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Mosfellsbaer

Mit dem Bus fuhren wir ca. 15 Minuten von Reykjavik nach Mosfellsbaer, einem kleinen Küstenort. Mosfellsbaer – das war wie ein weißer Fleck auf der Landkarte. Wir hatten im Hotel Laxnes, das inmitten karger Hügel lag, ein Zimmer gebucht. Über allem schwebte eine feine Schicht Nebel. Hier gab es, außer der herben Landschaft, buchstäblich nichts.

Wir erkundeten die Gegend um uns. Wir mussten nicht weit laufen, bis wir auf den ersten Wasserfall stießen, den Alafoss. Wie übermütige Kinder turnten wir über die Steine, rutschten aus, kletterten den Hang hinab und wieder hinauf.

Der Flusslauf führte uns an einem Birkenwald entlang. Die Rinde weiß, die Äste wie Arme anklagend gegen den Himmel gestreckt. Wenn ich die Augen zusammenkniff, konnte ich sie sehen: Feen. Kleine, feine Wesen, mit dunklen Gesichtern, hier zwischen den Stämmen, verborgen im Spiel von Schatten und Licht, hell und düster, schwarz und weiß.

Dann wichen die Birken mächtigen Nadelbäumen. So eng und dicht waren sie ineinander verwoben, dass fast kein Sonnenlicht durch den Wald bis zum Boden drang. Schummrig leuchtete es hier und dort tiefgrün. Es war unwirklich.

 

Esja – das war nicht ein Berg, sondern ein ganzer Gebirgszug. Trotzdem sagten wir immer: Komm, wir gehen auf den Esja. Oder: Da ist er schon, der Esja.

In voller Wandermontur begannen wir den Aufstieg. Ich konnte mich gar nicht sattsehen an diesem fabelhaften Land mit seinem natürlichen Reichtum an Farben. Mal liefen wir über glänzend schwarzen Boden, dann wurde er rot. Und dahinter: die vereisten Gipfel der Vulkankette. Der Bach, der aus den Bergen kam, war immer an unserer Seite.

Anfangs fröhlich, scherzend und gut gelaunt, wurden wir immer stiller, je weiter wir nach oben kamen. Wanderer kamen uns entgegen und grüßten freundlich. Sie sahen uns merkwürdig an und drehten sich nach uns um. Dann trafen wir niemanden mehr. Der Himmel zog sich zu. Wir waren viel zu spät dran. Doch umkehren? Auf keinen Fall!

Plötzlich wurde es kalt. Wir kämpften uns durch Schnee. Hagelkörner und Regen peitschten mir scharf ins Gesicht. Ich zitterte. Klitschnass stolperten wir weiter, es war so dunkel und neblig, dass wir kaum die eigene Hand vor den Augen sahen. Der Schnee leuchtete uns schwach den Weg. Doch da! War das nicht das Meer? Ein helles Schimmern. Selbst das erschien uns nun unheimlich.

Wir kehrten um. Ich malte mir aus, wie es wäre, jetzt einem Yeti zu begegnen. Warum nur am Himalaja und nicht hier? Mich schauderte.

Dieses Land war rau und hart und unglaublich echt. Wollte ich nicht immer so leben? Gradlinig und klar, kompromisslos?

 

Von Hlemmur aus fuhren wir nach Fludir. Märchenhaft! Auf dem Lavagestein wuchs sattes Moos, das Meer funkelte, und über die Heidelandschaft galoppierten Islandponys, immer zu zweien, als gehörten sie zusammen. Die Vulkankrater nahmen kein Ende. Dazwischen standen Schafe, uns etwas verdutzt anblickend.

Wir erreichten unser neues Ziel, die Secret Lagoon. Wie heiß das Wasser war! Die Quellen um uns dampften, immer wieder zog der Geruch von Schwefel an uns vorüber. Die Luft war kalt. Wir lagen im warmen Wasser und hatten die Welt um uns vergessen.

Abends gingen wir am Meer spazieren. Die Berge waren hier so nah! Wir sahen den Möwen nach, hörten sie rufen, und genossen die Abendstimmung. Wie schnell wir uns an diesen eisigen Wind gewöhnt hatten.

Das Meer leuchtete wie pures Silber.

 

Für unseren Trip entlang der Südküste hatten wir ein Auto gemietet. Das Wetter war vielversprechend: strahlende Sonne!

Der Urriðafoss, der wasserreichste Wasserfall Islands, stürzte ganze sechs Meter in die Tiefe. Seine reißenden Fluten schimmerten türkisblau.

Weiter fuhren wir, vorbei an Pferden, Schafen und Gänsen.

Beim Seljalandsfoss wurden wir klitschnass. 66 Meter tief fiel das Wasser. Wir balancierten hinter den Wasserfall in eine kleine Höhle und blickten durch den Wasserschleier hinaus.

Die Felswand nach Westen führte entlang zahlreicher kleinerer Fälle; wunderschön der Gljúfurárfoss, der in einer halboffenen Höhle lag.

Hinter dem Skógafoss soll der Sage nach ein Wikinger einen Schatz in einer Höhle vergraben haben. Ein Junge entdeckte die Truhe – doch die Kiste verschwand auf wundersame Weise. Waren es Trolle, waren es Feen? Wer weiß das schon.

Uns genügte der Wasserfall auch ohne den Schatz gefunden zu haben. 60 Meter stürzte das Wasser in den Grund. Der Wassernebel spannte für uns einen Regenbogen. Wir stiegen hinauf zum Fluss und folgten dem Weg eine Weile ins Hinterland.

Dyrhólaey, was so viel bedeutet wie Türlochinsel, sollte unsere letzte Etappe sein. Eine Halbinsel, einst bei einem submarinen Vulkanausbruch entstanden. Wir standen im letzten Licht des Tages am schwarzen Strand und sahen auf die gezackten Felsen, die einsam aus dem Meer ragten, wie Teile einer zersplitterten Krone.

Wehmütig fuhren wir zurück. Unsere Zeit hier war gezählt. Wir hielten auf einem Parkplatz neben der Straße an. Vor uns lag eine Wüste. Eine schwarze Wüste.

Wir beschlossen, sie zu durchqueren.

Um uns war nichts als schwarzer Sand. In der Ferne sahen wir das Meer schimmern, es schien nicht weit entfernt zu sein. Doch wir sollten uns getäuscht haben. Wir liefen und liefen. An der feinen Meereslinie am Horizont schien sich nichts zu ändern. Vor uns tauchte in der Ferne ein großer schwarzer Schatten auf. Unwillkürlich gingen wir langsamer. Die Konturen wurden schärfer. Da lag ein altes Flugzeug, das hier abgestürzt sein musste. Fast war mir, als säße der Pilot noch in dem Wrack. Mich schauderte.

Die Zeit erschien mir endlos, bis wir endlich den Strand erreichten. Lange und unentschlossen standen wir da, auf dem schwarzen Grund, blickten aufs Wasser. Wie die Steine unter meinen Füßen schimmerten. Ich steckte einen in meine Tasche. Für L.

Eine ganze Stunde waren wir zum Meer gelaufen, eine ganze Stunde gingen wir wieder zurück.

Endlich sahen wir Reykjavik. Ein Leuchten ging von der Stadt aus, das mich packte. Der Vollmond schien uns kalt und gleichgültig.

Schweren Herzens checkten wir aus unserem Hotel aus, brachten das Auto zurück und wanderten durch den Regen in Reykjavik. Da wir nicht recht wussten, wohin mit uns, waren wir zufällig in der Kirche Halgrimskirkja gelandet. Wir setzten uns still in eine Bank, um dem Ende eines Chorkonzerts zu lauschen. Danach folgten Orgelimprovisationen. Der Organist zog nahezu alle Register, wir fühlten das Ende unserer Reise.

Erst am Abend fuhren wir zum Flughafen. Wir schliefen in der Eingangshalle. Erstaunlich, wie gut das ging. Ich rollte mich auf einer Bank zusammen, während F. auf dem Boden lag wie ein Obdachloser.

Um sechs Uhr hob unser Flieger ab. Ich sah aus dem Fenster. Es regnete. Adieu, Island. Ob ich je wiederkehren werde?

 

 

Anmutig, geistig, arabeskenzart

Scheint unser Leben sich wie das von Feen

In sanften Tänzen um das Nichts zu drehen,

Dem wir geopfert Sein und Gegenwart.

 

Schönheit der Träume, holde Spielerei,

So hingehaucht, so reinlich abgestimmt,

Tief unter deiner heiteren Fläche glimmt

Sehnsucht nach Nacht, nach Blut, nach Barbarei.

 

Im Leeren dreht sich, ohne Zwang und Not,

Frei unser Leben, stets zum Spiel bereit,

Doch heimlich dürsten wir nach Wirklichkeit,

Nach Zeugung und Geburt, nach Leid und Tod.

 

(Hermann Hesse)