Am 20. April 2018 saß ich mit F. im Flugzeug, die Hände ans Fenster gepresst, den Blick erwartungsvoll nach außen gerichtet. Gleich mussten wir da sein. Island. Als ob diesem Land ein Zauber unterlag, sahen wir nicht viel, schüchtern noch barg es seine Geheimnisse. Die Welt ertrank im Nebel. Nur die Ahnung von etwas Weißem drang zu uns. Ein Strand?
Dann erkannten wir: Das musste Reykjavik sein.
Mit dem Bus fuhren wir vom Flughafen in die Stadt, das Meer an unserer Seite. Ich konnte den Boden unter meinen Füßen nicht fassen: schwarz wie Ebenholz, rot wie Blut, dazwischen Büschel von sattem Dünengras. Wie gemalt, Steinformationen, die die Fantasie anregten: hier ein versteinerter Riese, dort eine Fee – und da ein alter Drache.
In Reykjavik hatten wir ein Zimmer im Sunna Guesthouse gebucht. Von unserer Kammer aus sahen wir die Halgrimskirkja. Die größte Kirche Islands. Stark und einsam wie ein Monolith vor einem leuchtend grauen Himmel. Es war bereits nach 21 Uhr, als langsam die Dämmerung hereinbrach. Wir schlenderten zum Hafen, setzten uns an die Kaimauer und sahen auf das Meer hinaus. Die unendliche Weite ließ uns nicht los, bis uns kalt wurde.
Am nächsten Morgen besuchten wir das National Museum of Iceland, das Einblicke in die Vergangenheit des Landes gewährte. Im Zeitraffer reisten wir durch die Geschichte. Zusammen mit den mittelalterlichen Siedlern machte unser Schiff am Strand fest. Am Ende standen wir schon wieder am Flughafen, dem Tor zur Welt.
Das Museum stimmte mich auf unsere eigentliche Erkundung des Landes ein. Wir hatten uns vorab schlau gemacht, welche Orte um Reykjavik am vielversprechendsten waren, und so fuhren wir mit einer kleinen, klapprigen Fähre nach Videy. Sie ist die größte der Inseln im Kollafjørður, dem Fjord im Südwesten Islands und liegt direkt vor seiner Hauptstadt Reykjavik. Einst entstanden aus einem Vulkan, und bis vor 9000 Jahren noch im Wasser gelegen wie ein kleines Atlantis, war die Insel jetzt eine Brutstätte für Vögel.
Unsere Schuhe knirschten auf dem schwarzen Sand; der Boden war bedeckt von Gras, spröde wie Stroh, ein klarer Bach schlängelte sich durch das goldene Feld. Am Horizont sah ich die Berge, blau, von Schneebahnen durchzogen. Karge Felsen, wohin wir auch sahen. Mir gefiel es, wie der Wind meine Haare zerzauste und an meiner Kapuze zerrte. Am Himmel flogen Gänse. Andere hatten im Gras ihr Nest bereitet.
Das Meer lag silbern wie ein Spiegel vor uns.
So verträumt wanderten wir über die Insel, dass wir fast das letzte Boot zum Festland verpasst hätten.
Im Morgengrauen fuhren wir mit dem Bus zum Geysir Strokkur. Dampf stieg aus der Erde, die Berge waren schwarz wie die Nacht.
Der Geysir stank nach faulen Eiern. Doch wie klar leuchteten die heißen türkis-blauen Becken, ehe sie ihre hohe Wasserfontäne ausspuckten, als hätten sie nur darauf gewartet, von uns bestaunt und beklatscht zu werden. Die Sonne prangte gleißend über uns; weiße Wölkchen trieben am Himmel.
Auf dem Weg nach Gullfoss, dem goldenen Wasserfall, sahen wir isländische Pferde, klein und gedrungen, ein wenig ruppig, und dabei so zufrieden. Wie seltsam, dass die früher feuerspeienden Vulkane, die wir passierten, nun in Schnee gemummelt waren.
Gullfoss, gespeist vom Fluss Hvítá, ergoss sich über zwei breite Stufen. Der aufsteigende Wasserdampf, der die Linse meiner Kamera beängstigend nass machte, brach sich im hellen Sonnenlicht und verursachte einen leuchtenden Regenbogen, der sich über das gesamte Naturschauspiel schwang.
Zu guter Letzt stand noch der Nationalpark Þingvellir aus. Rebellische Schafe blockierten die Straße – ein wahrer Frevel, wie uns der Busfahrer erklärte. Hier nämlich konnten die Schafe die heiligen Birken anknabbern.
In Þingvellir, einem Ort am Ufer des Sees Þingvallavatn, wurde früher das Althing abgehalten. Noch heute Name des isländischen Parlaments. Ich stelle mir das vor: 930 n. Chr., die Erde bebt, als Wikinger auf ihren Pferden aus dem ganzen Land zu diesem Ortgaloppieren. Sie kommen am Thingplatz zusammen, um sich zu beraten, einmal im Jahr, immer im Juni. Vielleicht wussten sie, dass hier, zwischen den vier Vulkanen, Hengill, Hrómundartindur, Hrafnabjörg und Prestahnúkur, etwas Einzigartiges vor sich ging. Hier nämlich zerren die amerikanische und die eurasische tektonische Platte in entgegengesetzte Richtungen. Als könnten sie sich nicht leiden, ihr Schmerz sichtbar in den Felsspalten und Rissen, die das Land dort markieren. 70 Meter in den letzten 10 000 Jahren – wie klein und unbedeutend man angesichts dieser Stärke ist, dieser ungeheuren Willenskraft der Erde. Zwei Zentimeter jedes Jahr.
Am nächsten Morgen mussten wir uns von den Eindrücken des Vortags erholen. Der Nieselregen hatte einem milderen Klima Platz gemacht, und so fuhren wir zur Blauen Lagune. Künstlich angelegt, wird Thermalwasser aus einem Kraftwerk zur Stromerzeugung auf das Lavafeld geleitet. Wie eine glückliche Meerjungfrau trieb ich im heißen, dampfenden Wasser. Wir schmierten uns Schlamm ins Gesicht, tranken Wein, und konnten es nicht fassen, hier zu sein, in dieser Wellness-Oase, während um uns her das Land schwarz und zerklüftet war, eine große, harte Ödnis.
Abends spazierten wir in der Dunkelheit durch den Park neben der Halgrimskirkja. Die Statuen sahen melancholisch auf uns herab.
In Schluchten hörte ich einen Strom brausen,
er schrie laut und sprach: Ich halte nirgends an, die Zeit ist knapp bis zum Ziel.
So ruft die Zeit mir zu: Nimm dich in Acht, ich warte hier keinen Augenblick auf jemanden.
Beeile dich! Denn der Wasserfall strömt abwärts, ich trage dich auf meinen Wellen fort;
dann stürze ich mich schnell ins Meer der Ewigkeit hinaus.
(Hjálmar Jónsson frá Bólu, übersetzt und in Prosa gebracht von Josef Poestion)