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Tiefenhöchstadt

Durch Tiefenhöchstadt fahren wir nur durch. Dann parken wir neben der Straße, überqueren sie und folgen einem noch halb gefrorenen Pfad aus Schlamm und Gras bis zu einem kleinen Wasserfall. Das Licht ist angenehm diffus und die Sonne bereits kräftig genug, um uns zu wärmen. Das Wasser ist klar, weiß, schimmernd läuft es den Hang hinab. Zwischen den kahlen Bäumen hindurch, eingerahmt von trockenem Laub. Wir steigen bergan, immer gegen den Strom, auf der Suche nach dem Ursprung der Quelle. Grün glänzender Efeu am Bachufer, leere Wasserbecken, über die wir steigen, lassen nur das Wasser erahnen. Vorbei an einem kleinen Häuschen, stehen wir schließlich vor einer grün bemoosten Felswand, an der das Wasser hinabrinnt. S. erzählt, dass hier früher ein reißender Wasserfall war. Doch das ist lange her. Umgestürzte Bäume liegen kreuz und quer. Wir überlegen uns, die Seite zu wechseln und jenseits der Wasserbecken weiter zu laufen, entscheiden uns aber doch dagegen. Stattdessen kämpfen wir uns den rutschigen Hang hoch, A. natürlich vorneweg. Man findet wenig Halt – Erde und Laub rutschen bergab, während wir nach oben wollen. Ich halte mich mit meinen Handschuhen an allem fest, das irgendwie Halt bieten könnte; balanciere von Stamm zu Stamm. Das ist es, was ich mag.

 

Die Aussicht von oben lohnt sich. Das Licht bricht sich zwischen den Bäumen, das Wasser windet sich durch grün leuchtende Moosinseln. Am Boden treiben schon Türkenbund und Haselwurz aus, das zumindest sagen A. und S. Leise spreche ich die Namen der Pflanzen immer wieder für mich nach, damit ich sie nicht vergesse.

 

Es geht wieder bergab. Über einen glitschigen, quer liegenden Baumstamm hinüber, auf dem ich fast wie auf einer Rutsche hinabsause, und dann auf der anderen Seite des Wasserfalls wieder herunter. Wir verlassen den lichten Wald, laufen über eine offene Wiese. S. macht noch ein Foto von einer Wasserstufe, während A. mich auf die großen Linden aufmerksam macht. Ich sehe mir die Bäume an. Efeuranken schlängeln sich elegant an glatten Stämmen bis hoch in den Himmel. Neben dem Häuschen am Bach ist so etwas wie ein Grillplatz zu erkennen. Eine runde Steinformation im Boden diente wohl als Feuerstelle, aber ich denke an zugemauerte Brunnen. Manche Bäume sind knorrig und knotenreich.

 

Wir gehen die Straße entlang, um noch einen Blick auf den Wasserfall weiter unten im Tal zu erhaschen. Der Wald leuchtet bunt. Grün von dichtem Efeu, dazwischen gelbe Haselsträucher und weiße Waldreben.

 

Auf der anderen Seite des Tals erwartet uns eine sumpfige Wiese, durch die wir mit schmatzenden Schuhen waten. Aus einer Felswand heraus gähnen uns drei dunkle Kellerlöcher an. Der Weg führt einen kleinen, steilen Hang hinauf, hinein in den Wald. Hier werden die Farben erdiger. Zwischen den Bäumen liegen moosbewachsene Steine und in der Ferne schimmert es wie Nebel durch die Waldschneise. Erst auf den zweiten Blick ist eine weiße Felswand zu erkennen. Ich atme die frische Luft tief ein und strecke meinen Rücken durch.

 

Bei einer kleinen Hütte machen wir kurz Rast. Am Himmel fliegen bunte Heißluftballons. Wir gehen weiter, dem Weg folgend, durch keltisch anmutendes Terrain. Überall das rote Laub, die glatten Stämme, dicht an dicht, die Steine und Felsen, vom Moos erobert, irgendwie schief, so als könne man hier noch die Gewalten aus längst vergessenen Zeiten beobachten. Ein Meer, vielleicht ein Meer. Immer wieder schauen wir durch das Fernglas zu den Felsenwänden. Hier könnte man doch einen Uhu sehen. Es wäre so schön, einen zu sehen. Schön, doch unwahrscheinlich.

 

Wir kehren um, wieder vorbei an der Hütte, wo schon gelbe Winterlinge blühen, vorbei an einem schwarzen Kruzifix, im Stein. Eigentlich wollen wir zum Auto zurück, doch unser Entdecker-Drang ist zu groß. Wir gehen doch noch einmal abseits des Weges, durch ein Feld von Immergrün. Immergrün blüht immer blau, sagt A. 

 

Wir wollen die große, weiße Felswand erkunden. Wir hoffen dort auf einen Uhu zu stoßen. Nicht weit davor bleiben wir stehen. Eine Frau in blau kommt auf uns zugewandert und fragt, ob wir wissen, was der alte, morsche Holzwegweiser an dem Baum vor uns zu bedeuten habe. Er trägt ein Kreuz und weist auf die Felswand. Wir wissen es nicht. Sie bedankt sich und raschelt durchs Laub davon.

 

Da entdecken wir die Figuren nahe der Felswand. In Holz geschnitzt, vermutlich Maria. Weiter links glauben wir ein Hexengesicht zu sehen. Bei näherem Betrachten durch das Fernglas erkennen wir, dass es wohl Jesus ist. Er trägt einen Balken.

 

Ein Kreuzweg?

 

Wir gehen den Pfad entlang der Felswand, immer wieder schwarze Nischen mit dem Fernglas absuchend. Aus einer dieser Nischen heraus beobachtet er uns wahrscheinlich, der Uhu, sagt S.

 

Der Weg führt immer näher an das Felsmassiv, schließlich macht er eine Kurve.

 

Ich kann mich gar nicht abwenden von der Natur, die sich hier ausbreitet. Ein Felsenlabyrinth vor uns, durch das der Weg führen würde, alles leuchtet grün.

 

Hier bin ich noch nicht fertig, denke ich, und A. ist sowieso nie fertig. Wir arbeiten uns stattdessen den Hang hoch, direkt hinein in die Fels-Formation. Ein Ort, abgeschirmt von den Steinwänden, mitten im Wald.

 

Schweren Herzens ziehen wir weiter, nun ganz dicht am Stein entlang und gehen schließlich den Weg zurück, den wir gekommen sind. Durch das Feld aus Immergrün. Wir folgen dem Bachlauf, der sich durch die Schlucht windet, wie ein silberner Drache.

 

Bei uns sind die Drachen schwarz, sage ich.

 

Ein Pfad führt von oben hinab zu den Kellerlöchern. Dort kann man den Übergang vom Sandstein zum Kalk sehen. Dazwischen fließt das Wasser hindurch. Eine alte, hölzerne Brücke führt uns über den Bach.

 

Diesmal wollen wir nicht entlang der Straße zurück zum Auto laufen. Wir schlagen uns durch den Wald, Wildwechseln folgend, vorbei an alten Obstbäumen und einem Orchideen-Biotop, das heute keines mehr ist.

 

Auf dem Parkplatz angekommen, merken wir, dass unsere Schuhe schwer vom Schlamm sind, der an den Sohlen hängen geblieben ist. S. wäscht seine Stiefel im Bach. A. und ich stampfen den Schmutz ab wie kleine Kinder. Vor unserem parkt ein weiteres Auto, in dem eine Matratze liegt. Hier schläft sicher die blaue Frau, die uns auf dem Weg begegnet war.

 

Wir fahren nach Hause, freuen uns auf den Kaffee, zufrieden, dass wir heute nicht in einem Auto übernachten müssen.

 

 

Nur ein paar Birken, Einsamkeit und Leere,

Ein Sumpf, geheimnisvoll, ein Fleckchen Haide,

Der Kiebitz gibt mir im April die Ehre,

Im Winter Raben, Rauch und Reifgeschmeide,

Und niemals Menschen, keine Grande Misère.

Nichts, nichts von unserm ewigen Seelenleide.

Ich bin allein. Was einzig ich begehre?

Grast ihr für euch, und mir lasst meine Weide.

 

(Detlev von Liliencron)