Hier im Lesesaal der Universitätsbibliothek von Heidelberg ist die Welt still und warm. Alles ist weiß, nur die Lampen an der Decke glühen gelb. Durch das Fenster sehe ich den blauen Himmel. Graue Wolkenfetzen ziehen gemächlich vorbei. Die bunten Herbstwaldhügel sind so nah an mir. Ich blicke auf einen Kirchturm mit schwarzem Dach und einer grünen Uhrentafel, die Zeiger golden. Wir sind am Neckar entlang hier her spaziert. Der Regenschirm bot uns Schutz gegen das feine Nieseln und am Ufer waren Scharen von Gänsen zu sehen. Die Stadt ist alt und rot.
Während ich vom Hoymann lese, der in Wahrheit der Teufel ist, bricht das Licht der Abendsonne hervor. Es taucht die Baumspitzen in leuchtendes gelb und orange, das dunkle Grün schimmert darunter wie ein vergangener Traum, vom Purpur durchsetzt.
Vor einem Faksimile des Codex Manesse, der umfangreichsten Sammlung mittelhochdeutscher Lied- und Spruchdichtung, warte ich auf N. Zusammen gehen wir asiatische Zutaten für unser Abendmahl einkaufen und machen es uns gemütlich.
Der nächste Tag bringt erst einmal Regen.
Dann kommt die Sonne. Wir wollen den Heiligenberg erklimmen. N. führt mich durchs Neuenheimer Feld vorbei an einer Eisdiele, wo ich eine Kugel Vanilleeis verspeise, und, mit meiner Süßigkeit bewaffnet, ein märchenhaftes Gässchen betrete, das bergauf führt. Links blicken wir auf das sandsteinige Heidelberg, rechts von uns erhebt sich ein Mäuerchen, mit leuchtendem Moos bewachsen und von Efeu gekrönt. Ich staune und bekleckere dabei meinen schwarzen Mantel mit Eis. Ich habe nichts dabei außer einer Packung Taschentücher, meinem Portemonnaie, meinem Handy und einem Lippenstift. Alles in meinen Manteltaschen verstaut. Mehr brauche ich auch nicht. N. trägt einen großen Rucksack, in dem wir den Proviant für unseren Spaziergang und den Abend danach transportieren: Kekse und Wein. Das Laub glänzt feucht vor unseren Füßen und es wird schlammig. Die Äste, mit noch grünen Blättern, hängen dicht über unseren Köpfen. Sie bilden einen herbstlichen Tunnel für uns, durch den wir erwartungsvoll hindurchschleichen.
Der Wald zieht uns in seinen Bann. Ich fotografiere einen Baumstamm, dessen grüne Ringe mich schier hypnotisieren. Dazwischen die gefallenen Blätter und ein paar Pilze. Schwarz und dünn heben sich die schlanken Stämme vor dem leuchtend grünen Blätterdach ab, das überall um uns ist und uns von der Außenwelt abschirmt. Gestürzte Bäume liegen quer auf rotem Laub, vom Moos befallen. Wir finden Esskastanien. Sie ruhen prall und glänzend in ihrer stacheligen Schale. N. hebt eine auf und zeigt sie mir. Drei Maroni für Aschenbrödel, sage ich. Die kleinen Wunderlinge sehen aus wie Seeigel.
Wir machen uns ans Sammeln. Die Stacheln pieksen uns in die Finger, doch wir lassen nicht locker. Die schönsten sind noch in ihrer Schale verborgen. Viele hübsche liegen auch unter den Blättern oder halb in der Erde vergraben, neben Eicheln, getarnt. Die Elstern schreien, und ein Raubvogel ruft empört. Sie sehen uns als Störenfriede, die wir nicht sein wollen. Wir laufen weiter und beobachten einen Specht, der immer wieder energisch an einen Baum klopft. Vielleicht richtet er sich mit seiner Schmiede bereits die Werkbank für einen Wintervorrat an Eicheln und Nüssen her.
Es geht weiter bergauf, an der Straße entlang. Ein Schild behauptet, dass hier eine vorgeschichtliche befestigte Siedlung gewesen sei und dies wäre der äußere Ringwall, angelegt von den Kelten gegen die vordrängenden Germanen etwa 400 Jahre vor Christus. Wir bleiben kurz stehen, um den Blick in den Wald zu genießen. Er ist magisch. Die bleiche Sonne stiehlt sich durch die Baumkronen hindurch und lässt die Natur in den verschiedensten Grüntönen leuchten. Alles hell und licht, doch nicht grell.
Zwischendurch essen wir immer wieder Kekse. Ich knabbere erst die Schokolade außen ab. Das steigert die Vorfreude. Und dann geht es wieder bergab. Die Seitentasche unseres Rucksacks wird immer schwerer durch die Maroni, die wir sammeln. Wir bewundern eine hochgewachsene, wunderschöne Buche. Man müsste immer nur wandern.
Bald erreichen wir Handschuhsheim. Dort stehen Häuschen mitten im Wald – wie schön wäre es hier zu wohnen! Weiter Richtung Zivilisation werden die Villen prächtiger und die Gärten mystischer, von alten Mauern eingeschlossen, in denen Apfelbäume wachsen. Wir passieren die rote Tiefburg aus dem 12./13. Jahrhundert. 1770 fand man in der Ruine einen eingemauerten Ritter. So steht es auf einer Tafel. Armer Ritter.
Für den Rückweg könnten wir eigentlich die Öffentlichen nehmen, aber wir wollen nicht. Wir laufen zurück zu N. übers Handschuhsheimer Feld, vorbei an Kompostbergen, wo noch Tomaten schimmern und etwas, das nach Knoblauch aussieht. Sollen wir? Aber nein, lieber nicht. Mädchen joggen an uns vorbei, ihre Beine schlackern ungelenk nach außen. Krähen stecken ihre schwarzen Schnäbel in die Äcker und hüpfen dann geschäftig weiter. Der Himmel färbt sich rosa. Unsere Hände sind schon ganz kalt. Wir freuen uns auf eine warme Wohnung. Vorbei an den Plantagen der Weihnachtsbäume. N. überlegt, ob sie sich einen ganz kleinen holen kann, und ich schlage vor, dass sie doch einen der winzigen mit einer Taschenmessersäge fällen könnte . Gute Idee.
Zuhause dann der letzte Kaffee. Herrlich. Danach putzen wir die Esskastanien und sortieren die mit den Löchern aus. Leider übersehen wir einige. Beim Knacken der Schale entdecken wir dann die von uns gekochten Maden im Fruchtfleisch. Die Maroni schmecken ganz unterschiedlich, manche süß, manche speckig, wie N. sagt. Ich frage, ob sie einen Wurm gegessen habe und was dagegen spräche.
Am nächsten Morgen begleitet N. mich zum Bahnhof. Der Nebel schläft über der ganzen Stadt. Wir überqueren den Neckar über eine Wehrbrücke. Es sieht wie das Ende der Welt aus. Die Brücke verschwindet vor uns im Nirgendwo, eine einsame Silhouette schält sich schemenhaft heraus. Am Ufer sitzen still die Möwen und ich frage mich, was sie hier machen. Abseits ein einsamer Schwan. Der Neckar rauscht. Irgendwie traurig, wie jeder Abschied.
Ich will bald wiederkommen. Heidelberg war schön, und das Reisen ist schön. Und von Kassel ist es auch gar nicht weit. Dann werde ich mich wieder in die Bibliothek setzen und vor dem Codex Manesse stehen und Studenten beobachten und einfach ein wenig untergehen.
Lass uns Zeit nehmen
füreinander.
Lass uns die Böschung
der Vergänglichkeit
mit unvergesslichen Stunden
und Augenblicken befestigen,
gegen den Strom der Zeit
anschwimmen.
Lass uns verweilen
am Ufer des Augenblicks,
bis unsere Sehnsucht
groß und stark
genug ist,
dass sie
den langen Weg
ins Meer der Geborgenheit
ohne unterzugehen
schaffen kann.
(Ernst Ferstl)