Venedig – die Ankunft über das Wasser war wie ein Traum. Alles war viel weiter, als ich dachte. Und wie immer, überfüllt von Besuchern.
Und heute? Menschenleer. Bürgermeister Luigi Brugnaro, der bis vor kurzem noch Venedig gegen den viel zu großen Besucherstrom verteidigen wollte, lädt ein, wieder in seine Stadt zu kommen.
Mit dem Vaporetto, dem hier üblichen Wasserbus, fuhren wir damals zu unserer Unterkunft. Wir fühlten uns unsicher, denn es war schon dunkel, und wir kannten die Stadt nicht. Hoffentlich würden wir bei der richtigen Haltestelle aussteigen. Uns fehlte der Boden unter den Füßen. Lieber wären wir zu Fuß gegangen. Erleichtert stellten wir fest, dass es die richtige Anlegestelle war. Wir liefen über Brücken und durch Gässchen und standen schließlich ein wenig verloren vor dem schmalen Häuschen, in dem wir ein Zimmer gebucht hatten. Die Gegend war ruhig, fast schon zu ruhig. Unser Vermieter hatte uns einen Code gesandt, der uns die Tür öffnen sollte. Gespannt gaben wir ihn ein, und – klack! Die Tür sprang auf.
Totenstille umfing uns. Ein langer Flur, zu beiden Seiten Zimmer . Eine heruntergewirtschaftete Küche, ein schäbiges Gemeinschaftsbad. Unsere Kammer mit einem kleinen Fenster zur Straße. Wir traten ein und fühlten uns wie in einem großen Schrank. An Klaustrophobie durfte man hier nicht leiden. Die Holzvertäfelung betonte die Enge. Die Betten bestanden aus durchgelegenen Matratzen, die in Kästen lagen. Ich suchte mir das Lager am Fenster aus. Beim Probeliegen stellte sich heraus, dass jede Bewegung von einem unangenehmen Quietschen begleitet wurde. Das dunkle Holz verstärkte den düsteren Gesamteindruck.
Wir verließen das Zimmer, um Luft zu schnappen – da stand plötzlich ein Mädchen am Ende des Flurs.
Wir fragten sie, ob sie den Gastgeber denn schon getroffen hätte. Sie lachte. Nein, sie sei schon seit Tagen hier – er sei noch nie aufgetaucht.
Eilig verließen wir das Haus. Nachdenklich liefen wir am Wasser entlang, Sterne leuchteten über uns. Das waren unsere ersten Eindrücke von Venedig.
Der Sonntag war angebrochen. Ich hatte überraschend gut geschlafen. Die Kirchen Venedigs waren an diesem Tag für Besichtigungen nicht geöffnet. Schade. Wir liefen über den Markus-Platz weiter in die Gassen. Licht und Schatten wechselten sich ab. Mal liefen wir alleine, mal wurden wir von Menschenmassen getrieben. Das Wasser war türkis-blau, überall fuhren die Gondolieri. Alles war unwirklich.
Wir suchten den Bahnhof als Orientierungspunkt. Von dort führte unser nächster Weg zum Hafen. Das Mittelmeer plätscherte träge an die Kaimauern. Wir besuchten das dicht besiedelte Cannaregio, dort liegt das jüdische Viertel Ghetto nuovo mit seinen drei Synagogen. Der Begriff Ghetto wurde hier geprägt. Vor dem jüdischen Viertel war hier eine Eisengießerei, italienisch Ghetto. Die Sonne brannte mittlerweile vom Himmel. Im Palast Ca‘ Rezzonico, am Canal Grande an der Mündung des Rio Barnaba, in dem sich heute das Museo del Settecento Veneziano befindet, bewunderten wir Gemälde und Fresken von Pietro Longhi, Canaletto, Francesco Guardi und Vater und Sohn Tiepolo. Ich stellte mir vor, dass ich mit den Möbeln, allesamt Meisterstücke, einen eigenen Palazzo ausstaffieren würde. Den Tisch mit dem edlen Vezzi-Porzellan gedeckt, große Gesellschaften geben würde. Warmer Kerzenschein. Gedämpftes Lachen und Gläser klirren. Blutroter Wein in venezianischem Glas. Auf einem Harpsichord würde Tafelmusik gespielt. Allerfeinstes Konfekt, gereicht in hauchdünnen Schälchen… Ich sah mir die Landkarten der Neuen Welt von Battista Agnese an und wusste damals noch nicht, dass ich in demselben Jahr die Neue Welt besuchen würde. Wir schauten in die Ferne; über die Dächer Venedigs hinweg. Möwen waren auf der Suche nach Essbarem.
Am Abend ein Picknick an der Lagune. Wir hatten eine Decke mitgebracht und ließen den Tag mit Brot, Käse, Tomaten und einer Flasche Rotwein ausklingen. Die Sonne ging langsam unter und tauchte die leichten Wellen in orangenes Licht. Wir saßen noch lange, Sterne blinkten über uns auf und entschädigten uns für unser bescheidenes Quartier.
Wir kehrten sehr spät in unsere Unterkunft zurück und begaben uns müde in unsere Betten, um sofort einzuschlafen. Plötzlich schreckten wir von einem rüden Klopfen an unserer Tür auf. L. sah mich an, dann auf ihre Uhr. Es war weit nach Mitternacht. Ich stand auf, um vorsichtig die Tür zu öffnen.
Draußen im Flur stand unser Gastgeber: „Gli ID per favore e vorrei riscuotere l'affitto!“ Er war gekommen, um unsere Ausweise zu kontrollieren und das Geld für die Miete einzutreiben.
Wir zahlten ihm fröstelnd, was wir schuldig waren.
Danach verschwand er wieder. Spurlos, wie er aufgetaucht war.
Am Montag frühstückten wir Cornetti und Cappuccini in einem kleinen Café in unserem Viertel, mit Blick auf den Kanal. Ein Händler sortierte Gemüse auf einem Boot. Es war bereits sehr warm und es würde wohl ein sehr heißer Tag werden. Während ich meinen köstlichen Kaffee trank, stellte ich mir wieder einmal vor, wie es wäre, hier zu leben. So wie einst Hemingway. In einer kleinen, ruhigen Wohnung, nur zu schreiben, weit weg von allem. Ich seufzte.
Wir holten die Besichtigung der Kirchen nach, die am Sonntag nicht möglich war. Wir begannen mit dem Markusdom und ich war überwältigt. Die goldschimmernden Mosaike, dazu der Gesang des Priesters. L. und ich standen auf der Empore, blickten auf die gewölbte Decke. Ich war den Tränen nahe.
Wir erkundeten die Basilika Santi Giovanni e Paolo und die Franziskanerkirche San Francesco della Vigna. Kreuzgang und Garten strahlten eine Ruhe und Frieden aus, die auf mich überzugehen schienen. Es war bereits dunkel geworden, als wir über den Markusplatz liefen. Lichter überall; einige Tauben pickten Krümel vom Boden.
Langsam kehrten wir zu unserer Unterkunft zurück. Ein Unwetter zog auf. Das letzte Stück rannten wir. Blitz, Donner und Regen. Ich blickte durch das kleine Fenster auf die dunkle Gasse, lauschte dem Prasseln und dem Blasen des Windes. Und schrieb meine Notizen in mein Reisetagebuch.
Unser letzter Morgen in Venedig brach an. Cornetti mit Aprikosenmarmelade an der Lagune. Die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel. Wir liefen zum Bahnhof. Setzten uns dort auf eine Bank in der Sonne. Beide wollten wir nicht gehen – und doch spürten wir, dass es Zeit war.
Unser Zug fuhr ein.
Auf dem Canal grande betten
tief sich ein die Abendschatten,
hundert dunkle Gondeln gleiten
als ein flüsterndes Geheimnis.
Aber zwischen zwei Palästen
glüht herein die Abendsonne,
flammend wirft sie einen grellen
breiten Streifen auf die Gondeln.
In dem purpurroten Lichte
laute Stimmen, hell Gelächter,
überredende Gebärden
und das frevle Spiel der Augen.
Eine kleine, kurze Strecke
treibt das Leben leidenschaftlich
und erlischt im Schatten drüben
als ein unverständlich Murmeln.
(Conrad Ferdinand Meyer)