen,

dann wird es klar werden,

und lass deine schweifenden Gedanken

und Wünsche zur Ruhe kommen.

 

(Siddhartha Gautama Buddha)