Genau wie Jean Paul, der wandernde Dichter, starten wir in Wonsees bei der Pferdekoppel. L. riecht an einer Rose und findet, sie dufte zitronig. Es ist ein goldener Herbsttag, das Laub liegt schwer auf den Wegen, die sich durchs Wacholdertal winden. Die Blätter rascheln unter unseren Füßen. Dies sind wirklich alte Wege, und wir spazieren langsam durch die warme Luft. Ich kann immer nur Klimawandel denken. Es ist schließlich bereits Oktober. Marienkäfer fliegen herum, und wir kämpfen uns durch zähe Spinnwebfäden, die ganz fein vor unseren Augen schimmern und sich in unseren Haaren verfangen. Bei einer kleinen Hütte, die verdächtig nach einem Hexenhaus aussieht, dreht M. eine kleine Erkundungsrunde und L. und ich sinnieren über alte Zeiten. Nicht weit von hier hatte Jean Paul gleich ein paar kluge Gedanken: „Man kann Liebe und Freundschaft nur so lange entbehren, als man sie noch nicht genossen hat.“ Wie wahr! Während wir gehen, fühle ich mich sehr befreit. Als sei es Sonntag, dabei ist es Montag. Der Wald um uns leuchtet grün und gelb, der klare Himmel blitzt durch. Eine Gruppe Reiter passiert uns. Wir weichen auf die Böschung aus und ich zähle die Pferde. Es sind neun: schwarze, graue und braune, große und kleine. Auf dem vordersten Tier sitzen zwei Kinder, das kleinere klammert sich von hinten um die Taille des größeren und sieht mich unverwandt an. Wir würden auch gerne so idyllisch durch die Fränkische Schweiz traben, aber vielleicht ist es besser so. Arme Schlucker, die wir sind, gehen zu Fuß – wie auch Jean Paul, der nach einem missglückten Reitversuch derart ausgelacht wurde, dass er nur noch wandern ging.
Die Landschaft öffnet sich vor uns und wir gelangen ins Freie. Der Himmel so blau, die Wiese grün, der Wald in der Ferne dunkel. Kohlweißlinge heißen die kleinen weißen Schmetterlinge, die um unsere Nasen tanzen, mit den schwarzen Tupfern auf den feinen Flügeln. Im Gras wächst der Klatschmohn, knallig rote Flecken im satten Grün. Vor einem Acker bleiben wir stehen. Von hier sehen wir schon die Hohenzollernburg Zwernitz von Sanspareil. Eine der ältesten Burgen Ostfrankens, die im Jahr 1156 als Stammsitz der Walpoten erstmals urkundlich erwähnt wurde. An den Wegrändern stehen skurrile weiße Disteln. Ich finde sie verrückt. Hagebutten hängen überall in dornigen Hecken. Dazu die alte Burganlage, die immer näher kommt. Auf den Weideflächen vor dem Dorf grasen Pferde, ganz frei, ohne Zaun oder Gatter.
Die Straße in Sanspareil führt uns ganz nah an der Burg vorbei. Sie thront auf einem Dolomitfels und ragt über einer ordentlich gestutzten Hecke hervor. Davor stehen Apfelbäume – und niemand hat sie bisher gerüttelt und geschüttelt. L. und ich übernehmen das. Die Äpfel sind süß bis ganz leicht angenehm säuerlich und erfrischend. Meiner ist so groß, dass ich ihn gar nicht ganz schaffe, bis wir das Pferde-, Pony- und Eselparadies Sanspareil erreicht haben. Dort essen wir natürlich Kuchen! Ich kröne den Käsekuchen zum allerbesten von allen. Vollgestopft wollen wir uns anschließend in den Felsengarten kugeln, da stolpern wir beim Verlassen des Paradieses in zwei Feuerwehrmänner. Diese passen nun so gar nicht hier rein. Wir schauen sie verdutzt an und sie schauen verdutzt zurück. Dann gehen wir irritiert weiter, abgelenkt von den Männern, die hinter uns beginnen, den Wald abzusuchen. Es wirkt dramatisch und irgendwie unwirklich.
Vor dem Felsengarten lese ich mir wieder die interessanten Informationen über Jean Paul durch. Auffallend finde ich, was Nietzsche 1880 über ihn zu sagen wusste: „Er war ein bequemer guter Mensch, und doch ein Verhängnis – ein Verhängnis im Schlafrock.“ Ob ich auch ein Verhängnis im Schlafrock bin?
Der Felsengarten, der in den Jahren 1744 bis 1748 gebaut wurde, soll seinen Namen einer französischen Hofdame verdanken, die entzückt ausgerufen haben soll: „Ah, c’est sans pareil!“ – „Das ist ohnegleichen!“ Der von Markgräfin Wilhelmine von Bayreuth angelegte barocke Felsengarten war ein Ort der Muße und der Zerstreuung. Vor dem alten Küchenbau sind ordentlich Blumen gepflanzt und nun stehen wir vor dem Morgenländischen Bau, der als Lustschlösschen diente. Wir umrunden das märchenhafte Gebäude. Von hinten sehen wir in den Innenhof, wo eine Buche wächst.
Nun endlich in den Felsengarten! Alles ist so anders, als wir es erwartet haben. Wir finden das immense Aufgebot an Polizei, Feuerwehr, bayerischer Bergwacht und Sanitätern beängstigend. Keuchend brechen die Uniformierten immer wieder vor uns aus dem Gebüsch und suchen die verschollene Frau B. Es dauert nicht lange, da schnüffeln sogar Spürhunde an uns vorbei und Hubschrauber drehen über uns ihre Kreise. Wir kommen am gespaltenen Fels vorbei. Der Boden leuchtet rot vom Herbstlaub. Die schlanken Bäume werfen lange, scharfe Schatten. Ein Stück weiter weicht das Laub dichtem Efeu. Wir haben die Realität verlassen, denke ich, als wir den Pansitz passieren und schließlich den Belvederefelsen erklimmen. Auch von hier oben sehen wir Frau B. nicht. Dafür aber die Grotte der Calypso, das Ruinentheater! Wir steigen wieder hinab und sehen uns die Anlage von unten an. Die kuriose Mischung aus Grotte und Ruine hat sogar einen Orchestergraben, die Kulissenbögen und die Rückwand sind aus Bruchsteinen gebaut. Gleißendes Licht fällt ins Theater. Fast erwarten wir einen Trompetenstoß und die Comedia dell´arte könnte beginnen!
Es wird spät, wir machen uns auf den Heimweg. Niemand hat Frau B. bisher gefunden. Wir fragen uns, ob sie panisch nach einem Weg sucht oder doch auf dem besten Ausflug ihres Lebens unterwegs ist. Und was wir tun, falls wir sie finden. „Schreien“, ruft ein Feuerwehrmann.
Wir verlassen Sanspareil und laufen auf einem Feldweg wieder Richtung Wonsees. Wo übrigens Jean Paul anno dazumal beim Gastwirt Münch einkehrte und sich ins Gästebuch eintrug: „Zum Andenken an diese artig auseinander gebrochene Schweiz, wahrscheinlich von Riesen, um sich ein wenig damit zu steinigen: Alles ist schön und vorhanden, sogar die Nachtigallen, die man aus der Erinnerung her hört. Nichts ist schlechter als die Feder, womit man sich einschreibt.“ Von weitem sehen wir den Kirchturm. Das Licht der Abendsonne blendet uns. Es ist warm. Für uns ein guter Tag. Wo Frau B. wohl ist?
Als wir in Wonsees ankommen, haben wir sie noch immer nicht gefunden. Langsam bricht die Dämmerung herein.
Herbstabende voll weicher Helligkeit
Mit ihrem rührend rätselhaften Zauber ...
Ein böser Glanz, der Bäume buntes Kleid,
Purpurner Blätter matt und leicht Geplauder;
Die Bläue ist so neblig, still und kühl,
Worunter die verwaiste Erde trauert,
Und - wie der nahen Stürme Vorgefühl -
Bisweil ein Windstoß jäh, der uns durchschauert;
Erschöpfung, Niedergang, doch überall
Das Lächeln sanft des Welkens und des Scheidens,
Das wir in des Verstandes Widerhall
Erkannt als die erhabne Scham des Leidens.
(Fjodor Iwanowitsch Tjuttschew)