· 

Grants Pass

Heute scheint die Sonne in Kassel. Es ist Sommer – mitten im April. Ich sitze drinnen, tippe in meinen Laptop, trinke Tee. Das alles muss jetzt sein, wir können nur warten. Und zurückdenken.

Im Mai 2019 war es. Da brachen wir von The Dalles nach Grants Pass auf, dem südlichsten Punkt unserer USA-Reise. Grants Pass im Josephine County, im Süden Oregons. Die Fahrt zog sich lange hin. Beim Motel angekommen, war der Empfang so freundlich, dass die Strapazen der Fahrt rasch vergessen waren. Die Leute dort waren sofort begeistert, wenn sie hörten, dass wir aus Deutschland kamen – so auch die Dame am Empfang, die richtig euphorisch wurde beim Stichwort Germany. Insgesamt war ich angenehm überrascht, wie nett die Amerikaner waren. Egal ob in den Fastfoodketten oder an der Tankstelle. Freilich nicht alle, doch viele strahlten eine ganz aufrichtige Herzlichkeit und Gelassenheit aus.

Nach dem Einchecken machten wir uns baldigst wieder auf den Weg in die Wälder. Wir fanden eine völlig andere Landschaft als in The Dalles vor. Weniger tropisch, stellenweise sogar karg. In den Eichenwäldern wuchs die giftige Western Poison-Oak, die wir auf keinen Fall anfassen durften. Obwohl die Blätter der Poison-Oak denen der Eiche ähneln, handelt es sich um keine Pflanze aus der Familie der Eichen, sondern um eine Giftefeu-Art. Die Berührung erzeugt einen juckenden Hautausschlag. Orchideen fanden wir leider keine in Blüte, jedoch viele uns unbekannte Blumen.

Am nächsten Tag strahlende Sonne. Wir fuhren nach Selma, einem kleinen Örtchen, in dem das Siskiyou Field Institute liegt. An diesem Tag ging es um alles: nämlich um Cypripedium Californicum – den Frauenschuh, der weltweit nur hier im Siskiyou-Gebirge wächst. Und in Kalifornien. Wegen dieses Kleinods hatte S. diese Reise geplant.

Das Field Institute war leider nicht besetzt, weil es Wochenende war. Kleine Schwalben streckten ihre Köpfchen schreiend aus Nestern unter dem Dach des Institutsgebäudes; ihre Eltern flogen sichtlich gestresst mit kleinen Insekten heran und fütterten sie. Ein Helmspecht mit roter Haube saß ganz nah bei uns im Baum. Er sah so flauschig aus.

Wir liefen zu einem klaren Bach hinunter. Die Sonne warf glitzernde Sternchen auf das Wasser. Das Gebiet war nicht der geeignete Standort für unseren Frauenschuh. Also wieder hochgeklettert. Am Himmel kreisten niedrig Dutzende von Schwalben. Hoffentlich hielt das Wetter und es blieb schön. Wir fuhren weiter, vorbei an einem Truthahn, der aus dem hohen Gras zu uns herüberspähte, zur Eight Dollar Mountain Road. Diese Straße verläuft inmitten von Feuchtgebieten. Dort sah es schon besser aus. Am Wegrand standen die fleischfressenden Kannenpflanzen, längliche, grüne Trichter, mit roten Mustern – sie sind ein Indikator für den Californicum. An der Straßenseite spielte ein Hippie Banjo.

Vergeblich suchten wir das Biotop nach unserem Frauenschuh ab. Überall war der blau-grün schimmernde Serpentinit zu sehen, der den Californicum-Standort ausmachte. Schließlich gaben wir es auf und fuhren zurück. Unterwegs begegnete uns, neben der Straße, eine Gruppe Menschen, die nach Outdoor-Aktivisten aussahen, dazu ein Ranger! Ein Geschenk des Himmels! Es handelte sich um eine Botanik Exkursion! Freundlich und hilfsbereit erzählte uns auf unsere Frage hin eine junge, hilfsbereite Botanikerin von einer Gruppe Californicum, nicht weit von hier, die sie vor zwei Wochen aufgestöbert hatte. Fiebrig und in Goldgräberstimmung fuhren wir los,  erreichten den beschriebenen Standort, rutschten den Hang hinab. Sumpf, Schlamm und Kannenpflanzen – besser konnte es gar nicht kommen. Und wenig später konnte S. den kleinen, großen Schatz sichten. Büschelweise standen sie da mitten im Sumpf, nicht nur einer, nein, viele. Es waren bestimmt Hunderte von Blüten. Kleine, weiße Schühchen, wie für Elfen, mit einer gelben Krone, an langen, moosgrünen Stängeln. Sie dufteten nach Zitrone und Vanille. S. stolperte beim Fotografieren noch über eine brütende Ente, die dann leider panisch ihre Eier zurückließ. Deshalb beeilten wir uns, in der Hoffnung, dass sie schnell wieder zu ihrem Gelege zurückkehren würde.

Welch ein Glücksgefühl! Der Californicum ist die vielleicht schönste Orchidee, die ich je gesehen habe.

Auf der Rückfahrt fuhren wir wieder durch das Truthahn-Gebiet. Über die Straße tippelte eine Truthahn-Mutter, der viele winzige Truthahn-Küken folgten und die sehr laut piepsten.

Am nächsten Morgen frühstückten wir im McDonalds-Restaurant. Als wir wieder zu unserem Auto gingen, rannte uns ein großer, alter Mann mit langem Bart hinterher und fragte uns nach unseren coolen Hosen. Diese coolen Wanderhosen der Marke Lundhags hatten in diesem Urlaub schon mehrfach die Begeisterung der Amerikaner wecken können. Schade, dass wir Lundhags vor unserer Reise nicht verständigt hatten. Sicher hätten wir mit unserer Werbung unsere Reisekasse gut befüllen können!

Wir fuhren in Richtung Applegate. Bei feuchtem Wetter mitten hinein in die nebelverhangenen, urigen Wälder, in denen die Farne wieder dicht an dicht wuchsen. Dicke Eichhörnchen, mit aufgeplusterten Schwänzen rannten über die Straße. Ein feiner Honig-Duft hing in der Luft. Vergebens suchten wir im Dickicht nach dem Fasciculatum. Weiter ging es ins Illinois Valley, wo wir am Tag zuvor unseren Frauenschuh entdeckt hatten. Wie durch ein Wunder fanden wir heute auch den Eight Dollar Mountain Botanical Wayside Boardwalk Trail, den wir gestern immer wieder übersehen hatten. Ein wunderschöner Weg in das botanische Wunderland. Besonders ist mir die Spechthöhle in Erinnerung geblieben, die wir dort lange beobachteten. Ein kleines Loch in einem Baum, in das der Specht ein- und ausflog.

Wir freuten uns, dass die Sonne wieder hervorkam und unsere nassen Füße wärmte. Wir machten uns noch einmal zu unserem Frauenschuh-Standort auf, um weitere Pflänzchen zu finden oder von den prächtigen Büschen dort noch ein, zwei Fotos zu schießen. So schnell würden wir sicher nicht wieder hierherkommen. A. lief voraus und führte uns mit ihrer Orchideen-Spürnase hinunter zum Illinois-Fluss, über einen alten, morschen Baumstamm hinüber – und da standen sie überall, direkt am Ufer: die Stream Orchid, mit der wir alle nicht gerechnet hatten. Lila-gelbe Blüten, aufgefächert wie ein Stern, manchmal so, als wolle sie gleich abheben und losfliegen. S. machte sich glückselig ans Fotografieren und A. ging baden. Ich sammelte in der Zwischenzeit die schönsten blau schimmernden Serpentinit-Steine, die ich finden konnte.

Ich werde es nicht vergessen: das klare Wasser des Illinois, den blauen Himmel, die Wälder am anderen Ufer, den blauen Stein, und wie ich in der Sonne saß und einfach nur glücklich war.

 

 

Wir sind ein Teil der Erde,

und sie ist ein Teil von uns.

Die duftenden Blumen sind unsere Schwestern,

die Rehe, das Pferd, der große Adler sind unsere Brüder.

Die felsigen Höhen, die saftigen Wiesen, die Körperwärme des Ponys - und des Menschen -

sie alle gehören zur gleichen Familie.

 

(Chief See-at-la - Häuptling der Suquamish- und Duwamish-Indianer)