Während wir zum Hauptbahnhof in Kassel laufen, erzählt mir F., an welchen Ecken hier schon überall Leute erstochen wurden, und ich staune nicht schlecht. Ja, Nord-Holland ist sowieso das Ghetto, doch, dass es auch hier, gleich beim Campus Holländischer Platz letzthin jemanden erwischt hat? Mich fröstelt, obwohl es warm ist. Die Messerattacken enden nicht immer tödlich, versucht mich F. zu beruhigen. Ich bringe es noch fertig zu witzeln, dass das immerhin auch eine Art sei, mit Leuten in Kontakt zu kommen – wenn man denn überlebt –, da ereignet sich schon ein dramatischer Vorfall direkt vor unseren Augen. Eine Ampel trennt uns noch vom Bahnhof. Plötzlich läuft ein Mann über die Straße. Ein Polizei-Wagen wartet auf grün. Der Mann wendet sich dem Auto zu und hebt sein T-Shirt hoch. Die Polizisten steigen aus. Abwartend beobachten sie den Mann. Dieser nimmt sein Handy und schmettert es vor ihnen auf den Boden. Die Polizisten ergreifen ihn und drücken ihn nach kurzem Handgemenge zu Boden.
Eine Frau, die sich wie wir der Szene nähert, ruft: „Er wurde vom Türken geschlagen!“
Polizist: „Wissen Sie überhaupt, was hier los ist?“
Frau: „Ich habe alles gesehen. Ich bin Zeugin!“
Polizist: „Gehen Sie weg!“
Ein Schäferhund wird von seinem Besitzer mühsam an der Leine gehalten. Mit hochgezogen Lefzen bellt das Tier wie von Sinnen, angestachelt von der rohen Gewalt vor seiner Nase.
Im Bahnhofsgebäude wehen bunte Luftballonfetzen über den Boden und ein Herr spielt ein fröhliches Klavierstück. Ein Mann, der einen ICE putzen möchte, wird von der Polizei von der Arbeit abgehalten und verhört. Ich verabschiede mich von F. und nehme den Zug nach Gertenbach. Dort treffe ich L..
Gertenbach! Es gibt nicht viel darüber zu berichten. Nur die Bussarde fliegen über den Himmel, während L. und ich in die falsche Richtung laufen, und wieder umkehren. Den Berg hinauf müssen wir, an Wiesen und Feldern vorbei. Der Herbst ist prächtig sommerlich heute. Indisches Springkraut wächst im Wald an den Wegrändern, wir pflücken süße Brombeeren und blicken den durch die Luft taumelnden Pfauenaugen nach. Schließlich, oben angekommen, stehen wir vor Schloss Berlepsch, einer Gipfelburg aus dem 14. Jahrhundert. Auch Goethe war schon hier, aber das heißt ja nun nicht viel. Wo war Goethe eigentlich nicht? Neben der Schlossanlage wächst der berühmte Berlepscher Apfel! Ich finde das sehr spannend. Hinter dem alten Bauernhaus weiter unten im Tal muss irgendwo die magische Apfelplantage sein, aber wir sehen sie nicht. Wie uns das Info-Schild verspricht, handelt es sich bei der „Goldrenette Freiherr von Berlepsch um einen saftigen, erfrischenden, sehr würzigen Apfel, der sich monatelang hält“! Ob dieser Apfel uns durch zukünftige Hungersnöte tragen könnte?
Auch ohne Apfel kann man sich ins Gras setzen und picknicken. Wir haben Couscous dabei. Die Aussicht von hier auf das Schloss ist märchenhaft. Der anschließende Rundgang durch die Burg ist nett, aber kurz. Für eine Besichtigung der inneren Räume hätten wir leider vorab buchen müssen. Trotzdem finden wir ein paar interessante Schmankerl: Hans Freiherr v. Berlepsch (1857 – 1933) war wohl Ornithologe. Er entwickelte die „Berlepsche Nisthöhle“, die wir hier vor uns sehen, und das Schild behauptet, die Familie v. Berlepsch hätte mehr als nur einen Vogel. Nach Kaffee und Kuchen – was würde ich eigentlich machen, wenn ich keinen Kuchen mehr bekäme – flanieren wir durch den Rosengarten, wo der Lavendel blüht und meine Sinne betört. Ein weißer, von Blumen umrankter Bogen steht auf der Wiese, wo Hochzeitspaare sich das Jawort geben können. Ich lasse mich dort alleine von L. fotografieren und heirate mich selbst. Wir besichtigen die neugotische Schlosskapelle, laufen durch den Schlosspark und seine barocken Terrassen, die um 1700 hier entstanden sind. Achtzig Jahre später hat Emilie v. Berlepsch den englischen Landschaftsgarten angelegt. Immer wieder wird von Emilies Beziehung zu Goethe gesprochen, und ich kann mir schon vorstellen, wie die aussah. Charlotte von Stein soll sich giftig geäußert haben: „Jetzt will er sogar die dicke Berlepsch heiraten.“
Damit unser Ausflug nicht allzu schnell endet, beschließen L. und ich, nach Witzenhausen zu wandern und dort den Zug zu nehmen. So schwer kann es ja nicht sein ohne Karte. Eigentlich ist doch alles beschildert. Denken wir. Und Google Maps gibt es ja auch noch. Nur kein Internet, wohin wir auch laufen. An den toten Fichten vorbei, da passt der Weg noch, wenn auch sonst nichts mehr, wir laufen lange in die falsche Richtung, kehren um. Wir reden darüber, wie es sein wird, wenn Kriege um das Grundwasser ausbrechen, wann das sein wird, die Apokalypse. Ich erzähle L. von Maze Runner, wo die Sonne die Erde verbrannt hat und Jugendliche zu experimentellen Zwecken in ein Labyrinth gesteckt werden, wo sie einfach nicht herauskommen – und wo zum Teufel geht es denn nun nach Witzenhausen? Die letzte Beschilderung ist schon zu lange her und wir sind bereits viel länger unterwegs als für die Strecke vorgegeben war. Endlich zweigt ein Weg ab, den müssen wir wohl zurückgehen, doch er führt uns nur im Kreis zurück auf den alten Weg. Wir haben beide noch immer keinen Empfang. Da hilft nur weiterlaufen. L. erzählt eine Geschichte von einem Reiter, der von der bösen, weiblichen Natur in die Irre gelockt wird und immer im Kreis reitet. Wir erkennen uns selbst. Wenigstens haben wir noch Kuchen gegessen! Aber das Wasser wird schon knapp. Wütendes Rufen eines Raubvogels, der uns hier nicht haben will. Wir hasten weiter, bis wir sein Revier verlassen haben. Ein einsamer Radfahrer begegnet uns. „Hallo!“ Er grüßt nicht zurück, lächelt nur entrückt und schon ist er vorbei. Warum haben wir ihn nicht nach dem Weg gefragt? Wir fantasieren, er sei wohl ein Kannibale gewesen, der uns später sicher verspeisen werde. Deswegen haben wir auch keine Brotkrumen auf dem Weg hinterlassen. Wir müssen jede Spur von uns auslöschen!
Wir sind am Ende unserer Weisheit. Keine Schilder führen nirgendwohin, nur rote Pfeile nach links und rechts an den Bäumen. Doch L. hat endlich Internet! Google Maps schickt uns einen mit hohem Gras bewachsenen Schleichpfad entlang. Der Wald ist wunderschön. Ich fände es nicht schlimm, hier zu übernachten. Aber sicher wäre es kalt. Das Gras raschelt, die Halme wiegen sich, fließen wie ein Bachlauf den Hang hinab. Glitzer rieselt von den Baumkronen auf unsere Häupter. Beinahe verpassen wir die nächste von Maps empfohlene Abzweigung. Sie führt uns entlang einer steilen Böschung ins dichteste Unterholz. Der Pfad endet vor einem gewaltigen Gestrüpp. Wir klettern außen herum, rutschen durch die raschelnden Laubdünen, immer wieder fallen wir hin und schlittern schließlich auf unseren Hintern zurück auf einen echten Wanderweg! Beim Hubenroosborn waschen wir unsere Hände. Das Wasser ist kühl. Nahebei steht die Fress-Eiche. Nur wer frisst sie? Eichhörnchen? Oder … wen frisst sie?
Wir verlassen den Wald und sehen Witzenhausen von weitem. Ein Weg, der mitten durch ein weites Feld führt. Die Abendsonne lässt die langen, trockenen Halme weiß leuchten. Surreal.
Halte dich still, halte dich stumm,
Nur nicht fragen, warum? warum?
Nur nicht bittere Fragen tauschen,
Antwort ist doch nur wie Meeresrauschen.
Wie's dich auch aufzuhorchen treibt,
Das Dunkel, das Rätsel, die Frage bleibt.
(Theodor Fontane)