Wieder mal ist es soweit: Ich türme in mein geliebtes Amsterdam. Am Hauptbahnhof, der damals, als ich vor acht Jahren hier gelebt habe, beständig hinter Gittern und Tüchern schlummerte, treffe ich J. Das Gebäude erstrahlt nun in voller Pracht aus rotem Backstein und macht ganz altmodisch einen auf Neorenaissance. Cuypers entwarf die zwei prägnanten Türme Ende des 19. Jahrhunderts, um den Ankömmlingen das Gefühl zu geben, die Stadt durch ein Tor zu betreten. Es ist heiß – immer ist es heiß diesen Sommer 2019 – und J. und ich fahren direkt nach IJburg, dem Stadtteil, der ganz neu im Wasser aufgeschüttet wurde, um Wohnraum zu schaffen. Dort laden wir bei Freunden unser Gepäck ab und springen in die Gracht. Das ist verboten, aber wer kann bei dem herrlich kühlen Wasser der Versuchung widerstehen? Wir rätseln, wieso Finger eigentlich zusammenschrumpeln und I. stellt die These auf, dass wir unter Wasser eine Zeitreise unternehmen und rasant altern. Ich finde das sehr plausibel. Wir klettern die Leiter vom Boot hoch und jagen romantisch dem Sonnenuntergang hinterher, der das Wasser des IJ orange und rosa schimmern lässt. Ein Stern prangt am Himmel, der Wind in unseren Gesichtern, Hafensilhouetten. Wellen klatschen gegen das Boot und schaukeln uns hin und her. Ich könnte ewig hier treiben.
In der Stadt schlafen so viele Räume, die ich noch nicht kenne. Eine Neuentdeckung am nächsten Morgen ist für mich der Königspalast am Dam. Ich bin begeistert von der Kartografie-Ausstellung, den winzigen Atlanten, und einem der größten Bücher der Welt, 124 Kilo schwer … wie haben sie das damals nur gemacht? Die Vielfalt der königlichen Gemächer spinnt Geschichten in meinem Kopf, die Möbelstücke erzählen von vergangenen Jahrhunderten. An den Wänden hängen Malereien, die Szenen der griechischen Mythologie darstellen. Ich bin entzückt, wenn ich einige wiedererkenne, wie die Ankunft des Odysseus bei den Phäaken.
Lange flanieren wir durchs Jordaan, genießen das Wechselspiel der Kanäle und Straßen, und abends trinken wir Bier am Leidseplein. Das Stimmengewirr der Menschen hat etwas Tröstendes, die Leute, die vorbeilaufen, sind so verschieden, wie nur große Städte sie hervorbringen. Junge Mädchen haben sich schick gemacht, um zur nächsten Party zu ziehen, sie tanzen mehr an uns vorbei, als dass sie gehen, genießen sichtlich die Aufmerksamkeit, wissen, wie schön sie sind. Glas zerbricht auf dem Boden.
Am nächsten Morgen müssen wir früh los, um ins van Gogh Museum zu kommen. J. kauft sich Bonbons, damit sie etwas zu tun hat, während wir die Bilder anschauen. Am liebsten hätte sie Kaffee, aber ich bezweifle, dass das geht. In den Bildern essen sie keine Bonbons, sondern Kartoffeln. Dabei schauen sie ernst und naturverbunden. Zumindest steht das daneben. Ich finde, es stimmt. Kartoffeln sind ja auch ein Zeugnis der Natur. Im entferntesten Sinne. Ich bin erleichtert, dass sich Vincent erst mit 27 entschied, Künstler zu werden; denke, na dann habe ich ja noch Zeit, doch plötzlich schneidet er sich sein Ohr ab; wir stehen inmitten der Mandelblüten und er schießt sich einfach in die Brust. Zwei Tage siecht er noch dahin. Die Vorstellung bereitet mir Übelkeit.
Aber diese Dinge muss man einfach herunterschlucken. Wir gehen Käse naschen, das gehört sich in Amsterdam. Früher habe ich immer so mein Mittagessen gemacht. Ich hatte eine ganze Route, die mich quer durch Amsterdam von einem Käseladen zum anderen führte. Als Nachtisch gab es die guten Waffeln. So auch heute. Um der Nostalgie noch etwas mehr zu frönen, zerre ich J. auch in den Waterstones, wo ich am liebsten alles kaufen würde. Die schöne Ausgabe von Alice im Wunderland oder Peter Pan. Buch reiht sich an Buch. Oben finde ich einen Lyrik-Band über die Katze, einen übers Essen, und dann noch Patrick Rothfuss, und ich frage mich ärgerlich, wann er endlich weiterschreibt, oder ob er das schon tut, oder warum das alles so lange dauert bei ihm. Ich brauche dringend wieder Erhebungen der Art, wie seine Bücher sie bei mir auslösen, fantastische Geschichten, die dann zur eigenen werden, die einen alles vergessen lassen und schließlich leer zurücklassen. Ende. Und nun? Wir sind müde. Kvothe, wo bist du? In IJburg sehen wir dem Sonnenuntergang zu und ich denke immer noch an dich.
Am nächsten Tag zeige ich J. die Bibliothek. Ein weißer Riese, der in den wolkenverhangenen Himmel taumelt, alles hell und licht, und oben blicken wir auf ganz Amsterdam. Die Boote sind nun ganz klein, selbst der Brecher beim Schifffahrtsmuseum, der, wie ich später bei unserer Bootstour durch die Grachten lerne, von arbeitslosen Jugendlichen gebaut wurde. Aber wieso sind Jugendliche arbeitslos? Sollten sie nicht zur Schule gehen? Und wieso sind eigentlich drei Kreuze auf der Amsterdamer-Flagge? Drei Kreuze für drei Plagen, erzählt die Stimme in meinem Ohr, während wir durchs Wasser gondeln und ich ganz schläfrig werde, weil die Sonne so schön scheint, Wasser, Feuer, die Pest. Junge Burschen springen von einer Brücke in den Kanal und werden von einem anderen Jüngling, der immerhin noch sein T-Shirt trägt, angewiesen, wohin sie zu schwimmen haben. Angenehme Aussicht. Wir flanieren durchs Rotlichtviertel, essen Chili-Pralinen, und nehmen dann die Fähre nach Nord-Amsterdam zum Eye. Das Auge! Wir amüsieren uns über die Fotos der Schauspieler, die an den Schließfächern hängen, und verspeisen den weltbesten Apfelkuchen, den es gibt, und auch ein Stück Möhrentorte. Kaffee! Wie belebt er doch die Sinne!
Rückblickend erscheint es alles wie ein Traum. Wie J. und ich beim Spui sitzen und Espresso trinken im Café de Zwart. Wie wir durch den Vondel-Park spazieren. Wie I. am Klavier sitzt und ich dazu singe. Der Kater auf dem Balkon und ich sage: „Da ist ein Kater auf dem Balkon.“ Und I. sagt: „Ist er sehr flauschig?“ Ich streichle den Kater. „Ja, sehr flauschig.“
Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen,
ein leise Weiterwinkendes -, schon kaum
erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum,
von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.
(Rainer Maria Rilke)