Am letzten Novembertag des Jahres stehe ich mit L. und K. ganz oben bei der Pfarrkirche in Krögelstein, vormals Burgkapelle, inmitten der Fränkischen Schweiz. L. und ich lugen über die Friedhofsmauer und schauen uns die Gräber an. Danach inspizieren wir das, was wohl eine Sternwarte sein muss. In Krögelstein? Vielleicht wird hier ja bald Astrophysik unterrichtet, fantasieren wir. Es ist ein weißer, großer Zylinder, mit halbrunder Kuppel, der nicht sehr weit in den Himmel reicht. Hier oben sind die Sterne sicher so nah, dass das wohl keine Rolle spielt. Doch wahrscheinlich wurde der Standort wegen der geringen Lichtverschmutzung gewählt. Wir blicken auf das Dorf hinunter. Noch scheint die Sonne, immer wieder mal, und wärmt unsere Gesichter. Die Häuser liegen eng an eng im Tal und die Felsen ragen schroff darüber auf. Die Wolken treiben wie Watte vor einem blauen Hintergrund, die Silhouetten karger Bäume drängen sich in unser Sichtfeld.
Wir gehen durch ein steiles Gässchen, das uns hinunter ins Dorf führt, vorbei an alten Häusern mit kleinen Fenstern. Da kommt bestimmt wenig Licht durch, denke ich. Es ist kalt. Wir wollen ins obere Kaiserbachtal. Da wir nicht an der Straße entlang laufen möchten, versuchen wir es durch die Siedlung. Hinter der nächsten Ecke wartet schon die erste (und einzige, wie wir später feststellen) Gefahr, das Biest an der Schwelle … Ein Schäferhund kläfft uns enthusiastisch an und wir fürchten schon, er könne über seinen mickrigen Zaun springen, um uns in die Waden zu beißen. L. rückt näher zu mir. K. lacht nur. Tapfer schaffen wir es, uns an dem Tier vorbei zu stehlen, um dann festzustellen, dass wir von hier aus nicht ins Kaiserbachtal gelangen können. Also trauen wir uns wieder am bellenden Hund vorbei, und folgen doch der Straße.
Während wir noch darüber philosophieren, dass Hunde von Natur aus eine Aufgabe brauchen, die wenigsten Hunde in unserer Gesellschaft eine wirkliche Aufgabe haben und dieser sich den Posten eines Wachhundes wohl selbst ausgesucht hat, erreichen wir das Kaiserbachtal. Die Wiese ist sattgrün, ein wenig Laub liegt darauf. Zu beiden Seiten ist das Tal vom dunklen Wald begrenzt. Im Gegenlicht wirkt er fast schwarz. Der Himmel färbt sich sanft gelb. Als wir durch das feuchte Gras laufen, spüre ich, dass meine Stiefel leider nicht ganz wasserfest sind. Anfangs folgen wir einem Weg, der vorbei an einer kleinen Höhle in den Felsen führt. Dann ist er so gut wie verschwunden und wir gehen querfeldein. Kein Vogel ist heute zu hören. Es ist so still. Ich mag das. Die Stille schult die Sinne für all das, was um uns herum ist. Der Lauf der Wiesenfläche durchs Tal wie ein grüner Fluss, die Form der Bäume zu unserer Seite. Immer wieder Felsen, auf denen oben die Ausläufer des Waldes zu uns herunter blicken. Zu meiner Rechten sehe ich irgendwann eine runde Steinansammlung, mit Moos überwachsen, einen Wall aus totem Gestrüpp um sich ziehend. Hier könnten Hexen tanzen, denke ich mir.
Ganz langsam bricht die Dämmerung herein. Der Himmel wirkt fast veilchenfarben, nur blasser. Auf einem Fels wächst ein Baum ganz schief in östlicher Richtung. Das Tal erstreckt sich noch weiter, aber wir beschließen, hier einen Weg zurück zu suchen. Unser Ziel ist Wonsees. Ich schlage vor, durchs Unterholz zu ziehen, es schaut nicht so steil aus. L. und K. sind davon nicht begeistert. K. verschwindet hinter der nächsten Biegung, in der Hoffnung, in der Wildnis einen Weg zu finden. L. und ich bleiben stehen, wo wir sind, lauschen auf die Stille, schauen auf den dunklen Wald und spüren, wie die Kälte langsam an uns hochkriecht. „Hinter uns, das könnte ein Weg sein“, sage ich zu L. Mittlerweile kommt K. unverrichteter Dinge zurück. Gemeinsam gehen wir vorsichtig und immer wieder Ausschau haltend, dem vermuteten Pfad nach, der uns in den Wald führt. Wir laufen über vertrocknete, blassgelbe Halme, die wie goldene Wellen anmuten. Kaum, dass die Baumkronen sich über uns schließen, ist es dunkel. Der Wald ist nun ganz anders, fremd und mystisch. Die schlanken Stämme der Bäume ragen gerade in die Höhe; dunkel, auf einem ebenen Moosteppich wachsend. Ein wenig Licht dringt aus der Richtung, aus der wir kamen, sonst wäre es stockfinster. Die diffuse Stimmung wirkt wie Nebel, dabei ist es nur Dunst. Ich kann mich kaum von dem Anblick lösen. Wir laufen bergauf in die Dunkelheit. Dann lichtet sich der Wald. Durch ein Meer aus dünnen, kahlen Astbäumchen laufen wir über den Laubteppich bis zum Rand eines Feldes. Die Sonne ist schon untergegangen, davon kündet noch der gelbe Schimmer über der schwarzen Silhouette des Waldes in der Ferne. Der Mond steht als silberne Sichel am Himmel. Ein Schuss ertönt und hallt nach.
Wir schlagen uns zu einem Jägerhäuschen durch. Von dort verläuft ein Feldweg nach Wonsees. Während wir ihm folgen, zieht eine dunkle Wolkenfront über uns hinweg, die letzten Stellen hellen Himmels verdüsternd. Es ist nicht mehr weit.
Des Vogels Aug' verschleiert sich;
Er fällt in Schlaf auf seinem Baum.
Der Wald verwandelt sich in Traum
Und wird so tief und feierlich.
Der Mond, der stille, steigt empor.
Die kleine Kehle zwitschert matt.
Im ganzen Walde schwingt kein Blatt.
Fern läutet, fern, der Sterne Chor.
(Christian Morgenstern)