Ein Cello ertönt und Asaf Avidan singt: What’s taken over? When is enough? When the going gets lonely – the lonely get rough. Die Sonne über Kassel, noch klar und hell, geht langsam unter; sie blendet mich.
In den USA war der Sommer angebrochen. Vor uns lag die vorletzte Etappe unserer Reise. Endlich Sommer! Das wollten wir gebührend feiern. Wir standen bereits um fünf Uhr morgens auf, um das erste Licht am Trillium Lake zu genießen. Einem Stausee am Oberlauf des Mud Creek. Über dem Wasser schwebte Nebel und der Mount Hood spiegelte sich im See. Ich stand auf einem Stein und sah zu dem schneebedeckten Vulkan hoch. So nah und doch so fern. Es war kalt.
Unser Gepäck hatten wir im Hotel zurückgelassen. Wir fuhren nach Mount Hood Village zurück, packten alles zusammen und checkten aus. Die neu erworbenen Zwischenstecker für die US-Steckdosen hatte wir dieses Mal nicht vergessen. Das sollte uns nicht noch einmal passieren. Unser nächstes Reiseziel waren die Little Zigzag Falls. Zickzack, das war ein Fluss, und nach eben jenem Fluss war der Wasserfall benannt. Eine Wandertafel beschrieb den Wald, der vor uns lag, als enchanted – verzaubert. Es war neun Uhr, frisches Morgenlicht flutete zwischen den Bäumen hindurch. Irgendetwas lag in der Luft, was wir nicht beschreiben konnten. Wir fühlten uns leicht und losgelöst, ein wenig wie im Traum.
Der Weg zum Wasserfall war nicht weit. Ich setzte mich an den Bach und beobachtete eine Grauwasseramsel, die gegen den Strom flog, den
Wasserfall hinauf. Sie hüpfte auf einen Ast, um nach Nahrung zu spähen und stürzte sich dann ins Wasser, um entengleich ans Ufer zu gründeln. Sonnenstrahlen brachten die Nebelschwaden zum
Leuchten.
Noch heute sehe ich den Ort genau vor meinem inneren Auge. Ich blickte aufs Wasser, hatte indianische Gesänge im Ohr und verschmolz in diesem Moment mit dem Wald, dem Bach, dem Wasser, dem Leuchten. Alles war eins und ich hatte dazugehört.
Wir arbeiteten uns einen steilen Hang neben dem Wasserfall hoch und folgten dem Bachlauf, bis uns ein umgestürzter Baumstamm den Weg versperrte. Wir kletterten über modrig riechende Bäume, krochen darunter hindurch, immer an der Wand neben uns Halt suchend – war es Erde oder Fels? Ich weiß es nicht mehr. Wir wollten nicht ins Wasser fallen und kehrten schließlich um, weil der Weg sich im Nirgendwo verlor.
Wir fuhren nach Forks im Clallam County. Eben jenes Forks, in dem die einst so beliebte, berühmte, heute meist nur noch belächelte Twilight Saga spielte. Ahnungslos hatten wir dort ein Quartier gebucht – erst viel später kam mir der Name seltsam bekannt vor.
Fünf Stunden waren wir unterwegs gewesen, überquerten den Columbia River, hinter dem der Mount Hood noch ein letztes Mal für uns aufragte. Washington hatte uns wieder! Wir erreichten den Mount Rainier im Pierce County. Mit 4392 Metern der höchste Berg der Kaskadenkette und höchster Berg des Staates Washington.
Und dann sahen wir das Meer. Silbern und unendlich weit, die Küste von dichten, tiefgrünen Regenwäldern gesäumt.
Unser Motel war eine angenehme Überraschung. Freundliche Menschen nahmen uns in Empfang und überreichten uns den Schlüssel zu einem hübschen, kleinen Zimmer. Wir suchten das Info-Center, in der Hoffnung, ein paar nützliche Informationen zu erhalten. Leider war es schon geschlossen. Ein dort angebrachtes Schild erheiterte mich: Entering Forks. Population: 3175. Vampires: 8,5.
Auch ohne Karte fanden wir zum Rialto Beach, gleich bei La Push im Reservat des Stammes der Quileute. Dort, wo die Werwölfe wohnen.
Der Pazifik. Soweit das Auge reichte. Einen Strand wie diesen hatte ich noch nicht gesehen: wilder Wellengang, leichter Nebel, der über dem Meer hing, die gigantischen Treibholzstämme am Ufer, der Küstenwald, der sich fast bis an den Strand drängt, riesige Wurzeln, und die markanten Gesteinsinseln, bekannt als Seastacks, die nicht weit vom Festland entfernt, wie von Riesen ins Meer gewürfelt dalagen. Ein Weißkopfseeadler zog seine Kreise über uns. Wir warteten auf den Sonnenuntergang. Und er kam.
Am nächsten Tag fuhren wir zum Hoh Regenwald im Olympic Nationalpark. Leider waren wir nicht die einzigen Touristen. Auf dem Weg dorthin lief uns ein exotisches Huhn vor die Linse, das bei der Straßenüberquerung sein Küken verloren hatte. Eine Tragödie! Immer wieder versuchte die Mutter zurück zu ihrem Nachwuchs zu rennen, doch die viel befahrene Straße ließ es nicht zu.
Eine Verkehrslücke ausnutzend schaffte sie es endlich. Halleluja!
Der Hoh Urwald barg riesige hohe Bäume, bewachsen mit Flechten, großen Farnen – und dann die Vögel! Dazwischen immer wieder Naturschauspiele.
Im Info-Center ergatterte ich ein Buch über Indianerlegenden am Nordwest-Pazifik.
A. und ich liefen barfuß über den grauschwarzen Sand des Ruby Beach, während Adler über uns flogen. Es war ein schöner Tag. Einfach im Sand sitzen und die Sonne genießen. Zumindest ich machte das, während S. und A. eifrig fotografierten.
An den Stränden mussten wir uns nach den Gezeiten richten. Wir hatten vor, auf eine der nahegelegenen Inseln zu laufen, um Seeanemonen und Seesterne zu finden. Das war nur bei Ebbe möglich. Leider hatten wir keinen Gezeitenkalender gekauft. Endlich war es so weit: Das Meer zog sich zurück und wir machten uns auf den Weg. Und tatsächlich waren überall rosa und grüne Anemonen und Seesterne in allen Farben des Regenbogens zu sehen: lila, rot - naja, auch braun - orange … Wobei man nicht immer wirklich von Seesternen sprechen konnte. Die meisten sahen eher wie Seewürste aus, zwischen Steinspalten gequetscht, schleimig und spiegelglatt. Vorsichtig kletterten wir über die von Muscheln bewachsenen Steine, auf der Suche nach den schönsten Sternen und Anemonen. In den Felsspalten nisteten Vögel.
Die Stunden vergingen wie im Flug. Wir konnten gar nicht glauben, dass es schon fast acht war, als wir wieder im Auto saßen und zurück nach Forks fuhren. Vampire oder Werwölfe hatten wir zwar noch keine gesehen – doch glitschige Seesterne waren ja auch viel interessanter.
Auf Vampire sollten wir noch bald genug stoßen.
Am nächsten Morgen fuhren wir Richtung Lake Crescent, um dort ein Stück des Olympic Discovery Trails zu laufen. Am Wegesrand fanden wir die von uns noch nie zuvor gesehene Corallorhiza Mertensiana oder Korallenwurzorchidee. Ein wunderschönes Blümchen, das in den unterschiedlichsten Farben blüht. Auf dem Rückweg zu unserem Auto sahen wir auf einem engen Waldweg eine dunkle Limousine fast lautlos fahren. Der Fahrer war nicht erkennbar. Auf dem Beifahrersitz saß eine junge Frau. Hübsch und blond. Blass und edel. So stellte ich mir Vampire vor! Sollten sie nicht im Wald leben, ewig jung und schön sein und die teuersten Wagen fahren? Ich fasste mir an den Hals. Jetzt fehlten nur noch die Werwölfe auf meiner Checkliste.
Beim tiefblauen Lake Crescent tranken wir Kaffee mit Blick auf den See. Einem der tiefsten in Washington.
Abends fuhren wir zum Second Beach, einem Strand an der Pazifikküste. Wir wanderten ein kleines Stück durch den dichten Wald und sahen auf unserem Weg die Königin aller Nacktschnecken – mit einem fast durchsichtig weißen Kopf und einem schwarz-weiß gemusterten Körper. Sie hatte sogar einen schwarzen Kamm auf dem Rücken!
Dann der Strand! Felsen im Meer, Bäume auf den Felsen und zwischen den Steinen jede Menge Seesterne und Anemonen! Wir blieben bis zum
Sonnenuntergang, bis das rote Abendlicht die Wolken verfärbt hatte und durch ein Loch in einem Felsen fiel.
An unserem letzten Tag in Forks sahen wir den erhofften Werwolf.
Wir fuhren wieder zum Rialto Beach und liefen diesmal den Strand entlang, um das entfernt liegende Felsentor zu erkunden. Das rauschende Meer auf der einen Seite, der Wald auf der anderen. Ich hätte ewig den Strand entlanglaufen können.
Mittags testeten wir ein Café bei La Push und wurden von einem Werwolf höchstpersönlich bedient, einem jungen, feschen Ureinwohner. Die Vampir-Gefahren-Scheibe war auf Rot, der höchsten Warnstufe eingestellt. Bekanntlich verwandeln sich dann viele Quileute in Werwölfe … Leider konnten wir dieses Ereignis nicht beobachten, denn wir fuhren stattdessen zum Third Beach. Einem langen Sandstrand, Treibholz am Ufer, und zwei Hirsche, die vertraut den Strand entlangspazierten.
Wir wollten die Zeit in Forks am Second Beach beschließen. S. konnte einen jungen Weißkopfseeadler im Sand fotografieren. Jungvögel haben allerdings noch keine weißen Köpfe. Die weiße Färbung erhalten sie erst mit vier Jahren.
Ein letztes Mal warteten wir dort auf den Sonnenuntergang.
Mit Hilfe der Sonne wurde die Erde erschaffen,
und sie soll belassen werden, wie sie war.
Die Erde und ich, wir sind eins.
Das Land und wir leben nach den gleichen Gesetzen
und in vollkommener Harmonie.
Der Eine, der das Recht hat, über das Land zu verfügen,
ist der Eine, der es geschaffen hat.
(Hinmaton-Yalatkit, Häuptling der Wal-lam-wat-kain-Gruppe der Nez-Percé-Indianer aus dem Wallowa-Flusstal im nordöstlichen Oregon)