An einem kalten Dezembertag treffe ich M. vor dem Freibad in Hollfeld. Das Wasser im Becken ist eine grüne Suppe, die nicht gerade verlockend aussieht. Egal – wir wollen ja nicht baden, sondern spazieren gehen. Hier an den öden Parkplatz schließt sich das Kainachtal an, mit blattlosen Bäumen und ohne Schnee. Ich habe vergessen, wann wir zuletzt einen Dezember mit Schnee hatten. Es muss lange her sein. Kalt ist es. Meine Nase läuft und ich habe wie immer ein Taschentuch vergessen. Außerdem mein Stirnband. Zum Glück werden wenigstens meine Ohren durch meine Haare warmgehalten.
Wir lassen die Autos stehen und betreten den Pfad, der uns ein wenig aus Hollfeld hinausführen soll. Wir folgen dem Halbmondkreis des Weges; wie selbstverständlich dem allzu vertrauten Wissen, wo er uns hinführen wird, Gehorsam schenkend. Rechts von uns der belaubte Hang, der uns vom Lärm der Außenwelt abschirmt. Links fließt gemächlich das Flüsschen Kainach. Wir erzählen von uns, wo es uns hin verschlagen hat, was wir eigentlich dort tun, und ob es uns damit gut geht. Fragen, die man sich wohl jeden Tag immer wieder neu stellen sollte und es doch meist vergisst.
Dann bricht die Sonne hervor. Das Tal wirkt fast frühlingshaft – ein heller Strahl erleuchtet die stille Oberfläche eines Teiches, der ein wenig verschwommen die Konturen des Waldes um ihn widerspiegelt. Die Wolken sind weiß. Der Himmel präsentiert sich uns heute in einem Hellblau, fast schon kitschig. Wir erklimmen kleine Hügel, immer dem monotonen Weg folgend, und tippeln sie wieder hinab. Atmen die frische Luft. Am Ende des Tals bleiben wir stehen. Von hier ist es nicht mehr weit bis zu dem Örtchen Kainach. Da wollen wir nicht hin. Links führt eine kleine Brücke übers Wasser. Das Kainachtal ist ein sogenanntes Sohlental, mit steilen Talrändern aus hartem Gestein und einer ebenen Talsohle. Der Bach fließt ruhig hindurch. Die Kainach hier wurde nicht begradigt und ist damit ganz naturnah.
Wir überqueren das Brückchen, vorbei an einem eingezäunten Kruzifix und einer kleinen Wassermühle. Ein Mann mit Hund passiert uns. Wir grüßen. Überall liegen die großen Heuballen herum, schon mit Moos bewachsen. Irgendwie sehen sie ranzig aus. Ich schniefe vor mich hin, während unsere Erzählungen immer weiter zurück in die Vergangenheit wandern. Allmählich schließen wir die Runde. Es geht nun etwas steiler bergan. Efeu klettert an den Stämmen hoch, die sich alle gen Tal neigen, von einer unsichtbaren Last gezogen. Ich erinnere mich plötzlich, dass hier im Frühsommer Orchideen blühten. Zu unserer Linken erscheint bald wieder ein Teich, der das filigrane Gespinst der Äste über sich malt.
Wir verlassen das Kainachtal, hinauf, hinauf, und landen bei den sympathischen Ziegen, die uns erstaunt anstarren. Ich habe Lust, sie zu streicheln, doch andere Leute füttern sie schon und wir weichen aus. Vorbei am Kindergarten und wieder hinab, hinab. Wir blicken von oben aufs Freibad hinunter. Hier war ich nie gern und auch heute kann ich den Reiz von Freibädern nicht richtig nachvollziehen.
Am Parkplatz wollen wir uns gar nicht trennen. Wir stehen vor unseren Autos. Unser Gespräch ist nicht beendet. Ich kraxle noch einmal den Hang hinauf und schnäuze mich in ein paar Blätter, die ich dort finde. Erleichterung! Wir müssen uns besuchen, wirklich! Und dann erkundigen wir uns noch nach J. Wer hat sie zuletzt gesehen? Wann? Wir wollen uns, wir wollen unsere Erinnerungen festhalten.
Ich erinnere mich an dieses Früher, als sich hier das ganze Leben abgespielt hat. Alle Freunde, die Familie, die Schule, diese anstrengende Ansammlung heranwachsender Menschen, die die eigene Unsicherheit durch Eitelkeit und Ausgrenzungsmechanismen zu überspielen versuchten. Vergebens. Ich erinnere mich an die Spaziergänge, die ich früher durchs Kainachtal gemacht hatte, schulschwänzend, weil mir jede freie Minute mit meinen Freunden wichtiger erschien als der Unterricht. Damals hatte ich ein schlechtes Gewissen. Heute weiß ich, dass es richtig war.
Eisvögel könnte es im Kainachtal auch geben. Wir haben keinen gesehen.
Ich steige in mein Auto und fahre fort.
Ganz still, zuweilen wie ein Traum
klingt in dir auf ein fernes Lied.
Du weißt nicht, wie es plötzlich kam,
du weißt nicht, was es von dir will.
Und wie ein Traum ganz leis und still
Verklingt es wieder, wie es kam.
Wie plötzlich mitten im Gewühl
der Straße, mitten oft im Winter
ein Hauch von Rosen dich umweht.
Oder dann und wann ein Bild
aus längst vergessenen Kindertagen
mit fragenden Augen vor dir steht.
Ganz still und leise, wie ein Traum,
du weißt nicht, wie es plötzlich kam,
du weißt nicht, was es von dir will,
und wie ein Traum ganz leis und still
verblasst es wieder, wie es kam.
(Cäsar Otto Hugo Flaischlen)