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Wang Lang

Wir verließen Chengdu, um zu unserem nächsten Reiseziel Wang Lang in den Bergen aufzubrechen. Während der sechsstündigen Fahrt wurde das Verhältnis zu unserm Tour-Guide, Herrn Zhang, immer persönlicher. Schließlich duzten wir uns und durften ihn Yong nennen. Auch unser schweigsamer Fahrer taute immer mehr auf und machte Witze auf Chinesisch, die ich nicht verstand.

Wundervolle Landschaften zogen an uns vorüber. Wir sahen kleine tibetanische Dörfer und Siedlungen anderer Minderheiten, von denen manche an Schafe glaubten und andere an den Phönix. Ziegen, Kühe und edle Pferde grasten an den Hängen und versperrten die holprigen Straßen. Die Dorfbewohner trugen bunte Trachten. Einige hatten große, geflochtene Körbe auf dem Rücken – was für ein Unterschied zu der Metropole Chengdu.

Bei Anbruch der Dämmerung kamen wir endlich im Wang Lang Nationalpark an. Wang Lang gehört zur Region Minshan. Hier findet man eine der größten Artenvielfalten weltweit. Pflanzen und Tiere sind hier noch heimisch, die andernorts als ausgestorben gelten. Rasch hatten wir unsere Herberge erreicht, mitten im Gebirge, auf über zweitausendfünfhundert Meter Höhe. Die Anordnung der Gästezimmer, als Hufeisen um einen Innenhof herum, erinnerte mich an einen Tempel. Ich fühlte mich sofort wohl. Überall standen Statuen von Pandabären herum. Hier in den Bergen sollte es noch ungefähr 700 der vom Aussterben bedrohten Tiere geben – und nicht nur sie: auch Leoparden …

Man hatte uns ein fürstliches Abendessen bereitet. Zu viert hätten wir unmöglich alles schaffen können: Garnelen, Fleischbällchen, Fisch, gebratene Gurken, Rind, Tofu in Chili, Reis, Tee, Tomaten, Wassermelone, Trauben … Plötzlich stand eine Schar chinesischer Frauen um uns herum. Sie nötigten uns aufzustehen, und so wurden wir von kräftigen, starken Stimmen gesanglich begrüßt: „Guten Tag, seid hier willkommen“ – so zumindest übersetzte Yong uns das Lied.

Danach tranken wir Tee. Hätte es Bier gegeben, erklärte uns Yong, hätten wir es in einem Zug austrinken müssen. So verlangte es hier der Brauch.

Wir aßen, bis wir nicht mehr konnten. Nach einem kleinen Verdauungsspaziergang fanden wir uns schließlich in der Bar wieder, wo mehr laut als schön Karaoke gesungen wurde. Wir besorgten uns zwei Flaschen Bier. Es war seltsam: Wir waren die einzigen Gäste weit und breit, doch das Personal war bestens aufgelegt. Ich hatte den Eindruck, dass sie sich ehrlich darüber freuten, dass wir gekommen waren.

Müde fielen wir in unsere Betten.

 

Der nächste Morgen begann mit einem chinesischen Frühstück: Eier mit Tomaten, Speck, warme Sojamilch, Mais, Rüben in Chili, Reis-Porridge mit Bohnen und Baotse (gefüllten Teigtaschen). Danach war mir schlecht.

Um halb zehn fuhren wir mit einem kleinen Bus in den Nationalpark. Mit von der Partie: Yong, unser Guide, außerdem unser nun gar nicht mehr so schweigsamer Fahrer, der allerdings heute nicht fahren musste, und eine Schar wechselnder Chinesen. 40 Minuten später machten wir unseren ersten Stopp und fanden sogleich die ersten, von S. sehnlichst gesuchten Orchideen: den tibetischen Frauenschuh und den kleinen Bardolphi-Frauenschuh. Beide gab es in großen Mengen. S. lag mit der Kamera im Dreck, während unsere chinesischen Helfer fleißig im Gestrüpp suchten. Sobald sie etwas gefunden hatten – egal ob schon verwelkt oder noch in Knospe – schrien sie ganz aufgeregt und lachten.

Den restlichen Tag waren wir mit unserer Bus-Tour unterwegs. Immer wieder hielten wir an. Wir gingen durch fremd anmutende Wälder, an klaren Flüssen entlang, und sahen dabei auch Tiere: wilde Hühner, groß und schwarz, bunte Vögel, Kühe und Pferde. Wieso Kühe und Pferde alleine unterwegs waren, konnten wir uns nicht erklären. Wir wurden von dunklen Regenwolken begleitet, die plötzlich ihre Schleusen öffneten. Drei Kilometer vor der Herberge stiegen S., Yong und ich aus dem Bus, weil wir das letzte Stück zu Fuß bewältigen wollten, um in aller Ruhe nach Orchideen Ausschau halten zu können. Und tatsächlich fanden wir Arten, die uns bisher nicht begegnet waren: asiatische Korallenwurze, sehr schön anzusehen.

Wieder begegneten wir zwei Pferden, die uns eine Weile folgten, bis wir auf zwei weitere stießen. Beide hatten ein Fohlen an ihrer Seite. Irgendwie ging mir das Bild nicht mehr aus dem Kopf: Die Stute und ihr Junges, wie beide durch den Wald liefen …

 

Nach dem Frühstück am nächsten Morgen packten wir unsere sieben Sachen und verstauten sie bei unserem Fahrer im Auto. Bevor wir endgültig abfuhren, wollten wir gemeinsam mit Yong eine Tour durch Wang Lang machen. Wir nahmen den mit chinesischen Touristen überfüllten Bus. Alle unterhielten sich sehr laut und aufgeregt. Erleichtert stiegen wir aus, um zu Fuß durch das Baisha-Tal zu wandern. Plötzlich waren wir allein unterwegs. Ein verwunschener Wald umfing uns.

Um 12 Uhr verließen wir Wang Lang schließlich, wieder in unserem altvertrauten Quartett. Von unserer Herberge aus fuhren wir hinab, aus den Bergen heraus. Was uns wohl als nächstes erwartete?

 

 

Neun Dinge sind es, auf die der Edle sorgsam achtet:

Beim Sehen achtet er auf Klarheit,

beim Hören auf Deutlichkeit,

in seiner Miene auf Freundlichkeit,

im Benehmen achtet er auf Höflichkeit,

im Reden auf Ehrlichkeit,

im Handeln auf Gewissenhaftigkeit.

Wenn ihm Zweifel kommen, fragt er andere.

Ist er im Zorn, bedenkt er die Folgen.

Angesichts eines persönlichen Vorteils fragt er sich, ob er auch ein Anrecht darauf hat.

 

(Konfuzius)