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San Marino

Ich weiß nicht, was es mit mir und den kleinen Ländern auf sich hat. Irgendwie ziehen sie mich magisch an. Und so war es meine einzige Forderung an die Italien-Reise, Italien für einen einzigen Tag auf wundersame Art zu verlassen, eine unsichtbare Grenze zu überschreiten und nach San Marino zu fahren.

San Marino – ein Kleinstaat, einer der sechs sogenannten europäischen Zwergstaaten – und eigentlich vor allem ein einsamer Berg, gekrönt von einer einsamen Burg.

 

Mit dem Zug reisten L. und ich von Ravenna nach Rimini. L. war entsetzt von der Hässlichkeit Riminis und ich fasziniert von L.s Entsetzen.

„Zum Glück machen wir nicht in Rimini Urlaub“, pflegte L. zu sagen und ich stimmte ihr dann seufzend zu. Was hätten wir auch in Rimini gewollt?

In Rimini stiegen wir in einen Bus nach San Marino und fuhren über den einzigen Weg zu dem Ort hinauf. Die Reise führte über kurvige Straßen den Monte Titano hoch, der wie ein Gigant aus dem Flachland aufragte. Mir wurde schwindlig, wenn ich aus dem Fenster auf den Abgrund sah, der gefährlich nahe an der Straße lag.

Auf dem Monte Titano thront, inmitten einer grünen Hügellandschaft, San Marino, mit seiner alten Festung und den drei Wachtürmen, der älteste aus dem 11. Jahrhundert. Zu Fuß kämpften wir uns nun die steil ansteigende, mittelalterliche Altstadt hoch. Der Weg führte uns über schmale, kopfsteingepflasterte Gassen. Der Himmel war strahlend blau. Barock anmutende weiße Wolken zogen schwerfällig vorüber. Wir stiegen auf den Monte Titano zum ersten und ältesten Turm der eigentlichen Festung Guaita. Hier war Jahrhunderte ein düsteres Gefängnis untergebracht.

Wir befanden uns auf der höchsten Stelle San Marinos. Der Blick aufs Land war wie für Götter gemacht. Wir erahnten das Meer und sahen bis zu den Bergen. Grüne Landschaft, soweit das Auge reichte. Weiter ging es zur Cesta, dem zweiten, weit jüngeren Turm. Über die Wiese, an der Burgmauer entlang, mit der herrlichen Aussicht um uns. Im Museum Antiker Waffen sahen wir uns nur flüchtig um – wir wollten weiter zum Montale, dem dritten Turm.

Der Weg zum Montale war traumhaft schön. Der Torre Montale stammt aus dem 13. Jahrhundert und ist der jüngste Teil der Burg. Der Turm war als Beobachtungsposten erbaut worden. Unter ihm befand sich ein tiefes Verlies. Gruselig! Umso schöner die Landschaft! Violette Blumen überall. Sie wuchsen auf der Mauer, neben dem Pfad und ergossen sich wie eine Lawine den Hang hinab. Dazwischen Ölbäume, Eichen und Kiefern. Ich fotografierte L., wie sie durch das Blumenmeer ging und dachte, dass ich dieses Bild wohl nie wieder vergessen würde.

Beim Montale rasteten wir und sonnten uns wie zwei gemütlich faule Eidechsen. Ein gelber Schmetterling tanzte an unseren Nasen vorbei; es war ein Frühling wie im Märchen. Die milde Sonne auf der bloßen Haut, der Wind in den Haaren, das so weite Land. Schöner konnte es eigentlich nicht mehr werden. Ich war glücklich.

 

Man soll gehen, wenn es am schönsten ist. San Marino, der südlichste Punkt unserer Reise nach Italien, wird mir immer in klarer Erinnerung bleiben. So hoch oben, das Land zu unseren Füßen – wir auf der einsamen Festung. Inmitten violetter Blumen. Adieu, San Marino. Ich möchte wiederkommen. Doch wird es jemals wieder so schön sein?

 

 

Wellenschäume,

Wolkensäume,

Wünsche, Träume,

Im Entfalten,

Im Zerfließen festgehalten;

Manch Erlebtes

Längst Entschwebtes,

Mit Gestalten

Leicht Verwebtes,

Wie sie kommen, wie sie fliehn

– Launekinder, Phantasien,

Bilder im Vorüberziehn,

Liebespoesien!

 

(Ludwig Eichrodt)