Pingwu ist nach chinesischem Maßstab ein echtes Dorf, mit nur 200.000 Einwohnern. Hier gab es wirklich nahezu keine Touristen außer uns – zumindest keine Europäer. Weil wir noch etwas Zeit hatten, spazierten S. und ich am Fluss entlang, wo uns kleine Kinder mit großen Augen anstarrten oder sich schüchtern hinter den Röcken ihrer Mütter versteckten.
Aus unserem Zimmer mussten wir zunächst eine Monster-Hornisse aus dem Fenster bugsieren. Anschließend gingen wir in das Hotel-Restaurant. Wir setzten uns und sahen uns die Speisenkarte an. Jedenfalls vermuteten wir, dass das die Speisenkarte war, denn wir sahen nur chinesische Schriftzeichen. Hilflos sahen wir uns um und ebenso hilflos standen vier Angestellte um uns herum. Wir konnten nicht chinesisch und das Personal konnte nur chinesisch. Wir waren hungrig und der Verzweiflung nahe. Wir wären am Ende schon mit irgendetwas Essbarem zufrieden gewesen, doch auch das konnten wir der Bedienung nicht klar machen. Zwei Chinesen, die am Nachbartisch saßen und die Szene beobachtet hatten, winkten uns an ihren Tisch. Sie hatten bereits gefüllte Teller und Schalen vor sich stehen und forderten uns gestikulierend auf, auf die Speisen zu deuten, die wir auch bestellen wollten. Erleichtert deuteten wir auf Huhn mit Gemüse und Reis und verschiedene Soßen. Zum Dank ließen wir uns zusammen mit unseren „Rettern“ fotografieren. Während des gesamten Vorgangs war es im gut besetzten Lokal still geworden. Alle Anwesenden betrachteten uns fasziniert. Hier waren wir die Exoten.
Das Essen schmeckte köstlich. Wir hatten es uns ja auch redlich verdient.
Der nächste Tag begann heiter. Beim Frühstück aus Kartoffeln, Kürbis, Ei und warmer Reismilch versuchte ein netter Chinese mit uns ins Gespräch zu kommen. Er meinte wohl, dass wir Franzosen wären, denn er sprach sofort in holprigem Französisch mit uns. Er hielt uns für ein Ehepaar und musste laut lachen, als ich hastig den Irrtum aufgeklärt hatte. Ich fragte mich insgeheim, ob mein Vater nur so jung aussah oder ich so alt, oder beides.
Um neun Uhr fuhren wir wieder los, nun wieder in Begleitung von Yong. Zurück in die Berge und hinauf auf den Rhododendronpass, wo wir vergeblich Orchideen suchten. Wir wurden dafür durch andere faszinierende Blumen entschädigt, die wir fotografieren konnten: Mini-Primeln und gelbe Riesenanemonen, die magisch aussahen. Außerdem konnten wir eine Schar hüpfender Vögel ablichten, deren Namen uns Yong als „Wind-Pferd-Fahne“ übersetzte. Wir waren auf 3500 Meter Höhe angelangt und das Atmen war mühsamer geworden. Die Luft war spürbar dünner und wir hatten Kopfschmerzen. Zum Glück wirkten die mitgebrachten Tabletten Wunder. Der Ausblick auf die Berge war gewaltig.
Dann gab es Picknick im Auto, weil draußen der Wind so kalt blies: leckere chinesische Kuchen.
Auf dem Pass trafen wir einen Briten, der in Sichuan lebte. Für die Vögel, erzählte er uns. Und der auch dachte, wir seien Franzosen.
Hier waren so wenige Europäer unterwegs, dass man froh war, wenn man sich traf und sofort Kontakt aufzunehmen versuchte.
Yong berichtete Horrorgeschichten über die tibetischen Minderheiten, die hier lebten. Einmal nämlich wohnte er dort angeblich einer Bestattung bei, bei der die Leiche in kleine Stücke zerteilt wurde, um dann den Geiern geopfert zu werden. Danach zerhackte ein Mönch noch mit einer Axt den Kopf des Toten. Zitat Yong: „Ich habe drei Tage nichts gegessen!“ Ich fragte mich allerdings, ob ihn nicht die immerwährenden Konflikte zwischen China und Tibet zu dieser Übertreibung veranlasst hatten.
Den Rest der Fahrt konnten wir die gigantische Landschaftskulisse bewundern. Ich erfreute unseren Fahrer mit meinen Chinesisch-Kenntnissen. Dass er immer wieder laut auflachte, wertete ich als kein gutes Zeichen.
Unser nächstes Ziel war nicht mehr fern ...
Dieser Wind der fremden Kontinente
Hat den Atem einer andern Zeit.
Andre Menschen, einer andern Welt geboren,
Mag's erfrischen. Ich bin hier verloren
Wie ein Waldtier, das in Winternächten schreit.
(Guido Zernatto)